Geschichten
Edgar
Allen Poe
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Wassergrube
und Pendel II
An allen Gliedern
zitternd, tastete ich meinen Weg zur Mauer zurück. Ich war
entschlossen, lieber
dort zu sterben, als mich in die Schrecken der Brunnen zu wagen; meine
Fantasie
malte sich jetzt aus, dass ihrer viele hier im Raum verteilt seien. In
anderer
Seelenverfassung hätte ich vielleicht den Mut gehabt, mein Elend durch
einen
Sprung in solch einen Abgrund zu enden, jetzt aber war ich der Feigste
der
Feigen. Auch konnte ich nicht vergessen, was ich über diese Brunnen
gelesen:
dass das sofortige Auslöschen des Lebens keineswegs in der Absicht
derer lag,
die diese entsetzlichen Gruben angelegt hatten.
Die Seelenaufregung
hielt mich viele lange Stunden wach. Schließlich aber schlief ich
wieder ein.
Als ich erwachte, fand ich wie vorher ein Stück Brot und einen Krug
voll Wasser
neben mir. Brennender Durst erfasste mich, und ich leerte das Gefäß auf
einen
Zug. Dem Wasser musste ein Schlafmittel beigemengt sein, denn kaum
hatte ich
ausgetrunken, als mich unwiderstehliche Schlafsucht befiel. Ich sank in
eine
Art Todesschlummer. Wie lange er währte, weiß ich natürlich nicht; als
ich aber
wieder die Augen öffnete, waren die Dinge um mich her sichtbar. Ein
seltsamer
schwefliger Glanz, dessen Ursprung ich zunächst nicht feststellen
konnte,
gestattete mir, den Umfang und das Aussehen meines Kerkers wahrzunehmen.
In seiner Größe
hatte ich mich gewaltig geirrt. Die ganze Mauerrundung umfasste nicht
mehr als
fünfundzwanzig Meter. Minutenlang verursachte mir diese Tatsache eine
Welt von
überflüssiger Beunruhigung; wirklich überflüssig – denn was war unter
den
Schrecken, die mich umgaben, bedeutungsloser als der Umfang meiner
Zelle? Doch
meine Seele nahm ein merkwürdiges Interesse an Kleinigkeiten, und ich
plagte
mich sehr, den Irrtum aufzudecken, der mich zu so falscher Messung
veranlasst
hatte. Endlich fand ich die Ursache. Bei meinem ersten Versuch zur
Erforschung
des Raumes hatte ich bis zu meinem Hinfallen zweiundfünfzig Schritt
gezählt;
ich musste damals nur noch zwei oder drei Schritt von dem Wollstreifen
entfernt
gewesen sein und also den Umkreis beinahe vollendet gehabt haben. Dann
schlief
ich ein, und nach dem Erwachen muss ich meine Schritte rückwärts
gelenkt haben,
das heißt, ich durchmaß nochmals die vorher bereits zurückgelegte
Strecke und
berechnete so den Umfang doppelt so groß, als er tatsächlich war. Meine
Geistesverwirrung war schuld, dass es mir nicht auffiel, dass ich bei
Beginn
des Rundgangs die Mauer links, bei der Fortsetzung dagegen rechts
gehabt hatte.
Auch über die
Form des Gefängnisses hatte ich mich getäuscht. Beim Abtasten der Mauer
hatte
ich viele Winkel gefunden und so den Eindruck großer Unregelmäßigkeit
erhalten
– so sehr kann völlige Dunkelheit jenen täuschen, der aus Ohnmacht oder
Schlaf
erwacht! Die Winkel waren nichts als leichte Vertiefungen, die der Zahn
der
Zeit in unregelmäßigen Zwischenräumen in die Mauer gefressen hatte. Die
Grundform des Gefängnisses war ein Viereck. Was ich zuerst für
Steinmauern
gehalten, schien mir jetzt Eisen oder sonst ein Metall zu sein, dessen
große
Platten da, wo sie aneinandergenietet waren, die leichten Vertiefungen
bildeten. Die ganze Fläche dieser erzenen Wände war mit groben
Zeichnungen
bemalt, mit all den abscheulichen und abstoßenden Darstellungen, wie
der
Aberglaube der Mönche sie erfunden. Drohende Teufelsfratzen auf
Totenskeletten
und andere noch viel grässlichere Gestalten bedeckten und verunzierten
die
Wände. Ich stellte fest, dass die Umrisse dieser Ungeheuerlichkeiten
ziemlich
klar, die Farben dagegen, anscheinend infolge der Einwirkung einer
feuchten
Atmosphäre, verblichen und fleckig waren. Ich betrachtete nun auch den
Fußboden, der von Stein war. In seiner Mitte gähnte das runde
Brunnenloch,
dessen Schlund ich entronnen; es war indes nur dieses einzige im Kerker.
