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Literatur


04.3




Arthur Schnitzler

Der Mörder - Eine Novelle

Der Mörder - Seite 6

Es hielt ihn nicht länger im Hotel, die kurze Zeit bis zum Abgang des Zuges lief er in der Stadt umher, mit überoffenen Lidern, aber ohne Menschen und Dinge zu sehen. Mittags fuhr er von Hamburg ab, starrte durch die Scheiben stunden- und stundenlang auf die fliehende Landschaft; alles, was von Gedanken, Hoffnungen und Befürchtungen in ihm sich regen wollte, mit der ganzen wohlgeübten Anspannung seines Willens niederzwingend; und wenn er, um den Mitreisenden nicht allzu auffällig zu werden, ein Buch oder eine Zeitung vornahm, so zählte er, ohne zu lesen, einmal übers andere bis hundert, fünfhundert, tausend.
 
Als es Nacht wurde, durchbrach die zehrende Sehnsucht alle seine Bemühungen, sich gefaßt zu halten. Er schalt sich närrisch, das Ausbleiben der Nachrichten und den Ton der letzten Depesche mißdeutet zu haben, und wußte keinen andern Vorwurf gegen Adele, als daß sie sich redlicher an die Abmachung gehalten als er.
 
Aber sollte sie etwa auf irgend eine Weise doch erfahren haben, daß er mit einer Frau gereist war, so fühlte er sich in seiner Liebe stark genug, gegen alle Eifersucht und Erbitterung die Beleidigte wieder zurückzugewinnen.
 
Und so sehr hatte er sich zum Herrn über seine wachen Träume gesetzt, daß er in dieser endlosen Nacht die Melodie ihrer Stimme zu hören, die Umrisse ihrer Gestalt und ihre Züge zu sehen, ja, daß er ihren Kuß zu fühlen vermochte, so versengend süß, wie er ihm in Wirklichkeit von ihren Lippen niemals beschieden gewesen.
 
Er war daheim. Mit freundlichem Behagen empfing ihn seine Wohnung. Das sorglich bereitete Frühstück mundete ihm trefflich, und zum erstenmal wieder seit vielen Tagen, so wollte ihm scheinen, dachte er in völliger Ruhe jener andern, die, von irdischem Gram für alle Zeit erlöst, im schweigenden Meere schlummerte.
 
In irgendeinem Augenblicke war ihm, als könnte jene Stundenfolge von der Landung in Neapel an bis zu Elisens Tod wohl auch eine Einbildung seiner zerrütteten Nerven sein, und der schlimme Ausgang wäre, wie ja die Ärzte vorausgesehen, ja prophezeit hatten, nur im gesetzmäßigen Verlaufe der Krankheit geschehen. Ja, der Mann, der in einer sonnbeglänzten fremden Stadt tückisch von Arzt zu Arzt, von Apotheker zu Apotheker geeilt und mit grausamem Vorbedacht das tödliche Gift vorbereitet hatte, der Mann, der die Geliebte, die er ins Jenseits senden wollte, noch eine Stunde vorher zu frevler Wonne in die Arme geschlossen, schien ihm ein völlig anderer als der, der hier zwischen traulichen Wänden in einer unveränderten, bürgerlich behaglichen Umgebung seinen Tee trank; schien ihm einer, der viel mehr war als er, einer, zu dem er selbst mit schaudernder Bewunderung emporschauen müßte.
 
Doch als ihm später, da er aus dem Bade stieg, der Spiegel sein schlankes, nacktes Bild zurückwarf und er sich plötzlich bewußt ward, daß er es doch selber war, der das Unbegreifliche getan, da sah er seine Augen in hartem Glanze leuchten, fühlte sich würdiger als je, die wartende Braut an sein Herz zu schließen und, höhnische Überlegenheit auf den Lippen, ihrer Liebe so sicher wie nie zuvor.
 
Zur bestimmten Stunde trat er in den gelben Salon, den er vor einem Jahre fast am gleichen Tage zum letztenmal verlassen hatte, und in der nächsten Minute stand Adele vor ihm, unbefangen, als hätte sie am Tag vorher Abschied von ihm genommen, reichte ihm die Hand und überließ sie ihm zu einem langen Kuß. Was hält mich ab, sie zu umarmen? fragte er sich.
 
Da hörte er sie schon reden mit der dunklen Stimme, die er ja heute Nacht erst im Traum vernommen, und es ward ihm bewußt, daß er selbst noch kein Wort gesprochen, daß er nur ihren Namen geflüstert hatte, als sie vor ihn hingetreten war.
 
