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Literatur


04.3


Joseph Roth - Werke 1

Das journalistische Werk
1919







Wiener Symptome


Mai und Mais

Fast hätte ich geglaubt, es wäre ein fataler Druckfehler im himmlischen Verordnungsblatt. Als der Mai trotz Abschaffung der Sommerzeit doch über die Welt kam und das Maisbrot auch noch auf den Tisch, kostete ich noch einmal das erhebende Gefühl des Durchhaltens in vollen Zügen und würzenden Bissen, schwamm ich in goldgelben Reminiszenzen aus der Zeit, in der man Gold für Maisbrot gab, das schwer verdaulich war wie ein Kriegsbericht und zwerchfellblähend wie ein A-Befund . . .

Es kommt just zur rechten Zeit: Dieweil Paris Kriegsschlüsse diktiert, erinnert sich das Wiener Volksernährungsamt nicht mit Unrecht des Mai, der jahrelang »Offensive«, und des Maises, der »Volksnahrungsmittel« hieß, und unternimmt mit dem letzteren die erstere gegen die Wiener Bevölkerung. Keiner weiß, woher er kam, der Mais. Name und Art nur kennen wir zur Genüge. Stammt er etwa noch aus den Vorratskammern des ukrainischen Brotfriedens? Drischt man ihn aus den Ähren jener Felder, deren Ähren man zerstampft? Oder ist er eigens zurückbelassen aus jenen Jahren straffster Drosselungen als sinniges Maisgeschenk zum Zeichen des Friedensschlusses? Oder als Abschiedsgruß einer aus der Kommune scheidenden Partei? Etwa: Im Weltkrieg habe ich dein, 0 Wiener, gedacht. Drum hab' ich dir zum Frieden dies dargebracht?! . . .
 
Es ist jedenfalls ein kunstvoll dramatischer Aufbau in der Wiener Brotversorgung der letzten Wochen zu sehen. Nach dem Höhepunkt des Weißbrotes die Peripetie des Maisbrotes. Allen dramatischen Regeln zum Trotz unterbleibt hoffentlich die Katastrophe. Denn dieses goldgelbe Verhängnis ist an und für sich schon sinniger Abschluß einer gastrischen Tragödie, auf gefallenem Vorhang ein Fragezeichen, an Paris, ernste Mahnung an übermütig gewordene Zwölffingerdärme, Schlußakkord der 42-Zentimeter-Haubitzensymphonie, Punkt und Pause hinter der ganz ungenügend ausgefallenen Hausarbeit über die große Zeit . . .  Alles in allem: ein Wien er Symptom . . .
 
 
Schokolade
 
Ich sah eine Rippe um zwei Kronen vierzig in der Auslage. Ein blondes Mäderl, barfuß, Hunger in den blauen Kinderaugen, stand davor.
 
Im Anblick der schwarzbraun glänzenden Schokoladerippen wurde Farnes vulgaris (gemeiner Hunger) zu beflügelter Sehnsucht, gierig körperliches Verlangen zu beschwingtem Himmelanstreben, animalische Angelegenheit zur rein seelischen. So etwa sieht der Himmel dieses Kindes aus: braun und mit Schokolade tapeziert. Und diese kleine Rippe um 2 Kronen 40 ist die Schwelle, über die man ins Himmelreich tritt . . .
 
Schokolade! Sie trägt eine Zürcher Marke und ist sicher durch den Schleichhandel in die Auslage geschmuggelt worden. Ich aber vergebe und vergesse in diesem Augenblick allen Schleichhändlern der Welt ihr Preistreiben für bloßen Anblick. Dem Feinde neben mir ist die Rippe die Schwelle zum Himmelreich. Mir - Schwelle am Tor der Zukunft.

Durch wie viele Länder mit Grenzen, Verzollungen, Repetitionen, Vidierungen, Visitationen mußte diese Rippe wandern, ehe sie ins Schaufenster des Zuckerbäckers Thomas Helferding gelangte! Und nun ist sie da: Aller Völkerfeindschaft, Seelenverhetzung zum Trotze, ein schwarzbraun glänzendes Zeichen ewiger Völkergemeinschaft!
 