Nur undeutlich
und mit vieler Mühe konnte ich dies alles erblicken, denn während
meines
Schlafes hatte sich meine Lage sehr verändert. Ich lag jetzt lang
ausgestreckt
auf einer Art niedrigem Holzrahmen. Ich lag auf dem Rücken und war mit
einem
langen Riemen, der einem Sattelgurt glich, an das Holz festgebunden.
Der Riemen
war mir viele mal um Leib und Glieder geschlungen und ließ nur dem Kopf
und dem
linken Arm so viel Bewegungsfreiheit, dass ich mich mit vieler
Anstrengung aus
einer irdenen Schüssel am Boden mit Nahrung versehen konnte. Ich sah zu
meinem
Entsetzen, dass man den Krug fortgenommen hatte; ich sage: zu meinem
Entsetzen,
denn ich war von unerträglichem Durst geplagt. Diesen Durst zu
erwecken, schien
in der Absicht meiner Peiniger zu liegen, denn das mir gebotene Mahl
bestand
aus scharf gewürztem Fleisch.
Aufwärts blickend
betrachtete ich die Decke meines Gefängnisses. Sie war etwa dreißig bis
vierzig
Fuß hoch und aus demselben Material wie die Seitenwände. Auf einem der
Deckenfelder erregte eine sonderbare Figur meine ganze Aufmerksamkeit.
Es war
eine gemalte Gestalt der Zeit, so wie sie gewöhnlich
dargestellt
wird, nur dass sie anstatt der Sichel etwas in den Händen hielt, was
ich auf
den ersten Blick als ein gemaltes Pendel ansah, dergleichen man oft auf
alten
Uhren findet. Dennoch war da etwas in der Erscheinung des Instruments,
was mich
veranlasste, es aufmerksamer zu betrachten. Während ich nun senkrecht
hinaufstarrte – denn es befand sich genau über mir –, bildete ich mir
ein, dass
es sich bewege. Eine Minute später bestätigte sich meine Einbildung.
Seine
Schwingungen waren kurz und selbstredend langsam. Ich beobachtete es
einige
Minuten etwas ängstlich, doch vor allem verwundert. Schließlich
ermüdeten mich
aber die langsamen Bewegungen, und ich wandte meine Blicke anderen
Dingen zu.
Ein leises
Geräusch erregte meine Aufmerksamkeit; ich sah auf den Boden und
gewahrte
mehrere riesenhafte Ratten. Sie waren aus dem Brunnen gekommen, der
rechter
Hand gerade meinen Blicken sichtbar war. Noch während ich hinstarrte,
kamen sie
scharenweise und hastig herauf, und ihre Augen suchten gierig nach dem
Fleisch,
das sie gerochen. Es bedurfte vieler Mühe und Aufmerksamkeit, sie von
der
Schüssel abzuhalten.
Es mochte eine
halbe Stunde vergangen sein, vielleicht sogar eine ganze Stunde – denn
ich
konnte die Zeit nur unvollkommen berechnen –, als ich meine Augen
wieder
aufwärts wandte. Was ich nun sah, verwunderte und entsetzte mich. Die
Schwingungen des Pendels hatten an Ausdehnung fast um einen Meter
zugenommen.
Als natürliche Folge war auch die Schnelligkeit viel größer; was mich
aber
hauptsächlich beunruhigte, war die Tatsache, dass es sich merklich
herabgesenkt hatte.
