Arthur Schnitzler
Der
Mörder - Eine
Novelle
Es
hielt ihn nicht länger
im Hotel, die kurze Zeit bis zum Abgang des Zuges lief er in der Stadt
umher, mit
überoffenen Lidern, aber ohne Menschen und Dinge zu sehen. Mittags fuhr
er von Hamburg ab, starrte durch die Scheiben stunden-
und stundenlang auf die fliehende Landschaft; alles, was von Gedanken,
Hoffnungen und Befürchtungen in ihm sich regen wollte, mit der ganzen
wohlgeübten Anspannung seines Willens niederzwingend; und wenn er, um
den
Mitreisenden nicht allzu auffällig zu werden, ein Buch oder eine
Zeitung
vornahm, so zählte er, ohne zu lesen, einmal übers andere bis hundert,
fünfhundert, tausend.
Als
es Nacht wurde,
durchbrach die zehrende Sehnsucht alle seine Bemühungen, sich gefaßt zu
halten.
Er schalt sich närrisch, das Ausbleiben der Nachrichten und den Ton der
letzten
Depesche mißdeutet zu haben, und wußte keinen andern Vorwurf gegen
Adele, als
daß sie sich redlicher an die Abmachung gehalten als er.
Aber
sollte sie etwa auf
irgend eine Weise doch erfahren haben, daß er mit einer Frau gereist
war, so
fühlte er sich in seiner Liebe stark genug, gegen alle Eifersucht und
Erbitterung die Beleidigte wieder zurückzugewinnen.
Und
so sehr hatte er sich
zum Herrn über seine wachen Träume gesetzt, daß er in dieser endlosen
Nacht die
Melodie ihrer Stimme zu hören, die Umrisse ihrer Gestalt und ihre Züge
zu
sehen, ja, daß er ihren Kuß zu fühlen vermochte, so versengend süß, wie
er ihm
in Wirklichkeit von ihren Lippen niemals beschieden gewesen.
Er
war daheim. Mit freundlichem Behagen
empfing ihn seine Wohnung. Das sorglich bereitete Frühstück mundete ihm
trefflich, und zum erstenmal wieder seit vielen Tagen, so wollte ihm
scheinen,
dachte er in völliger Ruhe jener andern, die, von irdischem Gram für
alle Zeit
erlöst, im schweigenden Meere schlummerte.
In
irgendeinem Augenblicke
war ihm, als könnte jene Stundenfolge von der Landung in Neapel an bis
zu
Elisens Tod wohl auch eine Einbildung seiner zerrütteten Nerven sein,
und der
schlimme Ausgang wäre, wie ja die Ärzte vorausgesehen, ja prophezeit
hatten,
nur im gesetzmäßigen Verlaufe der Krankheit geschehen. Ja, der Mann,
der in
einer sonnbeglänzten fremden Stadt tückisch von Arzt zu Arzt, von
Apotheker zu
Apotheker geeilt und mit grausamem Vorbedacht das tödliche Gift
vorbereitet
hatte, der Mann, der die Geliebte, die er ins Jenseits senden wollte,
noch eine
Stunde vorher zu frevler Wonne in die Arme geschlossen, schien ihm ein
völlig
anderer als der, der hier zwischen traulichen Wänden in einer
unveränderten,
bürgerlich behaglichen Umgebung seinen Tee trank; schien ihm einer, der
viel
mehr war als er, einer, zu dem er selbst mit schaudernder Bewunderung
emporschauen müßte.
Doch
als ihm später, da er
aus dem Bade stieg, der Spiegel sein schlankes, nacktes Bild zurückwarf
und er
sich plötzlich bewußt ward, daß er es doch selber war, der das
Unbegreifliche
getan, da sah er seine Augen in hartem Glanze leuchten, fühlte sich
würdiger
als je, die wartende Braut an sein Herz zu schließen und, höhnische
Überlegenheit auf den Lippen, ihrer Liebe so sicher wie nie zuvor.
Zur
bestimmten Stunde trat
er in den gelben Salon, den er vor einem Jahre fast am gleichen Tage
zum
letztenmal verlassen hatte, und in der nächsten Minute stand Adele vor
ihm,
unbefangen, als hätte sie am Tag vorher Abschied von ihm genommen,
reichte ihm
die Hand und überließ sie ihm zu einem langen Kuß. Was hält mich ab,
sie zu umarmen? fragte er sich.
Da
hörte er sie schon reden
mit der dunklen Stimme, die er ja heute Nacht erst im Traum vernommen,
und es
ward ihm bewußt, daß er selbst noch kein Wort gesprochen, daß er nur
ihren
Namen geflüstert hatte, als sie vor ihn hingetreten war.
