Geschichten
Edgar Allen Poe
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Der Raum, in dem sie sich
befanden, schien der
Laden eines
Leichenbesorgers zu sein; doch eine offene Falltür, die sich dicht beim
Eingang
im Boden befand, zeigte dem Blick eine lange Reihe von
Weinkellern, die, nach
dem gelegentlichen Knall zerplatzender Flaschen zu schließen, mit
angemessenem
Trinkstoff gut versorgt zu sein schienen. Inmitten des Raumes stand ein
Tisch
und auf ihm ein riesiges Gefäß mit einer punschähnlichen Flüssigkeit.
Flaschen mit den verschiedensten
Weinen und
Likören, Kannen, Krüge und
Gefäße von jeder Form und Größe waren zahlreich über den Tisch
verstreut, um
den herum auf Sargböcken eine Gesellschaft von sechs Personen saß.
Diese
Gesellschaft will ich, so gut es geht, im einzelnen beschreiben.
Der Eingangstüre gegenüber und
ein wenig höher
als die andern saß eine
Persönlichkeit, die der Präsident der Tafelrunde zu sein schien. Die
Gestalt
war hoch und hager, und Bein war verblüfft, hier jemanden zu finden,
der ihn
selbst noch überragte. Das Gesicht war gelb wie Safran, doch waren
seine Züge,
bis auf eine Ausnahme, in keiner Hinsicht so bemerkenswert, um eine
Beschreibung zu rechtfertigen. Diese eine Ausnahme war eine
ungewöhnlich und
grausig hohe Stirn, die aussah wie eine dem natürlichen Kopf
aufgesetzte
Fleischmütze oder -krone. Der Mund war eingefallen und zu einem
gewissen
gespenstischen Ausdruck von Leutseligkeit verzogen, und die Augen
waren, gleich
den Augen aller am Tisch, trüb und starr von Trunkenheit. Der ganze
Mann war
von Kopf zu Fuß in ein reich besticktes schwarzsamtenes Bahrtuch
gehüllt, das
er wie einen spanischen Mantel umgeworfen hatte. Von seinem Kopfe
nickten
schwarze Trauerfedern, die er mit würdiger und listiger Miene hin und
her
schwenkte; und in der rechten Hand hielt er ein mächtiges menschliches
Schenkelbein, mit dem er soeben durch Aufschlagen auf den Tisch
einen aus dem Kreise
zum Singen aufgefordert zu haben schien.
Ihm gegenüber und mit dem Rücken
zur Türe saß
eine Dame, die ihm an
Seltsamkeit kein Jota nachstand. Wenngleich sie ebenso groß war wie er,
konnte
sie sich nicht über ebensolche unnatürliche Magerkeit beklagen. Sie
schien im
letzten Stadium der Wassersucht zu sein, und ihr Antlitz glich dem
mächtigen
Fass voll Oktoberbier, das dicht an ihrer Seite in einer Zimmerecke
stand. Ihr
Gesicht war unglaublich rund, rot und voll und hatte dieselbe Eigenart
oder
vielmehr denselben Mangel an Eigenart, den ich schon beim Präsidenten
erwähnte,
d. h. nur ein einziger Zug in ihrem Gesicht war ausgeprägt genug, um
besondere
Erwähnung zu verdienen. Übrigens bemerkte der aufmerksame Tarpaulin
sofort,
dass man von jedem der Anwesenden dasselbe sagen konnte; jeder schien
das
Monopol auf eine besondere Eigenart in der Gesichtsbildung zu besitzen.
Bei der
in Rede stehenden Dame war es der Mund. Er begann am rechten Ohr und
schwang
sich in einer schauerlich klaffenden Spalte zum linken hinüber, sodass
die kurzen Gehänge, mit denen
sie die Ohrläppchen geschmückt hatte, fortwährend in die Öffnung
tauchten. Sie
war jedoch unablässig bemüht, den Mund geschlossen zu halten und würdig
auszusehen in ihrem frisch gestärkten und gebügelten Leichenhemd, das
mit einer
steifen Batistkrause dicht unterm Kinn abschloss.