Ich bemerkte jetzt mit namenlosem Schrecken, dass sein unterer Teil in
einem
Halbmond aus blitzendem Stahl bestand, der von einem Horn zum andern
etwa einen
Fuß maß; die Hörner waren nach oben gerichtet, und die untere Kante
schien
scharf wie ein Rasiermesser. Das Pendel schien auch so massiv und
schwer wie
ein solches, denn es verdickte sich nach oben zusehends. Es hing an
einem
dicken Messingstab, und das Ganze zischte beim Durchschneiden der Luft.
Ich konnte nicht
länger zweifeln, welche neue Todesmarter die in Grausamkeit so
erfinderischen
Mönche für mich ausgewählt hatten. Es war den Knechten der Inquisition
nicht
entgangen, dass ich den Brunnen entdeckt hatte – den Brunnen, dessen
Schrecken
für mich verstockten Ketzer bestimmt gewesen, – den Brunnen, diesen
Höllenpfuhl,
von dem das Gerücht ging, dass er das schlimmste aller ihrer
Marterinstrumente
sei. Dem Sturz in den Brunnen war ich durch einen bloßen Zufall
entronnen, und
ich wusste, dass zum Wesen dieser schauerlichen Kerkertode eine
Geißelung durch
immer wieder neue Schrecken gehörte. Da ich dem Sturz entgangen war,
hatten
meine Henker, die mich nicht etwa gewaltsam hinabstürzen würden, von
jenem
teuflischen Plane Abstand genommen, und es erwartete mich also eine
andere, mildere
Todesart. Milder! Ich musste trotz meines Grauens über diese
Bezeichnung
lächeln.
Was nützt es, die
langen, langen Stunden übermenschlichen Entsetzens zu schildern, in
denen ich
die sausenden Schwingungen des scharfen Stahles zählte! Zoll um Zoll –
Linie um
Linie – mit einer allmählichen Senkung, die nur in großen
Zwischenräumen, die
mir wie Jahre schienen, zu bemerken war – kam es herab und immer tiefer
herab!
Tage vergingen – es können viele Tage gewesen sein –, ehe es so dicht
über mich
hinfegte, dass mich sein heißer Atem fächelte. Der Geruch des scharfen
Stahls
drang mir in die Nase. Ich betete – ich beschwor den Himmel, ein
schnelleres
Ende zu machen. Ich wurde toll und rasend und strengte mich an, um mich
dem
Schwung der fürchterlichen Schneide entgegenzuheben. Und dann wurde ich
plötzlich ruhig und lag und lächelte auf zu dem glitzernden Tod, wie
ein Kind
wohl ein seltsames Spielzeug anlächelt.
Wieder befiel
mich Bewusstlosigkeit; sie dauerte nicht lange, denn als ich wieder zu
mir kam,
war keine wesentliche Senkung des Pendels zu bemerken. Sie konnte
allerdings
trotzdem lange gedauert haben, denn ich wusste, dass die Teufel mich
beobachteten und die Schwingungen nach Willkür gehemmt haben konnten.
Nach
meinem Wiedererwachen fühlte ich mich – oh! unaussprechlich schwach und
elend,
als hätte ich lange gehungert. Selbst inmitten solcher Todesqualen
verlangte
die Natur ihre Rechte. Mit schmerzvoller Anstrengung streckte ich den
linken
Arm aus, soweit meine Fesseln es erlaubten, und ergriff den kleinen
Rest der
Speise, den mir die Ratten noch übriggelassen hatten. Als ich ein
Stückchen in
den Mund schob, durchzuckte es mich wie eine Ahnung von Freude – von
Hoffnung.
Dennoch, welchen Grund hatte ich zur Hoffnung? Es war, wie ich sagte,
nur eine
Ahnung, ein halber Gedanke, wie er den Menschen manchmal überkommt,
aber ich
fühlte auch, dass sich dieses Empfinden zu keinem klaren Begriff formen
ließ.
Vergebens mühte ich mich darum; langes Leiden hatte meine Geisteskräfte
untergraben. Ich war ein Dummkopf, ein Idiot.