Er möge ihr nicht übelnehmen, begann sie, daß sie ihm auf seine schönen Briefe nicht geantwortet hätte; aber es sei nun einmal so, daß gewisse Angelegenheiten sich Aug' in Aug' besser und einfacher erledigen ließen als schriftlich. Ihr Schweigen müsse ihn ja jedenfalls vorbereitet haben, daß sich mancherlei geändert hätte, und der kühle Ton ihrer Depesche wäre, wie sie sofort gestehen wolle, durchaus beabsichtigt gewesen.
 
Seit ungefähr einem halben Jahre sei sie nämlich mit einem andern verlobt. Und sie nannte einen Namen, den Alfred kannte. Es war der eines seiner vielen guten Freunde aus alter Zeit, dessen er im Laufe dieses Jahres so wenig gedacht hatte, wie beinah aller Menschen, denen er früher begegnet war.
 
Er hörte Adele ruhig an, starrte gebannt auf ihre glatte Stirn, dann gleichsam durch sie ins Leere, und in seinen Ohren rauschte es wie von fernen Wellen, die über versunkene Welten rannen.
 
Plötzlich sah er es aus Adelens Augen hervorbrechen wie einen Schimmer von Angst; er wußte, daß er totenblaß mit furchtbarem Blick ihr gegenüberstand, und er sagte, sich selbst unvermutet, hart und klanglos: »Das geht nicht, Adele, du irrst dich, du darfst nicht.«
 
Daß er endlich Worte gefunden, beruhigte sie offenbar. Sie lächelte wieder in ihrer verbindlichen Art und erklärte ihm, daß nicht sie es sei, die sich irrte, sondern er. Sie dürfe nämlich, sie dürfe alles, was sie wolle. Sie sei ja gar nicht mit ihm verlobt gewesen, sondern als freie Menschen seien sie voneinander geschieden, ohne jede Verpflichtung, sie wie er.

Und da sie ihn nicht mehr liebe, sondern jenen andern, so sei die Sache eben erledigt. Er müsse das einsehen und sich fügen; sonst bedaure sie wirklich, daß sie dem väterlichen Rat von heute Morgen nicht gefolgt und für Alfred einfach nicht mehr zu Hause gewesen sei. Und sie saß ihm gegenüber, die schlanken Hände über dem Knie verschlungen, mit hellen, fernen Augen.
 
Alfred fühlte, daß er seiner ganzen Beherrschung bedurfte, um nicht etwas Lächerliches oder Gräßliches zu vollbringen. Was er eigentlich wollte, war ihm nicht klar. Ihr an den Hals fahren und sie würgen, oder sich auf den Boden hinwerfen und jammern wie ein Kind? Aber was half es darüber nachzudenken. Er hatte ja keine Wahl, er lag ja schon da wie gefällt und hatte eben noch die Geistesgegenwart, die Hände Adelens zu fassen, die davoneilen wollte, und heiser zu ihr emporzuflehen, daß sie bleibe. Eine Viertelstunde nur! Ihn anhören! Das könnte er doch von ihr verlangen nach all dem, was früher zwischen ihnen gewesen. Er müsse ihr ja so viel erzählen, mehr als sie ahnen könne, und sie sei verpflichtet, es anzuhören. Denn wenn sie alles wisse, dann würde sie auch wissen, daß er ihr zu eigen gehöre und sie ihm allein.
 
Wissen, daß sie keinem andern gehören dürfe, daß er sie sich errungen in Schuld und Qualen, daß vor seinen ungeheuren Rechten alle andern in den Staub sänken, tief in den Staub, daß sie an ihn geschmiedet sei, unauflöslich, für ewige Zeiten, so wie er an sie. Und auf den Knien vor ihr, ihre Hände in den seinen krampfend, seine Blicke in den ihren, ließ er seine Worte fliegen, breitete den ganzen Inhalt des vergangenen Jahres vor ihr aus, erzählte, wie er vor ihr eine andere geliebt, wie er mit jener andern, die krank gewesen und niemand auf Erden hatte als ihn, fortgereist war, wie er in Qualen der Sehnsucht sich verzehrt, wie aber die andere hilflos und klammernd an ihm gehangen; wie er am Ende seiner Pein, aus Liebe zu ihr, zu ihr, deren Hände er in den seinen halte, aus einer Liebe, wie die Erde sie noch nie gesehen – wie er jene andere, die ohne ihn nicht hätte leben wollen und können, aus der Welt geschafft, mitleidig-tückisch vergiftet habe; wie unter fernen Meereswogen nun das arme Geschöpf schlummerte – das Opfer für eine Seligkeit, die ja nun auch ohnegleichen sein werde, wie der Preis, um den sie errungen ward.
 