Still standen wir da und schmeckten die Herrlichkeiten schlaraffenländischer Zukunft. Unsere Augen schimmerten in Liebe, Sehnsucht und Verehrung. Unser Blick ward Gebet.
 
Dann ging ich in den Laden und kaufte eine Rippe. Brach sie sorgfältig entzwei und gab dem barfüßigen Mädchen die Hälfte. Und aß die andere selbst. Und wetteiferte mit dem Kinde im Kindsein . . .
 
Josephus
Der Neue Tag, 18.5.1919

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Kaffeehausfrühling


Er offenbarte sich bisher bloß darin, daß die Kaffeesieder Preise trieben, die tägliche Ausgabe für Frühstück und Jause in die Höhe schoß, im »Schwarzen« lenzlichgeheime Säfte goren, die Ausbeutung des Publikums ungeahnte Blüten trieb und das Geschäft überhaupt florierte.
 
So sieht der Wiener Kaffeehausfrühling aus. In der letzten Woche kam noch ein Neues hinzu: Schani trug den Garten hinaus. Der »Garten« besteht aus ein paar Latten und Dielenbrettern, die wohlverwahrt auf dem Dachboden Winterschlaf hielten, und einem Gitter aus Drahtgeflecht oder Eisen. Ein besonderes Zuvorkommen dem Mai und den Gästen gegenüber bedeuten noch einige Blumentöpfe und jene grünen Zweige, auf die in diesem abnorm kalten Frühjahr nur die Kaffeesieder kamen. Und somit ist alles für die Sonne gerüstet, die leider »infolge Ausbleibens wichtiger meteorologischer Nachrichten« von der Sternwarte nicht angekündigt werden kann und sich ohne zuverlässige Prognose nicht recht aus den Wolken hervortraut . . .
 
Sieht man diese gottverlassenen Cafeveranden an, so drängt sich einem fast unwillkürlich der Vergleich auf mit nie erfüllten Friedensträumen, verregneten Aussichten und verschnupften Weltlagen. Diese umgekehrten Tische mit den umgestülpten Korbstühlen, die vor Nässe weinen, sehen einer verkehrten Welt verzweifelt ähnlich, in der alles auf dem Kopf stünde, wenn auch nur etwas einen Kopf hätte. Die Luft, die man eigentlich von Rechts wegen hier draußen genießen sollte, ist erfüllt mit Kriegsberichten, die von den Friedenskonferenzen kommen, und das Eis, das in normalen Zeiten hier geschluckt werden würde, hält leider immer noch die Herzen der Menschen krampfhaft umschlossen.
 
So wird, was dereinst Fortsetzung gemächlichen Familienlebens und gemütlicher Tarockpartien auf die Straße war, heute eine recht ungemütliche Verquickung einer ungemütlichen Öffentlichkeit mit privaten Familiensorgen. Die Kaffeehausterrasse ist heute nur mehr ein überflüssiges Requisit aus besseren Zeiten und obendrein noch ein Verkehrshindernis wie Straßenbahn, Post, Telephon und andere »Verbindungsmittel«. Für Kaffeesieder hat sie allerdings einen Vorteil: Sie ermöglicht ihnen, unangenehme Stammgäste, die über die Preiserhöhung schimpfen, auf glatte Weise und im wahrsten Sinne des Wortes - an die Luft zu setzen . . .
 
 
Nachtleben
 
Nacht für Nacht gehe ich denselben Weg. Nacht für Nacht sehe ich dieselben Bilder. Vor dem Versorgungshause fährt der Leichenwagen vor, unerbittlich, nüchtern, geschäftsmäßig, um diejenigen zu versargen, die ehemals versorgt waren. Man weiß wirklich nicht, was vorteilhafter ist. Es könnte auch ein boshafter Druckfehler sein . . .
 
Ein paar Häuser weiter, vor dem anatomischen Institut, steht wieder der Tod. Diesmal in modernerem Gewande. Ein Straßenbahnwagen, dessen rückwärtige Wand ein weithin leuchtendes Kreuz trägt. Die Tore des anatomischen Instituts stehen weit offen. In plumpen glatt gehobelten Holzkästen, die eine verschwommene Ähnlichkeit mit Särgen haben, liegen die sezierten, geprüften, durchstudierten Leichname.
 