Die Schwingungen
des Pendels liefen rechtwinklig zu meiner Körperlänge. Ich sah, dass
der
Halbmond bestimmt war, mir quer durchs Herz zu schneiden. Er würde den
Stoff meines Kleides schlitzen; er würde
zurückschwingen und den Schnitt wiederholen – wieder und wieder.
Ungeachtet
seiner schrecklich weiten Schwingung (einige dreißig Fuß oder mehr) und
der
pfeifenden Gewalt im Niedersausen, die wohl sogar diese Eisenwände zu
durchschneiden vermochte, würde das Pendel doch minutenlang nur meine
Kleider
schlitzen, und bei diesem Gedanken hielt ich inne. Ich wagte nicht
weiter zu
denken. Ich prüfte ihn mit hartnäckiger Aufmerksamkeit – als ob ich bei
dem
Verweilen gerade hier den Stahl aufhalten könnte. Ich zwang mich, mir
den Ton
auszumalen, mit dem der Halbmond das Gewand durchschneiden würde – das
eigentümlich fröstelnde Empfinden, das das Zerschneiden von Stoff auf
unsere
Nerven auszuüben pflegt. Ich grübelte über alle diese Kleinigkeiten,
bis meine
Zähne klapperten.
Nieder – langsam
und stetig kroch es nieder! Ich fand ein wahnsinniges Vergnügen darin,
die
Schnelligkeit der Schwingungen nach oben und nach unten miteinander zu
vergleichen. Nach rechts – nach links – auf und ab – mit dem Kreischen
einer
verdammten Seele! Los auf mein Herz mit dem schleichenden Tritt des
Tigers! Ich
lachte und heulte abwechselnd, je nachdem die eine oder andere
Vorstellung in
mir die Oberhand gewann.
Nieder – nieder
ohne Erbarmen! Nur noch drei Zoll über meiner Brust sauste es dahin.
Ich mühte
mich wild – rasend –, um meinen linken Arm ganz frei zu bekommen; er
war nur
vom Ellbogen bis zur Hand frei. Letztere konnte ich mit großer
Anstrengung vom
Teller neben mir zum Munde führen, weiter aber nicht. Hätte ich die
Gurte über
dem Ellbogen sprengen können, so würde ich das Pendel erfasst und
versucht
haben, es zum Stehen zu bringen. Gerade so gut hätte ich versuchen
können, eine
Lawine aufzuhalten!
Nieder –
unaufhaltsam – unerbittlich nieder! Der Atem versagte mir, und ein
Krampf
schüttelte mich bei jeder Schwingung. Meine Augen folgten der
Aufwärtsbewegung
mit dem Eifer sinnlosester Verzweiflung; sie schlossen sich krampfhaft
beim
Niedersausen, obgleich Tod eine unaussprechliche Erlösung gewesen wäre.
Und
dennoch erbebte ich in jedem Nerv bei dem Gedanken, welch eines
geringen
Sinkens der Maschinerie es noch bedurfte, um den scharfen gleißenden
Stahl
durch meine Brust zu treiben. Es war Hoffnung, die meine
Nerven
erschauern – meinen Körper zusammenzucken ließ. Es war Hoffnung –
Hoffnung, die
über die Foltern triumphierte –, die selbst den zum Tode Verurteilten
in den
Kerkern der Inquisition von neuem Leben raunt.
Ich sah, dass
weitere zehn oder zwölf Schwingungen den Stahl nun tatsächlich in
Berührung mit
meinen Kleidern bringen würden, und bei dieser Beobachtung überkam
meinen Geist
ganz plötzlich die klare gesammelte Ruhe der Verzweiflung. Zum ersten
Male seit
vielen Stunden oder vielleicht Tagen dachte ich. Ich gewahrte
jetzt,
dass die Riemen oder Gurte, die mich umschlangen, aus einem einzigen
Stück
bestanden. Ich war nirgends mit einem besonderen Seile festgebunden.
