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04.3
Geschichten
Edgar
Allen Poe
____________________
Unter
der Regierung des ritterlichen Königs Eduard III. ereignete es sich
eines
Mitternachts im Oktober, dass zwei Matrosen des Handelsschoners »Frei
und
Leicht«, der regelmäßig zwischen Sluys und der Themse hin und her fuhr
und nun
in diesem Fluss vor Anker lag, sich zu ihrem eigenen Erstaunen in der
Trinkstube eines Bierhauses der Gemeinde St. Andreas in London sahen –
eines
Bierhauses, das als Wahrzeichen einen lustigen Matrosen im Schilde
führte.
Das
dürftig eingerichtete, rauchgeschwärzte Zimmer mit der niedrigen Decke,
das
auch in allem anderen durchaus den Charakter wahrte, wie er zur
damaligen Zeit
solchen Lokalen eigen war, schien den sonderbaren Gästen, die in
Gruppen
herumsaßen, für seine Bestimmung ganz geeignet.
Von
diesen Gruppen bildeten unsere zwei Schiffer wohl die interessanteste.
Der
Eine, der der Ältere zu sein schien und den sein Genosse
bezeichnenderweise »Bein«
nannte, war bei weitem der Größere von beiden. Er mochte sechseinhalb
Fuß
haben, und ein gewohnheitsmäßiges Vornüberbeugen war wohl die
notwendige Folge
einer so gewaltigen Länge. Dies Zuviel einerseits wurde jedoch durchs
anderweitige Zuwenig mehr als ausgeglichen. Er war auffallend mager und
hätte, als Wimpel an der
Mastspitze hängen oder auch als Klüverbaum dienen können. Doch diese
und andere
ähnliche Scherze hatten anscheinend auf die Lachmuskeln des Matrosen
nicht die
geringste Wirkung auszuüben vermocht. Mit seinen starken Backenknochen,
der
großen Hakennase, dem zurücktretenden Kinn, dem hängenden Unterkiefer
und den
großen hervorquellenden Augen blieb der Ausdruck seines Gesichts allen
Neckereien zum Trotz ernst und feierlich – um nicht zu sagen
gleichgültig gegen
alles.
Der
jüngere Seemann war in seiner äußeren Erscheinung das gerade Gegenteil
seines
Gefährten. Seine Höhe betrug keine vier Fuß. Ein paar stämmige, krumme
Beine
trugen seine gedrungene, schwerfällige Gestalt, während seine
ungewöhnlich
kurzen und dicken Arme, an deren Enden viel zu kleine Fäuste saßen, zu
beiden
Seiten herabschlenkerten wie die Flossen einer Meerschildkröte. Kleine
Augen
von unbestimmter Farbe zwinkerten aus einer runden und rosigen
Fleischmasse
hervor, in der die kurze Nase fast begraben lag; und seine dicke
Oberlippe
ruhte auf der noch dickeren Unterlippe mit einem Ausdruck großer
Selbstgefälligkeit, der noch dadurch erhöht wurde, dass ihr Besitzer
die
Gewohnheit hatte, sie oft zu lecken. Für seinen langen Freund hatte er
offenbar
ein Gefühl, bei dem sich Bewunderung und Spott die Wage hielten, und
gelegentlich starrte er zu seinem Antlitz auf wie die rot untergehende
Sonne zu
den Felsenhöhen von Ben Newis.
Die
Wanderung dieses würdigen Paares durch die Schenken der Nachbarschaft
war
gründlich und abenteuerlich gewesen; doch selbst die reichste Quelle
versiegt einmal,
und so hatten unsere Freunde nun diese letzte Schenke mit leeren
Taschen
betreten.