Kasten um Kasten wird in den Straßenbahnwagen geschoben. Vollbeladen mit zu wissenschaftlichen Experimenten hinaufavancierten Leichen fährt die Straßenbahn mit dem weithin leuchtenden Kreuz schließlich davon. Es ist die einzige Wiener Elektrische, deren Gäste sich in stummer Liebenswürdigkeit nicht auf die längst sezierten Hühneraugen treten . . .
 
Was ist das dort vor dem Votivplatz? Wieder der Tod? Werden Gräber geschaufelt? Geheimnisvoll vermummte Männer um ein flackerndes Windlicht gruppiert. Sie hacken mit Spaten und Krampen in der Straßenmitte, zwischen den Schienen der Straßenbahn, krempeln das ganze Pflaster auf. Schatzgräber etwa? Symbol wären sie dann, Repräsentanz des deutschösterreichischen Volkes, das, arm an Beutel, krank am Herzen, nach Schätzen gräbt und froh ist, wenn es Regenwürmer findet, um sie zu verspeisen . . .
 
Es sind weder Toten- noch Schatzgräber, sondern Arbeiter aus der Reparaturwerkstätte der städtischen Elektrizitätszentrale, und ihr musterloses nächtliches Hantieren dient der Aufrechterhaltung der Straßenbahnverbindungen.
Sie schaufeln sozusagen das Grab des Wiener Verkehrs ab, um diesem seine Auferstehung zu erleichtern . . .
 
Am Hof steht seit einiger Zeit ein Mann mit einem Sodawasserkarren. Täglich um die Stunde, zu der, den Lichtsparmaßnahmen zufolge, die Nacht unerbittlich eintreten muß, besetzt der Mann seinen Posten. Er ist eine Kombination von Salamutschl- und Würstelmann, eine Neubildung ungefähr, den geänderten Umständen angepaßt. Er verkauft Speck, Sodawasser und Backwerk und ist die einzige Erscheinung im Wiener Nachtleben, die mit ihrem flackernden Gasolinlicht in eine frohe Zukunft weist.

Denn so ist unser »Nachtleben«: Unsere Mitbürger sterben und werden eingesargt wie unsere Vergangenheit, ihre Leichen seziert wie unser Vaterland, die Auferstehung unseres Straßenverkehrs sieht einem Begräbnis verzweifelt ähnlich, und das Licht unserer Hoffnung ist ein irrlichterlierendes Gasolinflämmchen, das über gesalzenem Amerikaspeck und unerschwinglichen Ersatzmehlspeisen im Nachtwinde taumelt . . .

 
Josephus
Der Neue Tag, 23· 5.1919


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Die Mülli

Plötzlich geschah es, daß eine Frau aus einer Ecke des übervollen Straßenbahnwagens den Ruf ausstieß: »Die Mülli!« Hätte sie: »Es brennt!« gerufen, die Aufregung wäre viel geringer gewesen. Ich sah aus bleichen, bartstoppelübersäten Mannsköpfen gierige Heißhungeraugen hervorquellen, ich sah Frauen aus zermarterten Gesichtern Habichtblicke wie Pfeile abschnellen, Kinder, blasse, semmelblonde, dürr und pergamenten wie Dörrgemüse, erstaunt, erschrocken, bebend wie vor einem Großen, Ungeahnten, Schönen und doch Schauerlichen die Köpfe zusammenstecken und neugierig zwischen Armen und Beinen der Großen hindurch in jene Ecke blicken, allwo ein dünner Strahl, weiß und fettgelblich wie Elfenbein, in einer Ritze des Waggonbodens bedächtig und gemächlich rann. Die Milchkanne der Bäuerin aus Stokkerau war über die Füße eines Fahrgastes gestolpert, der an einem Ersatzriemen aus Papierleinwand hart unter dem Waggondach hing, als wollte er demonstrativ die Abschaffung der Todesstrafe leugnen. Der Inhalt der Milchkanne bahnte sich viele Wege durch Ritzen und Spalten des Waggonbodens. Die Leute, die im Waggon saßen, hoben die Füße in die Höhe, aus Angst, in die Milch treten zu müssen. War es die Milch einer Zeus geweihten Kuh, vielleicht Europas? War es Milch aus den Eutern der heiligen Lämmer Mahabharathus? Was war das für eine Milch, in der die Augen aller Passagiere ehrfurchtsvoll ersoffen und vor der die Leute auf die Bänke stiegen, um sie nicht zu beschmutzen?
 