Der erste
Schnitt des rasiermesserscharfen Halbmondes würde also meine gesamten
Fesseln
derart lösen, dass ich sie mit Hilfe meiner linken Hand abwinden
konnte. Doch
wie gefahrvoll war in diesem Fall die Schärfe des Stahls! Die Folge des
geringsten Aufbäumens war der Tod. War es übrigens anzunehmen, dass
meine
Marterknechte jene Möglichkeit nicht vorausgesehen und ihr vorgebeugt
hatten?
War es wahrscheinlich, dass die
Fesseln gerade an der Stelle meine Brust kreuzten, die das Pendel
berühren
würde? Besorgt, meine schwache, und, wie es schien, letzte Hoffnung
zerstört zu
sehen, hob ich den Kopf so hoch, dass ich meine Brust deutlich
überblicken
konnte. Die Gurte umwanden Glieder und Körper nach allen Richtungen
–nur nicht
in der Schnittbahn des störenden Pendels!
Kaum war mein
Kopf in seine frühere Lage zurückgesunken, als in meiner Seele etwas
aufleuchtete, was ich nicht anders beschreiben kann, als dass ich es
die zweite
Hälfte jenes vorerwähnten Gedankens an Befreiung nenne, der mir damals,
als ich
die Speise an die Lippen führte, nur unklar vorgeschwebt. Jetzt hatte
sich der
ganze Gedanke klar geformt – zaghaft, unsicher, kaum fassbar –, aber
dennoch
klar und ganz. Ich begann sofort mit der Willenskraft der Verzweiflung
an seine
Ausführung zu gehen.
Seit vielen
Stunden wimmelten die Ratten um den niedrigen Holzrahmen, auf dem ich
lag. Sie
waren wild, frech, zudringlich, ihre roten Augen glühten mich an, als
warteten
sie nur darauf, dass ich mich nicht mehr rührte, um über mich
herzufallen. ›An
welche Nahrung‹, dachte ich, ›mochten sie im Brunnenloch gewöhnt
gewesen sein?‹
Trotz aller
meiner Anstrengungen, sie davon abzuhalten, hatten sie den Inhalt
meines
Speisenapfes bis auf einen geringen Rest aufgezehrt. Ich hatte die Hand
unausgesetzt über dem Napf hin und her geschwenkt, und schließlich
hatte die
unbewusste Gleichmäßigkeit der Bewegung diese ihrer Wirkung beraubt. In
seiner
Habgier hatte das Ungeziefer häufig seine scharfen Zähne in meine
Finger
geschlagen. Mit den Stückchen des fettigen und stark gewürzten
Fleisches, das mir noch geblieben, rieb ich nun die
Gurte überall da ein, wo sie mir erreichbar waren; dann zog ich die
Hand zurück
und lag atemlos still.
Zuerst waren die
raubgierigen Tiere darüber, dass die Bewegung der Hand aufgehört hatte,
verblüfft und erschreckt. Sie flohen in Scharen zurück; viele eilten
zum
Brunnen. Doch nur für einen Augenblick. Ich hatte nicht umsonst auf
ihre
Gefräßigkeit gerechnet. Als sie bemerkten, das ich regungslos
verharrte,
sprangen ein oder zwei der kühnsten auf den Holzrahmen und schnüffelten
an den
Gurten. Dies schien das Signal zu einem allgemeinen Sturm. Aus dem
Brunnen
ergoss es sich in neuen Schwärmen. Sie klammerten sich ans Holz,
stürzten
darüber her und sprangen zu Hunderten auf mich herauf. Das gleichmäßige
Schwingen des Pendels störte sie nicht im mindesten. Seinen Streichen
ausweichend, befassten sie sich mit den eingefetteten Gurten; sie
stürmten
mich, sie ergossen sich auf mich in immer neuen Scharen; sie krochen
über
meinen Hals; ihre kalten Lippen suchten die meinen; der immer
zunehmende Druck
erstickte mich fast. Ein Ekel, für den es keine Worte gibt, hob meine
Brust und
legte sich wie eisige Klammern um mein Herz. Doch ich fühlte: noch eine
Minute
– und der Kampf war zu Ende! Deutlich empfand ich, wie sich die Fesseln
lockerten. Ich wusste, dass sie an mehr als an einer Stelle schon
zernagt sein
mussten. Mit übermenschlicher Willenskraft lag ich still.
