Geschichten
Aus dem Märchenbuch
der Wahrheit
Fritz
Mauthner
Der
Blitz und die Regenwürmer
In
einem Gemüsebeet hausten ein paar Regenwürmer. Leise drang bis zu ihnen
das Rollen eines hohen Gewitters. Die Regenwürmer freuten sich nach
Wurmart, und einer sagte zum anderen:
„Uns
tut der Blitz nichts. Vor uns hat er Angst.“
Plötzlich
fuhr ein Blitz in das Gemüsebeet und tötete drei von den Würmern, bevor
ihn die durstige Erde verschlang.
Als
die überlebenden Regenwürmer sich von ihrem Schrecken erholt hatten,
sagte einer zum andern:
„Ja,
wir Regenwürmer! Wir sind eine Macht!
Der
Blitz hat einen Haß auf uns.“
* * * * *
Ein
reicher Onkel hatte einen armen Neffen. Der arme Neffe saß in einem Amt
und verzehrte sich in Sehnsucht nach Kenntnissen, nach Kunst und
Freude. Dabei tat er seine Pflicht und schrieb endlose Zahlen ins Buch,
ohne sich je zu irren. Als er sich aber genügend abgezehrt hatte, legte
er eines Tages die Feder hin, setzte seine Mütze auf, ging auf die
Straße, krampfte die Finger zusammen, warf mit der letzten Kraft seinen
Stolz auf das Straßenpflaster und trat ihm ins Genick. Er wurde ganz
bleich von der Anstrengung. So bleich ließ er sich bei seinem reichen
Onkel melden, nahm die Mütze ab und faltete die Hände.
Der
reiche Onkel war guter Laune. Vielleicht wurde was aus dem Jungen, so
einer, von dem es dann in den Zeitungen heißt, daß ihn sein Onkel hat
ausbilden lassen. Und so schenkte der Onkel seinem Neffen zum
vorläufigen Lebensunterhalt einen guten Rat und drei harte Taler. Auch
der Rat war hart: „Du mußt praktisch werden.“
Der
Neffe sprang dankbar und glücklich die Treppe hinunter. Die Sonne
schien, die Welt lag offen, und der nahm sich vor, praktisch zu werden.
Zuerst
und für den ersten Taler kaufte er sich eine Flasche Wein. Denn er
hatte keinen Hunger.
Dann
und für den zweiten Taler kaufte er sich einen Rosenstock. Denn er
hatte keine Geliebte. Wenn er aber eine fände, so wollte der den
Rosenstock pflegen, und für sie jede volle Blüte abschneiden, solange
es Sommer war.
Zuletzt
und für den letzten Taler kaufte er sich eine persische Grammatik bei
dem alten Trödler hinter dem Mühlendamm. Denn er verstand die persische
Sprache nicht.
Wenn
er aber alles andere erlernt hätte, unterstützt von seinem Onkel,
Französisch und die Weltgeschichte, die Kunst und die Philosophie, dann
wollte er ja auch Persisch lernen und in seligem Rausche mit dem
winterdürren Rosenstock und der rosigen, jungen Geliebten nach Persien
wandern, unter den Laubgängen der Rosengärten wohnen, persische Lieder
singen, einen persischen Säbel verdienen und ihn ziehen an der Spitze
des Perserheers im Kampfe gegen Rußland, und niederwerfen den Koloß und
befreien das arme Europa von dem alten Alp und einziehen als
Triumphator neben der Geliebten durch die Straßen der Heimat und dem
Onkel die Schätze des Orients zu Füßen legen.
Am
nächsten Tage kam er wieder zu dem reichen Onkel und drehte die Mütze
und faltete die Hände und wurde hinausgeworfen. Da suchte er auf der
Straße bis zum Sonnenuntergang seinen Stolz, dem er ins Genick getreten
hatte. Als er ihn nicht mehr fand, fühlte er mit der linken Hand, ob er
die persische Grammatik noch in der Tasche hätte, und sprang ins
Wasser. Das war an der Oberfläche zum Schreien kalt. Als er aber in die
Tiefe sank, wurde es wohlig, warm und hell und duftig und
farbenschimmernd wie die Rosengärten von Schiras.
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