Es war die Milch einer gewöhnlichen sterblichen Kuh aus den irdischen Gefilden von Stockerau. Milch war es, eine halbverklungene Sage aus den Zeiten der Vorvergangenheit für die Großen, ein weißes Silbermärchen von ungeahnten Geheimnissen für die Kleinen. Es war eine Milch wie jene, die per Liter 15 Kreuzer kostete zu einer Zeit, da die Krone noch einen Nährwert hatte und die Milch eine Valuta. Es war Milch, gewöhnliche, außerordentliche, einfache, göttliche Milch . . .
 
Es hat wenig gefehlt und ich hätte das erhebende Schauspiel erlebt, daß gestoßene, zerschundene, verhungerte, vom Kriege und seinen Anleihen gezeichnete, durchgehaltene, Schulter an Schulter überstandene, Teisinger und Tode entgangene, von Blockaden gedrosselte und von Ernährungsmaßnahmen rationierte Ebenbilder Gottes auf den Boden einer Elektrischen glatt und bäuchlings ausgestreckt gelegen hätten, um mit jenen Zungen, mit denen sie mit Hurrah Hötzendorf gepriesen, die ausgeronnene Milch zu schlecken . . .
 
 
Trara!
 
Seit einiger Zeit schwingt mitten durch das Brummen der Autos, das Kreischen der Elektrischen und das Tuten der Schaffner ein seltsamer Ton von wunderbarer Melodie. Es klingt wie das Halali einer Jagd und das selige Trara eines Postillons. Es sind die Signale eines Autos; von dem ich vermute, daß es Eigentum einer fremden Militärmission ist.
 
Ich sage seinem Besitzer somit öffentlich Dank. Das Signal ist hell und lustig und klingt wie eine Aufforderung mitzukommen. Komm mit, ruft es, sehen wir uns die Welt an! In diesem silbernen Trompetenton vernehme ich die hellen Stimmen einer europäischen Zukunft: Liebliche Maiennächte mit fliegenden Silberwölklein, Postillon, Abschied und Reise ins Märchenblaue. Ich sehe Grenzen fallen, Pässe überflüssig werden, Visitationen und Requisitionen aufgehoben werden, und ich fahre auf einer mondlichtüberfluteten breiten Straße durch die römische Campagna. Und ich sehe in eine Zukunft, in der ich ohne jede Einreisebewilligung selbst nach Hütteldorf-Hacking gelange . . .
 
 
Die Politik, die Mädel und der italienische Stern
 
Einmal, als die Zeit noch so groß war, daß selbst die kleinen Mädel sie begriffen, waren patriotische Kokarden, Matrosenschleifen mit Namen vaterländischer Fregatten und Abzeichen, die man an Kriegsblinden- und anderen Festtagen verkaufte, Schmuck und Zierat jener Mizzis, Poldis, Fritzis und Franzis, deren Tagewerk mit Anbruch der Nacht begann und in der harmlosen Gesellschaft eines Leutnants in Erholungsurlaub vor sich ging. Heute, da eine neue Welt die alten Kokarden unmöglich macht, erweisen sich alle diese kleinen Mädel als große Staatsmänner, die die Abzeichen ihrer Zeit besser verstehen als unsere Diplomaten die Zeichen. Der fünfzackige italienische Stern in jenen Tagen, da die Italiener Katzelmacher hießen, armseliges Schmuckstück auf dem Rock italienischer Kriegsgefangener, schimmert heute an den Blusen aller Mizzis. Er ist ihr Leitstern geworden, der ihnen auf dem Weg in die Hinterstübchen italienischer Militärmissionen leuchtet, uns anderen mag er der Stern des Friedens sein, der am Himmel der - Geschlechterversöhnung glänzt. An allen Ecken und Enden der Kärntnerstraße und des Rings taucht er in den Abendstunden auf, und sein Schimmern bedeutet den italienischen Fremden: si paria italiano! Die Wiener Gemütlichkeit ist weit von den Mitteln entfernt, die im heiligen Lande Tirol Anwendung fanden. Der Wiener zitiert höchstens frei nach Schiller: An ihrer Brust sind ihres Schicksals Sterne  . . .
 