Ich hatte mich in
meiner Berechnung nicht geirrt, ich hatte nicht umsonst ausgehalten.
Ich fühlte
endlich, dass ich frei war. Die Gurte hingen in Fetzen um
meinen
Leib. Aber das schwingende Pendel berührte schon meine Brust. Es hatte
den
Stoff meines Kleides geschlitzt. Es hatte das Hemd durchschnitten. Zwei
weitere
Schwingungen machte es, und ein stechender Schmerz zuckte mir durch
alle
Nerven. Aber der Augenblick der Befreiung war gekommen. Auf einen
schnellen
Wink mit der Hand jagten meine Befreier entsetzt von dannen. Ruhig und
vorsichtig, mich seitwärts zusammenkrümmend, entglitt ich langsam den
umschlingenden Bändern und dem Bereich der stählernen Schneide. Für den
Augenblick wenigstens war ich frei.
Frei! – Und in
den Klauen der Inquisition! Ich war kaum von meinem hölzernen
Marterbett auf
den Steinboden der Zelle getreten, als die Bewegung der Höllenmaschine
aufhörte
und ich gewahrte, wie sie von irgendeiner unsichtbaren Kraft zur Decke
emporgezogen wurde. Das war eine Lehre, die mir verzweifelt zu Herzen
ging.
Jede meiner Bewegungen wurde offenbar überwacht. Frei! – Ich war nur
einer
Todesart entgangen, um nun vielleicht Schlimmeres als Tod zu finden.
Bei diesem
Gedanken prüften meine angstvollen Blicke die Eisenwände, die mich
einschlossen. Irgend etwas Ungewöhnliches – eine Veränderung, die ich
zunächst
nicht genau feststellen konnte – hatte unverkennbar hier stattgefunden.
Viele
Minuten lang quälte ich mich in tiefer Versonnenheit mit vergeblichen
Vermutungen. In dieser Zeit gewahrte ich zum ersten Mal die Quelle des
schwefeligen Scheines, der meine Zelle erhellte. Er drang aus einem
Spalt von
etwa eines halben Zolles Breite, der am Boden der Kerkerwände um den
ganzen
Raum lief und so Wände und Fußboden völlig trennte. Ich versuchte
natürlich
vergeblich, durch diese Fuge hinunterzuspähen.
Als ich mich nach
diesem Versuch wieder erhob, begriff ich auf einmal die geheimnisvolle
Veränderung des Raumes. Ich erwähnte schon, dass die Konturen der auf
den
Wänden befindlichen Darstellungen deutlich hervortraten, dass aber die
Farben
verblasst und unklar schienen. Diese Farben erstrahlten jetzt von
Augenblick zu
Augenblick in immer stärker werdendem Glanze, der den gespenstischen
Teufelsfratzen ein Ansehen gab, das auch stärkere Nerven als meine
angegriffen
haben dürfte. Seltsam gespensterhafte Augen glotzten mich von tausend
Seiten an
– die vorher gar nicht da gewesen waren – und glühten im schauerlichen
Glanze
eines Feuers, das hinter den Wänden flammen musste, so sehr ich mir
auch
einzureden suchte, es bestände nur in meiner Einbildung.
Einbildung! Bei
jedem Atemzug drang in meine Nase der Dunst von glühendem Eisen. Ein
erstickender Geruch beherrschte den ganzen Raum. Immer tiefer erglühten
die
tausend Augen, die meines Todeskampfes harrten. Ein satteres Karmin
ergoss sich
über die blutigen Gemälde. Ich keuchte. Ich rang nach Atem. An der
Absicht
meiner Peiniger war nicht zu zweifeln – o erbarmungslose, o satanische
Menschen! Ich flüchtete vor dem glühenden Metall in die Mitte der
Zelle.