Zu ihrer Rechten saß eine winzige
junge Dame, die
sie
in ihre Obhut genommen zu haben schien. Dieses zierliche Geschöpf,
dessen
abgemagerte Finger zitterten, dessen Lippen bleigrau waren und dessen
leichenblasse Wangen hektische rote Flecke trugen, machte den
unverkennbaren Eindruck, von der galoppierenden Schwindsucht
ergriffen zu sein. Dabei war ihre ganze Erscheinung durchaus vornehm;
sie trug
mit anmutiger Nachlässigkeit ein weites, schönes Sargtuch aus feinstem
indischen Schleierleinen; ihr Haar hing in Ringeln auf den Nacken; ihre
Lippen
umspielte ein sanftes Lächeln; aber ihre Nase – eine lange, dünne,
krumme,
biegsame und finnige Nase – hing tief über die Unterlippe herab und gab
ihrem
Antlitz, ungeachtet der zierlichen Weise, mit der ihre Zunge die Nase
dann und
wann zur Seite schob, einen etwas zweideutigen Ausdruck.
Ihr gegenüber und zur Linken der
wassersüchtigen
Dame
saß ein kleiner, aufgeblasener, keuchender und gichtiger Alter, dessen
Wangen
wie zwei riesige Blasen voll Portwein auf seinen Schultern ruhten. Mit
gekreuzten Armen und einem fest bandagierten Bein, das auf dem Tische
lag,
hielt er sich anscheinend zu tiefsinnigen Betrachtungen berechtigt. Er
war
sichtlich stolz auf jeden Zoll seiner persönlichen Erscheinung, schien
aber
noch größeres Entzücken darin zu finden, die Aufmerksamkeit auf seinen
lustig bunten
Überrock zu lenken. Dieser musste ihn nicht wenig Geld gekostet haben
und war
ihm wie auf den Leib geschnitten – aus einem jener seltsam bestickten
Seidenüberzüge, mit denen man in England und auch anderswo, wenn ein
Adelsgeschlecht ausgestorben ist, das Wappenschild an seinem Stammsitz
zu
drapieren pflegt.
Neben ihm und rechts vom
Präsidenten saß ein Herr
in
langen weißen Strümpfen und baumwollenen Hosen. Seine Gestalt schwankte
in
lächerlicher Weise hin und her, in einem Anfall, den Tarpaulin mit
»Katzenjammer« bezeichnete. Seine frischrasierten Kinnbacken waren
mit einer Musselinbinde fest hinaufgebunden; und
seine Arme waren auf ähnliche Weise an den Handgelenken gefesselt,
sodass er
den Getränken auf dem Tisch nicht allzu kräftig zusprechen konnte –
eine
Vorsichtsmaßregel, die nach Ansicht von Bein durchaus angemessen war,
so
versoffen war sein Antlitz. Ein paar gewaltige Ohren, die beim besten
Willen
nicht verborgen werden konnten, türmten sich in den Raum empor und
zuckten
jedes mal krampfhaft zusammen, wenn ein neuer Pfropfen knallte.
Ihm gegenüber, als Sechster und
Letzter, befand
sich
einer in sehr steifer Haltung, der – gelähmt wie er war – sich in
seiner
unbequemen Kleidung wenig behaglich gefühlt haben muss. Er war recht
unangemessen mit einem neuen und hübschen Mahagonisarg bekleidet,
dessen
Kopfende dem Träger den Schädel drückte und in Art einer Haube darüber
hinausragte, was dem ganzen Antlitz einen unbeschreiblichen Reiz
verlieh. In
die Seiten des Sarges waren nicht sowohl aus Schönheitsgründen als zur
Bequemlichkeit
Armlöcher eingeschnitten; nichtsdestoweniger aber verhinderte das Kleid
seinen
Besitzer, so aufrecht dazusitzen wie seine Gefährten; und wie er so in
einem
Winkel von fünfundvierzig Grad sich rückwärts an seine Bahre lehnte,
verdrehten
ein Paar ungeheurer gestielter Augen ihr grauenhaftes Weiß zur Decke –
in
höchster Verblüffung über ihre eigene Riesenhaftigkeit.