Josephus
Der Neue Tag, 1. 6. 1919


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Die Galgenfrist
 

Als ich eines Abends, wie es meine Gewohnheit ist, pünktlich und höchst loyal zehn Minuten vor 9 Uhr vor meinem Haustor ankam, war es - offen. Die für 9 Uhr festgesetzt gewesene Haustorsperre hatte auf meinen Tugendwächter, so sich »Hausmeister« nennt, einen so vortrefflichen Eindruck gemacht, daß er, der typische Repräsentant altösterreichisch-gemütlichen Konservatismus, der trotz Umwälzungen und Götterdämmerungen christlichsozial und konservativ gesinnt geblieben war, angefangen hatte, nicht nur mit der Zeit zu gehen, sondern auch ihr vorauszueilen.
 
Unter der Devise: »Zeit ist Sperrsechserl« hatte er schon um ¾  9 Uhr das Haustor geschlossen und Parteien, die zwischen ¾  9 und 9 Uhr kamen, ganz einfach warten lassen, bis es neun geschlagen hatte und kein Einwand mehr möglich war. Man war eben erst da, nachdem man seine Anwesenheit vom Herrn Hausmeister bestätigt erhalten hatte, zahlte seinen Obolus und schwamm in den Hades seiner gaslichterdrosselten Behausung. So kam es mitunter vor, daß sich einige Mietsparteien vor dem Haustore angesammelt hatten und daß ich mich anstellen mußte, um schlafen gehen zu können.
 
Einmal hatte ich es zwar versucht, einen Haustorschlüssel zu bekommen. Ich ging zum Herrn Inspektor und sprach: Herr Inspektor, halten zu Gnaden, da wir nun schon einmal in einer freien Republik schlafen zu gehn gezwungen sind, bitte ich, mir den Haustorschlüssel zu meiner persönlichen Freiheit gegen ein angemessenes Entgelt und Trinkgeld ausfolgen lassen zu wollen. - Aber der Herr Inspektor erschrak vor dem Worte: persönliche Freiheit und verweigerte mir den Schlüssel. Also gewöhnte ich es mir an, zehn Minuten vor neun Uhr nach Hause zu kommen, um erst fünf Minuten nach neun nach Hause kommen zu können . . .
 
An jenem Abend aber, da ich das Haustor offen fand, war ich in arger Verlegenheit. Dem Hausmeister konnte ein Unglück passiert sein. Oder die persönliche Freiheit war in der deutschösterreichischen Republik wirklich eingeführt worden. Oder der ganze Magistrat ist meschugge.
 
Oder es sitzen schon Bolschewisten im Gemeinderat. Oder das Haus, in dem ich wohne, ist sozialisiert. Oder das Schloß ist kaputt und funktioniert nicht. Ich zog also mein Sperrsechserl, ging in die Wohnung des Hausbesorgers und hub an: Werter Herr Hausmeister, ich bitte sehr um Verzeihung, Sie dürften sich heute geirrt haben, da ist Ihr Sperrsechserl. "Na« - sagte der Gewaltige - »mir harn uns net geirrt. Wir sperren scho um zehne!«
 
Was war geschehen? Was hatte den Hausmeister zu der Gewährung einer Galgenfrist von einer Stunde bewogen? Hatte ihn ein Hauch der neuen Zeit angeblasen?

Ich komme jedenfalls seit damals erst um - halb elf Uhr nach Hause. Die Mietsparteien stehen in langen Ketten vor dem Hause. Ein Wachmann sieht auf Ordnung in den Reihen der Angestellten. Punkt zehn Uhr beginnt der Einlaß. Denn seit die Haustorsperre für zehn Uhr festgesetzt ist, sperrt mein Hausmeister, immer noch der Zeit voranfliegend und seine eben erwähnte Devise beibehaltend, erst um - neun Uhr . . .
 
Josephus
Der Neue Tag, 15.6.1919

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