Gegenüber der Vernichtung durch das Feuer, die meiner wartete, erschien
mir der
Gedanke an die Kühle des Brunnens wie lindernder Balsam. Ich eilte an
seinen
gefahrvollen Rand; ich spähte gespannt hinunter. Der Glutschein von der
glühenden Decke erleuchtete seine verborgensten Winkel. Dennoch – eine
verzweifelte Minute lang – sträubte sich mein Geist, den Sinn zu
erfassen, was
ich da unten sah. Doch endlich zwang – wand es sich in meine Seele –,
brannte
es sich ein in meinen schaudernden Verstand. O entsetzliches Begreifen!
O
wortloser Ekel! – O Grauen über alles Maß! – »Alle andern Schrecken,
nur nicht
diese!« ächzte ich und stürzte schreiend vom Brunnenrande fort; ich
vergrub das
Gesicht in die Hände und weinte bitterlich.
Die Hitze nahm
rasch zu, und wiederum hob ich den Blick, halb wahnsinnig, zur Decke.
Eine neue
Veränderung hatte sich vollzogen – eine Veränderung an der Form der
Zelle. Wie
vorher war es vergeblich, dass ich mich bemühte, den Vorgang zu
begreifen und
einzusehen, was damit beabsichtigt war. Doch nicht lange ließ man mich
im
Zweifel. Zweimal war ich dem Tode entronnen, die Rachsucht der
Inquisitoren war
aufs äußerste angestachelt, man zögerte nicht, mich nun gewaltsam mit
dem König
der Schrecken bekannt zu machen. Der Raum war quadratisch gewesen.
Jetzt sah
ich, dass zwei seiner Eisenecken spitzwinklig geworden waren. Die
schreckliche
Veränderung ging mit leisem Knarren immer weiter vorwärts. Einen
Augenblick
später hatte der Raum die Gestalt eines schiefen Vierecks. Aber die
Bewegung
hielt hier nicht inne – ich hoffte und wünschte dies nicht einmal. Ich
hätte
die rot glühenden Wände an meine Brust ziehen mögen, wie ein Gewand
ewiger
Ruhe. »Tot!« sagte ich. »Willkommen jeder Tod, nur nicht der im
Brunnen!« Narr,
der ich war! Musste ich nicht wissen, dass es der einzige Zweck des
brennenden
Eisens war, mich in den Brunnen zu drängen? Konnte ich denn
der Glut
Widerstand leisten? Und wenn ich es gekonnt – musste ich nicht seiner
pressenden Kraft nachgeben? Und jetzt – enger und immer enger schob
sich das
Viereck zusammen mit einer Schnelligkeit, die mir keine Zeit zum
Überlegen
ließ. Seine Mitte und also auch sein weitester Raum bildete sich genau
über dem
gähnenden Abgrund. Ich wich zurück – aber die schließenden Wände
pressten mich
Schritt um Schritt vorwärts. Endlich gab es für meinen wunden,
zuckenden Körper
keinen Zoll Raum mehr auf dem festen Boden. Ich kämpfte nicht länger,
aber die
Todesangst meiner Seele schrie auf in einem einzigen langen, lauten,
verzweifelten Schrei. Ich fühlte, wie ich auf dem Brunnenrande wankte –
ich
wandte die Augen ab.
Ein verworrenes
Geräusch wie von Menschenstimmen! Ein lauter Ton wie gewaltiger
Trompetenstoß!
Ein Dröhnen und Krachen wie tausendfacher Donner! Die feurigen Wände
wichen
zurück! Ein Arm packte den meinigen, als ich ohnmächtig in den Abgrund
zu
fallen drohte. Es war der Arm des Generals Lasalla. Die französische
Armee war
in Toledo eingezogen. Die Inquisition befand sich in den Händen ihrer
Feinde.
oben
weiter
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Textgrundlage: "Das Pendel II",
Edgar Allen Poe,
Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen,
Band 3 Verbrechergeschichten.
Herausgegeben von
Theodor Etzel Berlin: Propyläen-Verlag,
1922, S. 157-179, gemeinfrei
zeno.org
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107: "Das Pendel" by Harry
Clarke (1889-1931),
printed in 1919, gemeinfrei
wikimedia
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