Vor jedem aus der Tafelrunde lag
ein Schädel, der
als
Trinkbecher diente. Über dem Tisch hing ein menschliches Skelett,
dessen eines
Bein vermittels eines Stricks an einem Haken in der Decke befestigt
war. Das
andere Bein stand in rechtem Winkel vom Rumpfe ab und veranlasste, dass
das
ganze leichte und klappernde Gestell bei jedem
launischen Windstoß, der hereinirrte, herumwirbelte. In der
Schädelhöhle dieses
widerlichen Dinges lag eine Anzahl glühender Kohlen, die die ganze
Szenerie
feurig beleuchteten, indes Särge und andere zum Laden eines
Leichenbesorgers
gehörigen Gegenstände an Wänden und Fenstern aufgestapelt lehnten und
verhinderten, dass etwa ein Lichtstrahl auf die Straße dringe.
Beim
Anblick dieser merkwürdigen Versammlung und ihrer
noch merkwürdigeren Geräte bewiesen unsere Seeleute nicht gerade jenen
Anstand,
den man hier erwartet zu haben schien. Bein lehnte sich, da wo er
stand, an die
Wand, ließ seinen Unterkiefer noch tiefer als gewöhnlich hängen und
sperrte die
Augen auf, so weit er konnte, indessen Hugo Tarpaulin sich in die Knie
beugte,
bis seine Nase in gleicher Höhe mit dem Tische war, die Fäuste auf die
Knie
stemmte und in ein langes und geräuschvolles, höchst unziemliches
Gelächter
ausbrach.
Der
lange Präsident aber, durch dieses ungezogene
Benehmen keineswegs beleidigt, lächelte die Eintretenden liebenswürdig
an –
nickte ihnen mit seinem Kopf voll Trauerfedern zu – stand auf, nahm
jeden von
ihnen beim Arm und führte ihn zu einem Sitz, den ein anderer der
Versammelten
inzwischen für ihn bereitgestellt hatte. Bein ließ alles dies
widerstandslos
mit sich geschehen und nahm dort Platz, wo man ihn hingeführt hatte;
der
galante Hugo aber ergriff das Sarggestell, das man ihm am Kopfende des
Tisches
zugewiesen hatte, und rückte es neben die schwindsüchtige junge Dame in
dem
Sargtuch aus indischem Schleierleinen. Hier an ihrer Seite ließ er sich
fröhlich nieder, goss sich einen Schädelbecher voll Rotwein ein und
leerte ihn
auf ihre Gesundheit. Diese Vermessenheit aber empörte den steifen
Herrn im Sarg aufs höchste, und es hätte leicht zu ernsten
Folgen kommen können, wenn nicht der Präsident mit seinem Schenkelbein
auf den
Tisch gehauen und die Aufmerksamkeit der Anwesenden für die folgende
Rede in
Anspruch genommen hätte:
»Es wird uns zur Pflicht, das
gegenwärtige
fröhliche
Ereignis –«
»Halt da!« unterbrach ihn Bein
mit ernster Miene,
»halt da, sage ich, und meldet mal erst, wer zum Teufel ihr eigentlich
seid und
was ihr hier zu tun habt! Ihr seht ja aus wie leibhaftige
Teufelsbraten! Wie
kommt ihr dazu, den Wein zu mausen, den mein ehrenwerter
Schiffskamerad, Will
Wimble, der Leichenbesorger, sich für den Winter aufgestaut hatte?«
Bei diesem unverzeihlich rüden
Benehmen sprang
die
ganze Gesellschaft entrüstet auf und stieß dieselben höllischen Schreie
aus,
die zuvor die beiden Seeleute hereingelockt hatten. Der Präsident
gewann als
erster seine Fassung wieder, wandte sich mit großer Würde zu Bein und
begann
von neuem:
»Wir sind gern bereit, eine
angebrachte Neugier
von Seiten
so vornehmer Gäste so ungebeten sie auch sein mögen, zu befriedigen. So
wisst
denn, dass in diesem Reich hier ich der Herrscher bin und mit
unumschränkter
Gewalt regiere unter dem Titel: König Pest der Erste.
