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Literatur




 







Geschichten
Aus dem Märchenbuch
der Wahrheit

Fritz Mauthner
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Die Göttin Vernunft

Aller Völker verstorbene Götter leben auf einer goldenen Sonnenwolke. Die Wolke ist seltener Art. Sie kann nur blitzen und donnern, regnen kann sie nicht. Die Götter sind müßig wie abgesetzte Fürsten.

Tausende Jahre hausten auf der goldenen Sonnenwolke die Götter der Griechen, froh, roh und behaglich. Sie liebten und freuten sich miteinander.
Da ging das Wolkentor wieder einmal auf und ein verstorbener Gott trat müde lächelnd herein.

Alle blickten ihn an, als wollten sie seinen Namen wissen.
„Mitleid,“ sagte er leise, und bleich war der von Wunden und Mitleid.
„Gott war sonst anders!“ rief Apollo erstaunt; Zeus lies den Bizeps seiner Rechten spielen, und Wotan, der herangetreten war, schmunzelte:
„Sie haben dich gut zugerichtet. Du siehst wahrhaftig einem Menschen ähnlich. Komm ! Ruh‘ aus! Ich mach dir Platz.

Wieder verging einige Zeit. Da öffnete sich das Wolkentor und die Göttin kam, die in Europa gerade hundert Jahre lang nach dem Mitleid geherrscht hatte. Auf die fragenden Blicke erwiderte sie:
„Bin die Vernunft.“

Da lachten alle Götter und Göttinnen, denn die Vernunft sah aus wie eine Rechenmaschine.
„Ein Einmaleinsspiel,“ sagte Sphinx und lachte.
„Sie kann nicht einmal lieb haben,“ sagte Buddha und lachte.
„Sie ist den Strohtod gestorben,“ sagte Wotan und lachte.
„Sie hat nie eine Dummheit getan,“ sagte Zeus und lachte.
„Sie ist Vegetarierin,“ sagte Moloch und lachte.

„Ich habe die Menschen glücklich gemacht!“ rief die Vernunft.
„Ja, ja,“ schrie Hephaistos und lachte lauter als alle übrigen. „Sie hat eine große Erfindung gelehrt. Sie hat einen Nachttopf erfunden, der zu gleicher Zeit als Tintenfaß zu benutzen war. Patent!“

Da wandte sich die Göttin Vernunft an Pallas Athene.
„Schwester, warst du nicht auch …“
„Ich?“ rief Pallas entrüstet. „Ich eine Rechenmaschine? Dumm war ich freilich, damals mit Paris. Aber eine ehrliche Göttin. Meine Athenerstadt habe ich beschützt vor Persern, Spartanern, Philistern und vor der Vernunft. Mit dir habe ich kein Mitleid. Geh doch zu dem.“

Da ging die Vernunft zum Gott Mitleid, der sagte lächelnd:
„Ich habe Mitleid mit allem Lebendigen. Nicht mir dir, denn du lebst nicht.“

So wurde die Vernunft einstimmig aus dem Wohnsitz verstorbener Götter ausgewiesen.


* * * *



Der große und der kleine Neid

Der große Neid war ein gewaltiger Lehrer der Menschheit und der Erfinder der besten Dinge. Die Schifffahrt erfand er und den Ackerbau, die Götter und Häuser für Götter und Menschen, den Gebrauch des Feuers und die Künste. Nur das Brückenspannen vermochte er nicht zu erfinden.

Da nahm der große Neid die Liebe zur Frau und wurde ein Brückenbauer und Brückenspanner.

Der große Neid hatte einen Stiefbruder vom gleichen Vater, den kleinen Neid. Der lernte beim großen Bruder das Erfinden. Aber es gelang ihm nichts als ein wütender Sprengstoff. Da legte der kleine Neid Pulverminen unter die Brücken seines großen Bruders.

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