Zur
Zeit, da diese Geschichte beginnt, saßen Bein und sein Kamerad, Hugo
Tarpaulin,
am langen Eichentisch in der Mitte der Gaststube mit aufgestützten
Ellenbogen
da. Sie starrten hinter einer riesigen Kanne voll Starkbier zu den
gewichtigen
Worten »Hier wird nicht angekreidet« empor, die zu ihrer Verwunderung
und
Entrüstung über der Türe geschrieben standen – und zwar vermittels eben
jenes
Minerals, dessen Vorhandensein sie ableugneten. Nicht etwa, dass einer
dieser
Seebären die Gabe besessen hätte, Geschriebenes entziffern zu können –
eine
Gabe, die dem gemeinen Volk jener Tage kaum weniger kabbalistisch
dünkte als
die der Rednerkunst –, aber die Buchstaben waren so seltsam
verschnörkelt,
hatten eine so bedenklich schiefe Neigung leewärts, dass sie den
Schiffern
schlechtes Wetter anzuzeigen schienen; sie beschlossen daher, um die
bezeichnenden Worte Beins anzuwenden, »Wasser auszupumpen, alle Segel
aufzugeien und vor dem Wind zu treiben.«
Nachdem
sie also den Rest des Bieres passend untergebracht und die Enden ihres
kurzen
Kamisols hochgenommen hatten, machten sie einen Ausfall nach der
Straße.
Wenngleich Tarpaulin zweimal in die Feuerstelle rollte, die er
irrtümlicher die
Türe hielt, so glückte ihnen schließlich doch die Flucht, und gerade
als es
halb eins schlug, rannten unsere Helden, zu allen Schandtaten bereit,
die
dunkle Straße hinunter, die zur Sankt-Andreas-Treppe führte – und
hinter ihnen
her lief scheltend die Wirtin vom »Lustigen Matrosen«.
Zur
Zeit dieser ereignisreichen Geschichte, wie auch Jahre vorher und
danach,
schallte durch ganz England, besonders aber in der Hauptstadt, der
Angstschrei. »Die Pest!« Die Stadt war stark entvölkert – und in den
schrecklichen Bezirken an den Ufern der Themse, von wo inmitten enger,
dunkler
und schmutziger Gassen der Dämon dieser Krankheit, wie es hieß, seinen
Ausgang
genommen hatte, herrschten in einsamer Größe Grauen und Entsetzen und
Aberglaube.
Durch
den Machtspruch des Königs war über diese Orte damals der Bann
gesprochen und
ihr Betreten bei Todesstrafe verboten worden. Doch weder das Gebot des
Königs
noch die riesigen Schranken, die den Zugang zu diesen Straßen
versperrten, noch
der Anblick jenes ekelhaften Todes, der mit fast unumstößlicher
Gewissheit den
Elenden befiel, dem keine Gefahr die Abenteuerlust benahm, schützten
die
verlassenen Wohnungen vor nächtlichen Beutezügen, die dort nach
Eisenteilen und
sonstigen zurückgebliebenen Dingen, die irgendwie verwertbar waren,
unternommen
wurden.
Alljährlich,
wenn der Winter kam und die Schranken geöffnet wurden, stellte es sich
heraus,
dass Schlösser, Riegel und verborgene Gelasse den reichen Vorräten an
Wein und
Branntwein nur wenig Schutz geboten hatten, die von den Händlern, deren
Geschäftsräume in der Nähe lagen, für die Dauer der Verbannung in so
unzulänglicher Obhut belassen worden waren.
Doch
nur sehr wenige von der erschreckten Bevölkerung glaubten, dass
Menschenhände
hier am Werk gewesen. Pestgeister, Seuchengespenster und Fieberdämonen
waren
die volkstümlichen Unglücksbringer; und so blutrünstige Geschichten
wurden
berichtet, dass dieses ganze verbotene Viertel in Schauer gehüllt war
wie in
ein Leichentuch, und nicht selten der Plünderer selbst von
dem Grausen,
das seine Taten erst geweckt hatten, hinweggetrieben wurde, und der
ganze große
verpönte Stadtteil in Dunkel und Stille der Pest und dem Tode
überlassen war.
