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Literatur



 







Geschichten
Aus dem Märchenbuch
der Wahrheit

Fritz Mauthner
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Die Wahrheit und die Schönheit


Die Wahrheit und die Schönheit mußten über einen breiten Sumpf, um zu dem hohen Lichtberg zu gelangen, wo sie zu Hause waren. Sie beratschlagten lange, wie sie hinüberkommen sollten. Denn der Sumpf war angefüllt mit häßlichen und giftigen Geschöpfen.

Zuerst wollte jede von beiden die Führung übernehmen. Endlich gab die Schönheit nach; denn sie liebte den Streit nicht.

»Ich gehe also voran,« sagte da die Wahrheit, »du wirst es ganz bequem haben.«

Und die Wahrheit faßte die Schönheit bei ihren langen goldweißen Haaren und schleppte sie durch den Sumpf hinter sich her.

»Au,« sagte die Schönheit so laut, als es ihr möglich war. »Das tut weh! Und wie werden meine sauberen Röcke aussehen!«

»Dein Schmerz ist außerhalb meiner Nerven,« sagte die Wahrheit, »also geht er mich nichts an. Aber allerdings würden so deine Kleider schmutzig und dein Haar zerrauft. Du wärst dann nicht mehr die Schönheit. Nein, so geht es nicht. Geh du lieber voran.«

Nun versuchte es die Schönheit. Und weil es ihr zuwider war, die Gefährtin durch den Kot zu schleppen oder gar bei den Haaren zu ziehen, sollte die Wahrheit sich ihr auf die Schultern stellen. Das gefiel ihnen nicht lange. Denn schon beim dritten Schritt versank die Schönheit im Sumpfboden. Das Gewicht der Wahrheit war zu groß. Die Wahrheit fiel dabei mit dem Kopf ins Moor, und so sah man am Ende von der Schönheit nur die zerrauften goldweißen Haare, von der Wahrheit nur die zappelnden Beine und noch etwas.

»So geht's auch nicht,« sagte die Schönheit. Beide wurden traurig und es war eine traurige Wahrheit und eine traurige Schönheit. Die Schönheit bürstete ihre Kleider, die Wahrheit wischte sich die Augen aus; und beide dachten nach.

Der Wahrheit fiel nichts ein; denn sie glaubte zu sehr an sich. Die Schönheit aber rief plötzlich:
»Ich hab's! Meine irdische Gestalt ist zu schwer für den Sumpf! Ich will in meiner himmlischen Gestalt hinüber!«

Sie ließ ihre beschmutzten Gewänder zurück und wurde ein Irrlicht. Als ein wechselnder, flackernder, schöner bläulicher Schein schwebte sie über den Sumpf.

»Das kann ich nicht nachmachen,« sagte die Wahrheit. »An mir ist alles wahr. Ich bin kein Irrlicht! Ich flackere nicht!«

Aber je länger sie die spielende Schönheit betrachtete, desto durchsichtiger wurde ihre irdische Gestalt. Sie legte ihre Rüstung ab und es ergab sich, daß auch sie ein Irrlicht war, ein langsam wechselnder rötlicher Schein.

Die beiden guten Irrlichter hüpften nun über den breiten Sumpf dem hohen Lichtberge zu.

Wenn sich die beiden Irrlichter einmal vereinigen werden, so werden sie eine herrliche veilchenblaue Flammensäule bilden, hell genug, um den häßlichen und giftigen Geschöpfen des Sumpfes den Berg aus der Ferne zu zeigen.


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