Adele hatte ihm ihre Hände gelassen, auch ihren Blick hatte sie aus dem seinen nicht emporgetaucht. Sie hörte an, was er erzählte, und er wußte nicht recht, wie: ob als ein Märchen von fernen fremden Wesen oder als einen Zeitungsbericht von Menschen, die sie nichts angingen. Vielleicht glaubte sie ihm nicht einmal, was er ihr erzählte.
 
Aber jedenfalls war es ihr gleich, ob Wahrheit von seinen Lippen kam oder Lüge. Er fühlte seine Ohnmacht mehr und mehr. Er sah alle seine Worte leer und kühl an ihr herunterrinnen; und am Ende, da er sein Schicksal von ihren Lippen lesen wollte, das er doch schon kannte, schüttelte sie nur den Kopf. Er sah sie an angstvoll, wissend und doch ungläubig, mit einer irren Frage in den flackernden Augen.
 
»Nein,« sagte sie starr, »es ist aus.«
 
Und er wußte, daß es mit diesem Nein für immer zu Ende war.
 
Völlig unbewegt blieben Adelens Mienen. Nicht die leiseste Erinnerung entschwundener Zärtlichkeit, nicht einmal Grauen war in ihnen, nur ein vernichtender Ausdruck von Gleichgültigkeit und Langeweile.
 
Alfred neigte das Haupt, leer lächelnd wie zum Einverständnis, ergriff ihre Hände nicht mehr, die sie entfremdet hängen ließ, wandte sich und ging. Die Tür hinter ihm blieb offen, und er fühlte einen kalten Hauch im Nacken. Als er die Treppe hinunterging, wußte er, daß ihm nichts zu tun übrig blieb, als ein Ende zu machen. So über alle Zweifel war das entschieden, daß er gemächlich schlendernd durch den schmeichelnden Frühlingstag nach Hause spazierte, wie zum ersehnten Schlummer nach einer wüsten Nacht.
 
In seinem Zimmer aber erwartete ihn jemand. Es war der Baron. Ohne Alfreds dargebotene Hand zu nehmen, erklärte er, nur eine kurze Aussprache mit ihm zu wünschen, und auf ein kurzes höfliches Nicken Alfreds fuhr er fort: »Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen mitzuteilen, daß ich Sie für einen Schurken halte.
 
« Gut so, dachte Alfred, auch gegen diesen Abschluß ist nichts zu sagen; und er entgegnete ruhig: »Ich stehe Ihnen zur Verfügung. Morgen früh, wenn's gefällig ist.«
 
Der Baron schüttelte kurz den Kopf. Es zeigte sich, daß er alles, offenbar schon von der Reise aus, wohl vorbereitet hatte. Zwei junge Herren von der deutschen Botschaft harrten nur seiner weiteren Aufträge; und er sprach die Erwartung aus, daß sein Gegner, der ja hier zu Hause sei, es leicht ermöglichen werde, die Sache noch vor Abend in Ordnung zu bringen. Alfred glaubte, es versprechen zu dürfen.
 
Einen Augenblick kam ihm der Einfall, dem Baron die ganze Wahrheit zu gestehen; aber bei dem ungeheuren Haß, der ihn von dieser kalten Stirne anstrahlte, mußte er fürchten, daß jener, der die Wahrheit vielleicht ahnen mochte, ihn dann den Gerichten überliefern würde; und so zog er es vor, zu schweigen.

Alfred fand die Herren, deren er bedurfte, ohne Mühe. Der eine war Adelens Verlobter, der andere ein junger Offizier, mit dem er in früherer Zeit manchen lustigen Tag genossen. Vor Sonnenuntergang in den Auen nächst der Donau, an einem für solche Zusammenkünfte gern gewählten Platz, stand er dem Baron gegenüber.

Eine Ruhe, die er nach den Wirren der abgelaufenen Tage wie ein Glück empfand, empfing ihn. Als er den Lauf der Pistole auf sich gerichtet sah, während dreier Sekunden, die, von einer fernen Stimme abgezählt, gleich drei kalten Tropfen vom Abendhimmel auf den klingenden Boden fielen, dachte er einer unsäglich Geliebten, über deren verwesenden Leib die Wogen des Meeres rannen.

Und als er auf dem Boden lag und etwas Dunkles über ihn sich beugte, ihn umschloß, ihn nicht mehr lassen wollte, fühlte er selig, daß er, ein Entsühnter, für sie, zu ihr ins Nichts entschwand, nach dem er sich lange gesehnt hatte.

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