Der
junge Hirte, der unter
einem Baum liegend durch die Blätter zum Blau des Himmels
emporgeblinzelt
hatte, ließ die Flöte von den Lippen sinken, als er ein Rauschen in
seiner Nähe
vernahm. Er war nicht wenig erstaunt, da er eine junge Frau im weißen,
wallenden Nachtgewand mit bloßen Füßen vor sich im Moose stehen sah.
»Was
willst du?« fragte er.
»Warum blickst du mich so böse an? Ist es etwa nicht gestattet, hier zu
früher
Stunde Flöte zu blasen? Habe ich dich aus deinem Morgenschlummer
geweckt? So wisse, ich bin es gewohnt, mit der Sonne aufzustehen
und zu blasen, wann
es mir beliebt. Und dabei wird es bleiben, das glaube mir.« Mit diesen
Worten
schüttelte der Hirte das Haupt, so daß die Locken flogen, streckte sich
wieder
der Länge nach hin, blinzelte in die Höhe und setzte die Flöte an den
Mund.
»Wer
bist du?« fragte
Dionysia bewegt.
Ärgerlich
setzte der
Jüngling die Flöte ab und erwiderte: »Es dürfte nicht schwer zu merken
sein,
daß ich ein Hirte bin.« Und er blies weiter.
»Wo
ist deine Herde?«
fragte Dionysia.
»Siehst
du es nicht dort
zwischen den Baumstämmen weiß zu uns herschimmern? In jener Lichtung
weiden
meine Schafe. Aber ich rate dir nicht, nahe hinzugehen, denn sie sind
scheu und
fliehen nach allen Windrichtungen, wenn sie Fremde in ihrer Nähe
spüren.« Und
wieder wollte er die Flöte an seine Lippen setzen.
»Wie
kommst du in diese
Gegend?« fragte Dionysia. »Ich kenne dich nicht.«
Jetzt
sprang der Jüngling
auf und erwiderte zornig: »Ich ziehe mit meiner Herde durch das ganze
Land. Den
einen Tag bin ich hier, den zweiten dort, den dritten anderswo, und
daher habe
ich schon allerlei erlebt. Aber das ist mir wahrlich noch nie
vorgekommen, daß
in aller Morgenfrühe Damen im Nachtgewand vor mir im Moose stehen und
mich um
Dinge fragen, die sie nichts kümmern, just wenn ich die Flöte blasen
und in die
junge Sonne blinzeln will.« Er maß Dionysia verächtlich vom Kopf bis zu
den
Füßen, setzte die Flöte an den Mund und spazierte blasend davon der
schimmernden Lichtung zu. Da schämte sich Dionysia ihrer bloßen Füße
und ihres
Nachtgewandes, und sie wandte sich, um nach Hause zu gehen. Während
aber die
Töne immer ferner klangen, fuhr es ihr durch den Sinn: der freche
Knabe! Ich
möchte seine Flöte zerbrechen. Und es fiel ihr ein, daß sie nicht das
Recht
hatte nach Hause zurückzukehren, ehe sie diesem Wunsche nachgegeben,
und
eilends folgte sie den Flötentönen durch den Wald. Das Geäst schlug
über ihrer
Stirn zusammen, die Blätter blieben ihr im offenen Haar hängen und
Wurzelwerk
schlang sich um ihre Füße. Sie aber kehrte sich nicht daran, brach die
Zweige,
die ihrem Schreiten hinderlich waren, mit ihren feinen Fingern, entwand
sich
dem Erdgeflecht und schüttelte die Blätter aus ihrem Haar. Als sie aus
dem Wald
heraustrat, senkte sich die grüne Wiese vor ihr mit blauen, roten und
weißen
Blumen, und jenseits, wo der Wald wieder anfing, stand der Hirt mitten
unter
seinem schimmernden Getier, und seine Locken leuchteten
im Sonnenglanz. Er sah Dionysia herankommen, runzelte die Brauen und
wies die
Nahende mit befehlender Gebärde von dannen. Sie aber ließ sich nicht
abhalten,
schritt gerade auf ihn zu, nahm dem Staunenden die Flöte aus der Hand,
brach
sie entzwei und schleuderte ihm die Stücke vor die Füße hin. Jetzt erst
schien
er zur Besinnung zu kommen, packte Dionysia an den Handgelenken und
wollte sie
zu Boden werfen. Sie wehrte sich, stemmte sich ihm entgegen, seine
Augen
glühten zornig in die ihren, sein hastender Atem fauchte ihr über die
Stirn. Er
preßte die Lippen zusammen, sie lachte: plötzlich ließ er ihre Hände
frei und
umfaßte ihren Leib mit beiden Armen. Heftig wallte es in ihr auf, und
sie
wollte sich ihm entreißen. Aber da er sie immer mächtiger an sich
heranzog,
drängte sie selbst sich ihm entgegen, ermattete, sank aufs Gras und mit
ungeahnter Wonne gab sie sich seinen grimmigen Küssen hin. –
Manche
Tage wandelte sie
nun mit dem Hirten und seiner Herde durchs freie Land. In den heißen
Mittagsstunden ruhten sie im Schatten der Bäume, nachts schliefen sie
auf
einsam weiten Auen, Die Herde, sonst gewohnt einem Flötenspiel zu
folgen, das
nun für immer verstummt schien, verlief sich allmählich, und am Ende
hüpfte nur
mehr ein kleines Lämmchen neben dem Paare einher.