Eine
der gewaltigen Schranken also, die anzeigten, dass der Ort dahinter dem
Pestbann unterworfen sei, versperrte plötzlich dem biederen Tarpaulin
und seinem
Freunde Bein den Weg. Umkehr war ausgeschlossen, und Zeit war nicht zu
verlieren, denn die Verfolger waren ihnen dichte auf den Fersen. Einem
rechten
Seemann ist es ein kleines, solch raues Plankenwerk zu überklettern,
und in der
doppelten Aufregung der Flucht und des Branntweins sprangen sie ohne
Zögern in
die versperrten Gassen hinab, deren widerliche Winkelgänge sie in
trunkenem
Lauf mit Schreien und Rufen durchirrten.
Wären
sie nicht so bis zur Bewusstlosigkeit betrunken gewesen – ihre
taumelnden Füße
hätten inmitten dieses Grauens wie gelähmt sein müssen. Die Luft war
kalt und
neblig. Die Pflastersteine lagen aufgewühlt im hohen fetten Gras.
Zusammengestürzte Häuser blockierten die Straßen; ekle, giftige Dünste
stiegen
auf – und in dem gespenstischen Schein, der selbst um Mitternacht einer
feuchten und verseuchten Atmosphäre entsteigt, konnte man in den
Winkeln und
Gassen und in den fensterlosen Behausungen den Leichnam manch eines
nächtlichen
Plünderers faulen sehen, den die Seuche mitten bei seinen Räubereien
ereilt
hatte.
Aber
weder diese Bilder noch irgendwelche räumlichen Hindernisse hatten
Macht, den
Lauf von Männern aufzuhalten, die, von Natur aus tapfer, gerade jetzt
von
übermütiger Kühnheit und Starkbier überschäumten und in ihrem
gegenwärtigen
Zustand ohne Zögern in den Rachen des Todes gerannt sein würden.
Vorwärts – immer vorwärts stelzte der grimmige Bein, und die trostlose
Einöde
hallte wider von seinen Schreien, die wie der grausige Schlachtruf der
Indianer
aufgellten. Und vorwärts – immer vorwärts rollte der dicke Tarpaulin am
Rockschoß seines lebhafteren Gefährten und überbot dessen emsige
Gesangstätigkeit mit seinem donner grollenden Bass, der aus den Tiefen
seiner
gewaltigen Lungen dröhnte.
Sie waren nun
offenbar ins innerste Lager der
Pest
vorgedrungen. Mit jedem taumelnden Schritt wurde ihr Weg widerlicher
und
grausiger – wurden die Pfade enger und ungangbarer. Riesige Steine und
Balken,
die von den verrottete Dächern herabstürzten, ließen durch ihren
dumpfen,
schweren Fall erkennen, wie hoch die dunklen Häusermassen waren; und da
wirkliche Tatkraft dazu gehörte, sich durch die Unrathaufen einen Weg
zu
bahnen, so geschah es keineswegs selten, dass die Hand ein Skelett oder
eine
weiche Leichenmasse berührte.
Plötzlich, als
die
Matrosen gegen das Tor eines hohen,
gespenstischen Hauses taumelten und aus der Kehle des aufgeregten Bein
ein Ruf,
noch schriller als bisher, emporgellte, kam ihnen aus dem Innern
Antwort in
seltsamen, gelächterähnlichen höllischen Schreien. Wen hätten Töne
solcher Art,
zu solcher Stunde und an solchem Orte nicht entsetzt? Wem hätten sie
nicht das
Blut in den Adern erstarren gemacht? Das trunkene Paar aber stürzte
kopfüber
gegen das Tor, warf es auf und stolperte mit einer Ladung von Flüchen
mitten
hinein in die Ereignisse.
oben
weiter
_________________________
Textgrundlage: "König Pest",
Edgar Allen Poes Werke,
Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen,
Band 5: Phantastische Fahrten. Herausgegeben von
Theodor Etzel, Berlin,
Propyläen-Verlag, 1922, S. 97-113
zeno.org
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97:
"Ophelia", Margaret
McDonald, 1908.
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