Geschichten
Aus dem
Märchenbuch
der
Wahrheit
Fritz Mauthner
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Lügenohr
In
den ersten Lebensjahren war er der prächtigste Junge des ganzen
Städtchens. Unnahbar und unfaßbar für falsche Menschen, war er für
Eltern und Geschwister, und alle, die ihn wirklich lieb hatten, der
lebendige Sonnenschein. Und so sicher war man, daß er sich niemals in
den Leuten täuschte, daß die Lügner sagten, er habe eine Witterung wie
ein Hund; seine Mutter aber wußte, er habe ein Lügenohr.
Als
er in die Schule kam, da machte ihm das Lügenohr viel zu schaffen. Er
glaubte immer zu hören, ob die Lehrer etwas Wahres lehrten oder etwas
Gelerntes. Das Wahre behielt er, das Falsche vergaß er und lachte noch
dazu. Daß zum Beispiel eine Präposition den Akkusativ „regiere“, das
glaubte er nicht, und merkte sich’s darum nicht. Auch die sieben
römischen Könige konnte er sich nicht merken. So wurde er bei seinen
Lehrern unbeliebt und hieß ein schlechter Schüler.
Als
ein Lehrer aber eines Tages erklärte, Tiere und Bilanzen seien allein
um des Menschen willen geschaffen worden, da lachte der Junge hellaut
auf. Dafür erhielt er auch sofort eine furchtbare Maulschelle.
Er
fiel hin und ein durchsichtiges Heuschrecklein flog aus seinem linken
Ohr. Er wurde recht krank, und als er wieder genas, hatte er Ohren wie
andere Leute. Nur etwas taub war er links geworden, und so war er bald
der Erste der Klasse.
Er
blieb nun ein musterhafter junger Mensch bis in die Zeit hinein, da ihm
ein braunes Bärtchen um Lippen und Wangen sproßte. Er glaubte alles und
war beliebt bei hoch und nieder.
Eines
Mittags wanderte er über Feld und legte sich in der heißen Stunde
wegmüde hinter einen Heuhaufen. Er dachte an gar nichts. Da sprang ihm
plötzlich etwas wie ein durchsichtiges Heuschrecklein, nicht größer als
ein Marienkäferchen, auf den Rücken seiner rechten Hand und stöhnte zum
Steinerbarmen. Der junge Ekel, der damals noch einen viel hübscheren
Namen hatte, fragte mitleidig, wie und wo und was, und erfuhr vom
Heuschrecklein, daß es verdammt sei zugrunde zu gehen, wenn es nicht in
der Ohrmuschel eines Sonntagskindes mit den und den Eigenschaften
wohnen dürfe. Es kenne aber auf der ganzen Welt nur ein Sonntagskind
mit den und den Eigenschaften, eben ihn, na kurz und gut, er hieß
damals noch Hans. Und das Heuschrecklein bitte ihn inständig und
erbärmlich, es doch wieder bei sich aufzunehmen; es sei damals bei der
Ohrfeigengeschichte hinaus geschleudert worden. Hans werde freilich mit
dem Heuschrecklein im Ohr wieder jede Lüge vernehmen, aber dafür wolle
ihm das Heuschrecklein Gold und Ruhm verleihen, bergehoch.
„Ei,“
rief Hans, „an Gold und Ruhm ist mir nichts gelegen; aber ein Lügenohr
besitzen, das möchte ich wohl wieder.“
„Ich
will dich auch Zaubereien lehren, die Menschen zu berücken und die
Sterne zu sehen,“ bat das Heuschrecklein noch erbärmlicher.
„So
sei doch still, du kleiner Narr,“ rief Hans. „Ich will ja nichts von
dir! Brauchst keine Miete zu zahlen. Komm nur! Du bist mir ein lieber
Gast.“
Da
hatte Hans wieder sein Lügenohr und wurde der Ekel. Er zog in der Welt
umher, und die Leute sahen es ihm an, daß er sie lügen hörte, lügen,
wenn sie sich auch verstellten und Eide leisteten. In keiner Stadt
konnte er darum lange bleiben. Bald mied man ihn wie einen Büttel.