Er
möge ihr nicht
übelnehmen, begann sie, daß sie ihm auf seine schönen Briefe nicht
geantwortet
hätte; aber es sei nun einmal so, daß gewisse Angelegenheiten sich Aug'
in Aug'
besser und einfacher erledigen ließen als schriftlich. Ihr Schweigen
müsse ihn ja jedenfalls vorbereitet haben, daß sich
mancherlei geändert hätte, und der kühle Ton ihrer Depesche wäre, wie
sie
sofort gestehen wolle, durchaus beabsichtigt gewesen.
Seit
ungefähr einem halben
Jahre sei sie nämlich mit einem andern verlobt. Und sie nannte einen
Namen, den Alfred kannte. Es war der eines seiner vielen guten Freunde
aus
alter Zeit, dessen er im Laufe dieses Jahres so wenig gedacht hatte,
wie beinah
aller Menschen, denen er früher begegnet war.
Er
hörte Adele ruhig an,
starrte gebannt auf ihre glatte Stirn, dann gleichsam durch sie ins
Leere, und
in seinen Ohren rauschte es wie von fernen Wellen, die über versunkene
Welten
rannen.
Plötzlich
sah er es aus
Adelens Augen hervorbrechen wie einen Schimmer von Angst; er wußte, daß
er
totenblaß mit furchtbarem Blick ihr gegenüberstand, und er sagte, sich
selbst
unvermutet, hart und klanglos: »Das geht nicht, Adele, du irrst dich,
du darfst
nicht.«
Daß
er endlich Worte
gefunden, beruhigte sie offenbar. Sie
lächelte wieder in ihrer verbindlichen Art und erklärte ihm, daß nicht
sie es
sei, die sich irrte, sondern er. Sie dürfe nämlich, sie dürfe alles,
was sie
wolle. Sie sei ja gar nicht mit
ihm verlobt gewesen, sondern als freie Menschen seien sie voneinander
geschieden, ohne jede Verpflichtung, sie wie er.
Und
da sie ihn nicht mehr
liebe, sondern jenen andern, so sei die Sache eben erledigt. Er müsse
das einsehen und sich fügen; sonst bedaure sie wirklich, daß
sie dem väterlichen Rat von heute Morgen nicht gefolgt und für Alfred
einfach
nicht mehr zu Hause gewesen sei. Und sie saß ihm gegenüber, die
schlanken Hände
über dem Knie verschlungen, mit hellen, fernen Augen.
Alfred
fühlte, daß er
seiner ganzen Beherrschung bedurfte, um nicht etwas Lächerliches oder
Gräßliches zu vollbringen. Was er eigentlich
wollte, war ihm nicht klar. Ihr an den Hals
fahren und sie würgen, oder sich auf den Boden hinwerfen und jammern
wie ein
Kind? Aber was half es darüber nachzudenken.
Er hatte ja keine Wahl, er lag ja schon da wie gefällt und hatte eben
noch die
Geistesgegenwart, die Hände Adelens zu fassen, die davoneilen wollte,
und
heiser zu ihr emporzuflehen, daß sie bleibe. Eine Viertelstunde nur!
Ihn
anhören! Das könnte er doch von ihr verlangen nach all dem, was früher
zwischen
ihnen gewesen. Er müsse ihr ja so viel erzählen, mehr als sie ahnen
könne, und
sie sei verpflichtet, es anzuhören. Denn wenn sie alles wisse, dann
würde sie
auch wissen, daß er ihr zu eigen gehöre und sie ihm allein.
Wissen,
daß sie keinem
andern gehören dürfe, daß er sie sich errungen in Schuld und Qualen,
daß vor
seinen ungeheuren Rechten alle andern in den Staub sänken, tief in den
Staub,
daß sie an ihn geschmiedet sei, unauflöslich, für ewige Zeiten, so wie
er an
sie. Und auf den Knien vor ihr, ihre Hände in den seinen krampfend,
seine
Blicke in den ihren, ließ er seine Worte fliegen, breitete den ganzen
Inhalt
des vergangenen Jahres vor ihr aus, erzählte, wie er vor ihr eine
andere
geliebt, wie er mit jener andern, die krank gewesen und niemand auf
Erden hatte
als ihn, fortgereist war, wie er in Qualen der Sehnsucht sich verzehrt,
wie
aber die andere hilflos und klammernd an ihm gehangen; wie er am Ende
seiner
Pein, aus Liebe zu ihr, zu ihr, deren Hände er in den seinen
halte, aus einer Liebe, wie die Erde sie noch nie gesehen – wie er jene
andere,
die ohne ihn nicht hätte leben wollen und können, aus der Welt
geschafft,
mitleidig-tückisch vergiftet habe; wie unter fernen Meereswogen nun das
arme
Geschöpf schlummerte – das Opfer für eine Seligkeit, die ja nun auch
ohnegleichen sein werde, wie der Preis, um den sie errungen ward.