Da
kam nach hundert
Sonnentagen und hundert Sternennächten an einem trüben Morgen ein
rauher Wind
über die Wiese gesaust, auf der die Liebenden geschlafen hatten, und
Dionysia
erwachte schaudernd. »Wach auf,« rief sie über den Hirten hin, »erhebe
dich,
mich friert. Fern im Morgennebel sehe ich Häuser liegen; hier läuft der
Weg
hinab, gehe rasch, kaufe mir Schuhe, Kleid und Mantel.«
Der
Hirte stand auf, trieb
das letzte Lämmchen vor sich her, verkaufte es in der Stadt, und für
den Erlös
brachte er Dionysia, was sie gewünscht hatte. Als Dionysia neu
gekleidet war,
streckte sie sich wieder auf den Boden hin, kreuzte die Arme über ihrem
Haupt
und sagte: »Nun möchte ich gerne wieder einmal etwas auf der Flöte
spielen
hören.«
»Ich
habe keine Flöte mehr,«
erwiderte der Hirte.
»Du
hast sie mir zerbrochen.«
»Du
hättest sie fester
halten sollen,« erwiderte Dionysia. Dann sah sie um sich und fragte:
»Wo
ist denn unser silberwolliges Gefolge?«
»Es
hat sich verlaufen, da es mein Flötenspiel
nicht mehr hörte,« antwortete der Jüngling.»Warum hast du nicht besser
achtgegeben?« fragte Dionysia.
»Ich
habe mich um nichts
gekümmert als dich,« erwiderte der Jüngling.
»Heute
Morgen sah ich ja
noch ein Lämmchen neben uns ruhn.«
»Das
hab ich verkauft, um
dir Schuhe, Kleid und Mantel zu bringen.«
»Wärst
du mir nicht
gehorsam gewesen,« sagte Dionysia ärgerlich, erhob sich und wandte sich
ab.
»Wohin
willst du denn?«
fragte der Hirte schmerzlich erstaunt.
»Nach
Hause,« erwiderte
Dionysia, und sie fühlte ein leises Sehnen nach Erasmus.
»Das
ist ein weiter Weg,«
sagte der Hirt, »allein findest du nicht zurück, ich will dich
begleiten.«
»Das
könnte mir fehlen, daß
ich den weiten Weg zu Fuße gehe.«
In
diesem Augenblick fuhr
unten auf der Landstraße ein Wagen vorüber. Dionysia rief laut und
winkte mit
der Hand. Aber der Kutscher kümmerte sich nicht darum, hieb auf die
Pferde ein
und trieb sie vorwärts. Dionysia rief noch lauter. Da neigte sich
jemand aus
dem Wagenfenster und wandte sich nach der Richtung, aus der die Stimme
tönte.
Als er der schönen Frau gewahr wurde, befahl er dem Kutscher zu halten,
stieg
aus dem Wagen und ging Dionysia entgegen, die die Wiese heruntereilte.
»Was
willst du?« fragte er.
»Warum hast du gewinkt und gerufen?«
»Ich
bitte dich,« erwiderte
Dionysia, »gönne mir einen Platz in deinem Wagen und führe mich in
meine
Heimat.« Und sie nannte ihm den Ort, wo das Haus ihres Gatten stand.
»Gern
will ich deinen
Wunsch erfüllen, wunderschöne Frau,« erwiderte der Fremde, »aber es ist
weit in
deine Heimat, und da ich eben erst von einer Reise heimkehre, muß ich
auf einen
Tag nach Hause, um nach meinen Geschäften zu sehen. Doch sollst du mir
in
meinen Räumen willkommen sein, und ehe du dich auf die Heimreise
begibst,
dürfte ein Tag und eine Nacht der Ruhe dich wohl erquicken.«
Dionysia
war es zufrieden,
der Reisende öffnete höflich den Wagenschlag, ließ die junge Frau
einsteigen,
die sich in die Ecke lehnte, ohne sich noch einmal umzuwenden und nahm
an ihrer
Seite Platz. Die Kutsche setzte sich in Bewegung. Sie fuhr
zuerst auf der Landstraße zwischen grünem Gelände, dann zwischen
kleinen
wohlgehaltenen Häusern weiter.
»Wo
sind wir?« fragte
Dionysia.
»Was
du hier siehst,«
erwiderte der Fremde, »ist alles mein. Ich baue Maschinen für das ganze
Land,
und in den Dörfern, durch die wir fahren, wohnen die Arbeitsleute, die
mir
dienen.« Während er diese Worte sprach, betrachtete Dionysia ihn
aufmerksamer,
und sie sah, daß seine schmalen Lippen von verhaltener Kraft schwollen
und
seine hellen Augen stolz und wie unerbittlich vor sich hinblickten.
Mit
Anbruch der Nacht hielt
die Kutsche vor einem schloßartigen Gebäude. Das Tor öffnete sich. Eine
marmorweiße Halle strahlte von vielen Lichtern wider. Auf den Ruf ihres
Herrn
erschien das Mädchen, geleitete Dionysia in ein behaglich
ausgestattetes
Gemach, war ihr beim Auskleiden behilflich und wies ihr dann den
anstoßenden
kristallblauen Raum, wo ein Bad bereitet war, in dessen laue Fluten
Dionysia
mit Behagen tauchte. Nachher erschien das Mädchen wieder und fragte
Dionysia,
ob sie allein oder in Gesellschaft des Herrn zu speisen wünsche.
Dionysia
erklärte, heute für sich bleiben zu wollen, denn schon wußte sie, daß
sie lange
genug hier verweilen würde, um ihren Gastgeber so nahe kennen zu
lernen, als es
sie gelüstete. –