Er
aber war dem Heuschrecklein dankbar für alle seine Gaben. Die Zauberei
und das Sterngucken war über alle Maßen schön, auch Gold und Ruhm war
nicht zu verachten: aber das Lustigste war ihm doch das Lügenohr.
Was
immer die Menschen sprachen, was immer sie taten und wie sie auch
blickten, das Heuschrecklein in seiner Ohrmuschel zirpte seine Stille
Melodie, und der Ekel hörte, daß sie logen, logen mit Worten, Taten und
Blicken. Der Ekel zog von Land zu Land und lachte wie der Sonnenschein
und freute sich auf die Heimkehr. Denn es gefiel ihm wohl, daß alle
Leute in der Fremde logen, und daß er, zurückgekehrt zu seinen lieben
Genossen, Kurzweil zu erzählen haben würde aus der Fremde.
Lange
blieb er fort. Braun und lang war sein Bart, und je drei weiße Haare
hielten schon rechts und links Wache an seinen Schläfen, als er
zurückkam in die Heimat zu seinen lieben Genossen.
Es
erschreckte ihn nicht gleich, als es da hieß: „Der Ekel ist wieder im
Land.“ Denn er hatte Gold und Ruhm mitgebracht, berghoch, und das
Zaubern und Sternegucken war immer noch eine Freude. Und als seine
Lieben und Genossen sein Gold und seinen Ruhm wahrnahmen, da nannten
sie ihn auch wieder Hänschen.
Er
freilich hörte sie Ekel sagen.
Von
dieser Stunde an wurden täglich zwei Haare weiß auf seinem Kopf, eins
zur Rechten und eins zur Linken, und seine Lieben und Genossen logen,
logen so vielemal am Tage, als sie Worte sprachen am Tage. Er wollte
fliehen, aber er konnte nicht. In der Wogenbrandung und im
Sturmgebrüll, im Feuerlärm und im Getöse der Schlacht, wohin er ging,
überall hörte er das Zirpen des Heuschreckleins. Und wenn in der
Volksversammlung ein tausendstimmiger Zuruf der Begeisterung erscholl,
so hörte der Ekel noch das leise Zirpen.
Sein
Haupt war halb weiß, halb braun, da traf er ein Weib, das schaute ihn
verlangend an, verlangend nach Ruhm und Gold, nach Zauberei und
Sterngucken und verlangte nach des Ekels Leib. Da endlich verstummte
das Zirpen für eine Stunde, für eine gute Stunde.
Laut
lachte der Ekel auf und hing dem Weibe die Zauberei und das Sterngucken
in ihre Ohren, warf ihr Ruhm und Gold in den Schoß und schloß sie in
seine Arme und hatte sie lieb, sehr lieb. Täglich eine Stunde schwieg
sie und sah ihn verlangend an; dann verstummte das Zirpen und der Ekel
ruhte aus und brauchte nicht zu fliehen vor seinem eigenen Lügenohr.
Täglich
eine Stunde ruhte er aus. Dann aber kam ein Tag, da gebar das Weib ein
Kind, das sah aus wie alle Kinder, und das Weib blickte ihn nicht mehr
verlangend an und schwieg nicht mehr, und er hörte so viele Lügen, als
Worte kamen aus ihrem Mund.
Nächtelang
sprach der Ekel mit dem Heuschrecklein und bat um Armut, Elend und
Taubheit. Das aber zirpte leise weiter in seinem Lügenohr, und er hörte
jetzt schon Tiere lügen, die Haustiere, seinen Hund, seine Katze,
seinen Star.
Da
kaufte sich der Ekel ein kleines Schießgewehr und schoß nacheinander
den Hund tot, die Katze tot und den Star. Jedesmal zögerte er lange.
Darüber wurde das letzte Haar auf seinem Kopfe weiß, und er nahm noch
einmal das kleine Schießgewehr und zögerte nicht und schoß das
Heuschrecklein tot in seinem Lügenohr.
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