Geschichten
Aus
dem Märchenbuch
der
Wahrheit
Fritz
Mauthner
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Auf
einer schönen und fruchtbaren Ebene lebten Kinder, nackt und bloß und
froh. Es gab
dort keine Häuser mit Stockwerken, es gab keine
Kleider
und keine Schule. Eines
Tages kam ein alter Schullehrer von
Anderswo
auf diese Ebene
und
schüttelte seinen Kopf. Denn die Kinder wußten
nicht einmal etwas
von der
vaterländischen Geschichte, nicht was zuerst
und zuletzt geschehen
war, und es gab unter
den Kindern selbst keine
Ersten und keine Letzten.
Da
baute ihnen der
Schullehrer von Anderswo
ein ungeheures
Karussell. Am Rande
der
kreisrunden Scheibe standen
hölzerne Pferde und Esel, Schlitten und
Wagen, hölzerne
Hirsche und
Ziegen, Löwen und Tiger. Die Kinder aber
durften sich setzen, wohin sie
wollten.Der Schulmeister nahm
in der Mitte Platz
und drehte eine
Kurbel. Mit der Kurbel setzte er das ganze Karussell in Bewegung
und
machte noch Musik dazu.
Die
Kinder prügelten sich lange um ihre Plätze. Jedes wollte
auf dem Hirsch sitzen
oder auf dem Löwen
oder auf dem Schlitten, keines auf dem Esel
oder auf
der
Ziege. Als sie endlich untergebracht waren
und das
Karussell sich drehte,
gaben sie sich
jedoch zufrieden. Wie aus einem
Halse schrien sie alle: Ich
bin zuerst, ich bin
zuerst! Der vor mir ist
der Letzte.
Und
weil jedes glaubte
den Letzten vor
sich zu haben und den
Zweiten hinter
sich, wurde die Erfindung
des Schulmeisters
von Anderswo sehr beliebt.
Namentlich des Sonntags
mußte er von
früh bis spät die Kurbel drehen,
und die Kinder hopsten auf
ihren hölzernen
Tieren, spornten sie und
peitschten sie, und jedes verlachte
seinen Vordermann.
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Viele
tausend Jahre vorher gab es
auf dieser Ebene noch keine Kinder
und keine
Menschen und keine Sprache. Nur ein großer Wald stand
da.
Durcheinander
gemischt wuchsen riesenhaft in den Himmel
hinein moosbewachsene,
harzige, schwarze Stämme, die Pyramiden von Nadeln
trugen, und andere glatte, graue Bäume, deren
Laubkronen sich wie
Domeshallen über den Nadelpyramiden wölbten. Auf dem Boden lagen
klasterhoch umgerissene Stämme und harte Nadeln und rötliche welke
Laubblätter. Bei Sonnenschein bröckelte es im Walde überall in den
Baumstämmen am Boden, und an den aufrechtstehenden Bäumen krochen
geschäftige Käfer hin und her und freuten sich ihres Lebens.
In den
Kronen wiegten sich Vögel und auf dem Bode raschelten
Schlangen.Wenn
es dann wieder geregnet hatte, so ging das Wasser in die Bäume hinein,
sott in den Kronen Blätter und Nadeln, färbte sie schön und
warf sie
dann wieder hinunter. Auf dem Boden fraß es die
liegenden Stämme und
machte aus den harten Nadeln und den roten
Blättern einen schönen Teig
und hörte nicht auf zu wirtschaften, auf und nieder. Da
kamen Menschen
in den alten Wald, zahme Menschen mit zahmen Hunden.
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Unter
denen war ein gelehrter Hund. Der
machte:
Bau! vor den Bäumen mit Nadeln und
machte: Wau! vor den Bäumen
mit Blättern. Da nannten die Menschen die einen Bau oder
Fichte und die anderen Wau oder Buche. Und sie brachten ihrem Schöpfer
ein Dankopfer, weil er ihnen die Sprache
verliehen hatte. Die war schön. Denn außer
den
sprechenden Menschen
konnte niemand wissen, daß die Nadelbäume Fichten und die
Laubbäume
Buchen hießen.
Die
Menschen aber wurden übermütig durch diese
herrliche
Zaubergabe und benannten jetzt alles, was ihnen
einfiel. Wenn
ein Hund gegen den
Himmel bellte, so sagten sie Oben. Wenn ein Huhn den
Boden kratzte,
sagten sie Unten. Die stehenden Bäumen nannten sie Leben, die ruhende
Erde nannten sie Tod. Die Erde schwieg lange zu der Menschen Sprache,
dann schüttelte sie sich eines Abends kurz nach
Sonnenuntergang und
verschlang Fichten und Buchen, die bellenden Hunde und die sprechenden
Menschen.
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Viele, viele tausend Jahre
früher gab es eine Zeit, wo man
die Zeit
noch nichtkannte.
Das Zuerst und das Zuletzt war ja noch nicht
erfunden, die Sage vom Leben und vom Tod war noch gar
nicht erzählt.
Dämmernd träumte das Chaos, das war die
Nacht. Da ging zum
erstenmal
die Sonne auf. Ein goldener Trompeter voran
und ein schwarz
gezäumtes
Pferd hinterher. Das Chaos gähnte und fragte: Was?
Wecken? Auf?
Wirklich
wachte das Chaos auf, und es war der erste Mor- gen.
Der
Trompeter ging voran und schmetterte in die
Welt des Chaos hinein: Heute
ist
heute! Ich bin heute, morgen kommt das schwarze
Pferd.
Hinter dem
Trompeter stieg die
Sonne sieben Stufen hinauf, dann blieb sie
stehen zu Mittag.
Und wieder sieben
Stunden hinab zum Abend. Hinter
der Sonne kam das
schwarzgezäumte Pferd
und sprach:
„Heute
ist heute! Ich bin heute. Die Sonne war gestern, morgen ist der
Trompeter.“
Rastlos
und ruhelos in ewigem Kreislauf jagen seitdem das Morgen und Heute
und
Gestern hintereinander her wie die Kinder auf dem
Karussell.
Heute zieht
der Trompeter das
Pferd am Zaum, morgen schlägt es mit den
Hinterhufen nach
ihm aus, und die
Sonne hat ewig hinter sich das Morgen
und vor sich das
Gestern.
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Außer
der Welt in einem Schneekristall
wohnt eine Frau. Sie heißt die
Ewigkeit. Sie kann nicht sprechen. Und wenn
sie vom redenden Menschen
Worte hört, so lacht die Ewigkeit. Zuerst, Zuletzt, Leben, Tod,
Gestern, Heut. Bei solchen Worten lacht sie am lautesten. Denn
Frau
Ewigkeit stammt aus einer Zeit, wo die Zeit
noch nicht erfunden war.
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