Dieser Raum, den ihr
profanerweise als den Laden
von
Will Wimble, Leichenbesorger, bezeichnet – ein Mann, den ich gar nicht
kenne
und dessen plebejischer Name mein königliches Ohr noch nie verletzte –
dieser
Raum, sage ich, ist der Thronsaal unseres Palastes, in dem wir das Wohl
des
Landes beraten und bei sonstigen heiligen und wichtigen Anlässen
zusammenkommen.
Die edle Dame mir gegenüber ist
Königin Pest,
Unsere
durchlauchtigste Gemahlin. Die anderen erhabenen Anwesenden gehören
alle zu Unserer
Familie und tragen die Abzeichen königlicher Herkunft nebst den
respektiven
Titeln: Seine Gnaden der Erzherzog Pestherd – Seine Gnaden der Herzog
Pestilenz
– Seine Gnaden der Herzog Dassdichdiepest – und Ihre Durchlaucht die
Erzherzogin Ana-Pest.
Was eure Frage anlangt,« fuhr er
fort, »aus
welchem
Grunde wir hier zu Rate sitzen, so werdet ihr verzeihen, wenn wir
entgegnen,
dass es sich – und zwar ausschließlich – um Unsere eigenen königlichen
Interessen handelt, die für niemanden sonst von Wichtigkeit sind. In
Anbetracht
der Rechte aber, auf die ihr als Fremde und als unsere Gäste Anspruch
erheben
könnt, wollen wir noch hinzufügen, dass wir nach vorangegangenen
gründlichen
Nachforschungen und Erkundigungen heute Nacht hier sind, um dem
besonderen
Geist – der unbegreiflichen Art und Eigenschaft – dieser köstlichen
Gaumenlatzung: der Weine, Biere und Liköre Unserer trefflichen
Hauptstadt
nachzugehen, ihn zu analysieren. Damit folgen wir weniger Unseren
eigenen
Wünschen, vielmehr dienen wir hiermit der Wohlfahrt jenes unirdischen
Herrschers, der uns alle regiert, dessen Reich keine Grenzen kennt und
dessen
Name ›Tod‹ ist.«
»Dessen Name David Jones ist!«
ließ sich
Tarpaulin
vernehmen, seiner Dame einen Schädel voll Likör reichend und sich dann
selber
eingießend.
»Gemeiner
Bube!« wandte sich nun der Präsident an
HuDgo,
»gemeiner, niederträchtiger Schurke! – Wir haben ausgesprochen, dass in
Anbetracht der Gastrechte, die wir selbst deiner elenden Person
zugestehen, wir
Uns herablassen wollten, deine
ungezogenen und ungelegenen Fragen zu beantworten. Dessen ungeachtet
halten Wir
es für unsere Pflicht, euer unheiliges Eindringen in unsere Ratssitzung
mit
einer Buße zu belegen und verurteilen daher dich und deinen
Spießgesellen zu je
einer Gallone Wacholderschnaps, den ihr auf die gedeihliche Entwicklung
Unseres
Königreichs auf einen Zug und mit gebeugtem Knie hinunterzugießen habt.
Dann
soll es euch freistehn, eure Wege weiterzugehn oder zu bleiben und an
den
Privilegien Unserer Tafelrunde teilzunehmen – je nachdem es euch
Vergnügen
macht.«
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Geschichte:
"König Pest",
Edgar Allen Poes Werke,
Gesamtausgabe
der Dichtungen und Erzählungen,
Band
5: Phantastische Fahrten. Herausgegeben von
Theodor
Etzel, Berlin,
Propyläen-Verlag, 1922, S. 97-113
zeno.org
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97: "Ophelia", Margaret McDonald, 1908.
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