Adele
hatte ihm ihre Hände
gelassen, auch ihren Blick hatte sie aus dem seinen nicht
emporgetaucht. Sie hörte an, was er erzählte, und er wußte nicht recht,
wie: ob als ein
Märchen von fernen fremden Wesen oder als einen Zeitungsbericht von
Menschen,
die sie nichts angingen. Vielleicht glaubte sie ihm nicht einmal, was
er ihr
erzählte.
Aber
jedenfalls war es ihr
gleich, ob Wahrheit von seinen Lippen kam oder Lüge. Er fühlte seine
Ohnmacht mehr und mehr. Er sah alle seine Worte leer
und kühl an ihr herunterrinnen; und am Ende, da er sein Schicksal von
ihren
Lippen lesen wollte, das er doch schon kannte, schüttelte sie nur den
Kopf. Er
sah sie an angstvoll, wissend und doch ungläubig, mit einer irren Frage
in den
flackernden Augen.
»Nein,«
sagte sie starr, »es ist aus.«
Und
er wußte, daß es mit
diesem Nein für immer zu Ende war.
Völlig
unbewegt blieben
Adelens Mienen. Nicht die leiseste Erinnerung
entschwundener Zärtlichkeit, nicht einmal Grauen war in ihnen, nur ein
vernichtender Ausdruck von Gleichgültigkeit und Langeweile.
Alfred
neigte das Haupt,
leer lächelnd wie zum Einverständnis, ergriff ihre Hände nicht mehr,
die sie
entfremdet hängen ließ, wandte sich und ging. Die Tür hinter ihm blieb
offen, und er fühlte einen kalten Hauch im
Nacken. Als er die Treppe hinunterging, wußte er, daß ihm nichts zu tun
übrig
blieb, als ein Ende zu machen. So über alle Zweifel war das
entschieden, daß er
gemächlich schlendernd durch den schmeichelnden Frühlingstag nach Hause
spazierte, wie zum ersehnten Schlummer nach einer wüsten Nacht.
In
seinem Zimmer aber erwartete ihn
jemand. Es war der Baron. Ohne Alfreds
dargebotene Hand zu nehmen, erklärte er, nur eine kurze Aussprache mit
ihm zu
wünschen, und auf ein kurzes höfliches Nicken Alfreds fuhr er fort: »Es
ist mir
ein Bedürfnis, Ihnen mitzuteilen, daß ich Sie für einen Schurken halte.
« Gut
so, dachte Alfred,
auch gegen diesen Abschluß ist nichts zu sagen; und er entgegnete
ruhig: »Ich
stehe Ihnen zur Verfügung. Morgen früh,
wenn's gefällig ist.«
Der
Baron schüttelte kurz
den Kopf. Es zeigte sich, daß er alles, offenbar
schon von der Reise aus, wohl vorbereitet hatte. Zwei junge Herren von
der
deutschen Botschaft harrten nur seiner weiteren Aufträge; und er sprach
die
Erwartung aus, daß sein Gegner, der ja hier zu Hause sei, es leicht
ermöglichen
werde, die Sache noch vor Abend in Ordnung zu bringen. Alfred glaubte,
es
versprechen zu dürfen.
Einen
Augenblick kam ihm
der Einfall, dem Baron die ganze Wahrheit zu gestehen; aber bei dem
ungeheuren Haß,
der ihn von dieser kalten Stirne anstrahlte, mußte er fürchten, daß
jener, der
die Wahrheit vielleicht ahnen mochte, ihn dann den Gerichten
überliefern würde;
und so zog er es vor, zu schweigen.
Alfred
fand die Herren,
deren er bedurfte, ohne Mühe. Der eine war
Adelens Verlobter, der andere ein junger Offizier, mit dem er in
früherer Zeit
manchen lustigen Tag genossen. Vor Sonnenuntergang in den Auen nächst
der
Donau, an einem für solche Zusammenkünfte gern gewählten Platz, stand
er dem
Baron gegenüber.
Eine
Ruhe, die er nach den Wirren der
abgelaufenen Tage wie ein Glück empfand, empfing ihn. Als er den Lauf
der Pistole auf sich gerichtet
sah, während dreier Sekunden, die, von einer fernen Stimme abgezählt,
gleich
drei kalten Tropfen vom Abendhimmel auf den klingenden Boden fielen,
dachte er
einer unsäglich Geliebten, über deren verwesenden Leib die Wogen des
Meeres
rannen.
Und
als er auf dem Boden
lag und etwas Dunkles über ihn sich beugte, ihn umschloß, ihn nicht
mehr lassen
wollte, fühlte er selig, daß er, ein Entsühnter, für sie, zu ihr ins
Nichts
entschwand, nach dem er sich lange gesehnt hatte.
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