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Literatur


04.3


Drei Kurzgeschichten 

Rabindranath Tagore






Die Hungrigen Steine -Seite 2

(Indien, New York 1916)

Diese Ereignisse hatten einen starken Mißklang zwischen meinen Tagen und Nächten zur Folge. Tagsüber ging ich ausgelaugt und müde zur Arbeit und verfluchte die verzaubernde Nacht mit ihren leeren Träumen, aber wenn es dunkel wurde, erschien mir mein Alltag mit seinen Bindungen und Arbeitsverpflichtungen als unbedeutende, unechte, lächerliche Einbildung.
 
Nach Sonnenuntergang dann wurde ich vom Garn einer fremdartigen Betäubung gefangen
und überwältigt, ich veränderte mich in irgendeine unbekannte Person aus längst vergangener Zeit und spielte meinen Part in ungeschriebener Geschichte; mein kurzer englischer Mantel und die engen Kniehosen passten überhaupt nicht mehr zu mir.  Mit einer roten Samtmütze auf dem Kopf, lockeren Pluderhosen, einer bestickten Weste, einer langen fließenden Seidenrobe und farbigen, nach attar duftenden Taschentüchern, vervollständigte ich meine ausgeklügelte Garderobe, saß auf einem Stuhl mit dicken Kissen und ersetzte meine Zigarette durch eine Wasserpfeife mit verwickeltem Schlauch und gefüllt mit Rosenwasser, wie jemand in ungezügelter Erwartung auf ein weiteres Treffen mit der Geliebten.
 
Mir fehlt die Kraft, die wunderbaren Ereignisse zu beschreiben, die sich entwickelten, als sich die Düsternis der Nacht vertiefte. Ich hatte ein Gefühl, als ob in den bemerkenswerten Räumen dieses weiten Gebäudes die Fragmente einer wunderschönen Geschichte von einem plötzlichen frühlingshaften Windstoß aufgewirbelt wurden, einer Geschichte, der ich über eine gewisse Distanz folgen, aber nie das Ende sehen konnte. Und immer wieder wanderte ich die ganze Nacht von Zimmer zu Zimmer, um sie zu erfahren.
 
Mitten im Strudel dieser Traumfragmente, in den Hennagerüchen und Gitarrenklängen, mitten in Wellen von parfumgeladener Luft würde ich dann blitzartig einen kurzen Blick auf ein schönes Mädchen erhaschen. Sie war es, sie mit den safrangefärbten Pluderhosen, weißrot weichen Füßen in goldbestickten Pantoffeln mit gebogener Spitze, mit enganliegendem, goldgewirktem Leibchen und einer roten Kappe, von der goldene Kräusel auf ihre schneeweißen Brauen und Wangen fielen.
 
Sie hatte mich verrückt gemacht. Auf der Suche nach ihr wanderte ich von Raum zu Raum, vom einen zum nächsten Pfad in diesem verwirrenden Labyrinth von Gassen im verzauberten Traumland der Schlaf-Unterwelt.
 
Manchmal, wenn ich mich abends sorgfältig als Prinz von königlichem Blut zwischen den zwei Kerzen vor dem Spiegel zurechtmachte, sah ich eine plötzliche Reflexion der persischen Schönheit an meiner Seite stehen. Eine schnelle Drehung des Halses, ein kurzer sehnlicher Blick voll intensiver Leidenschaft und Schmerz, der in ihren großen dunklen Augen glühte, nur der Hauch des Sprechens auf ihren feinen roten Lippen, ihre schöne und schlanke Figur, gekrönt mit Jugend wie eine blühende Schlingpflanze, sich schnell erhebend in ihrem anmutigen geneigten Gang, der blitzartige Eindruck von Schmerz, Verlangen und Ekstase, ein Lächeln, ein Blick und ein Funkeln von Juwelen und Seide, und sie war wieder verschwunden. Ein wilder Windstoß, beladen mit allen Düften der Hügel und Wälder, löschte dann das Licht und ich warf meine Bekleidung beiseite, legte mich auf mein Bett, die Augen geschlossen und den Körper freudig gespannt. Um mich herum, mitten in all den Düften der Hügel und Wälder, schwebten sodann in der stillen Düsternis manche Liebkosung und nicht wenige Küsse und viele zärtliche Berührungen und sanftes Murmeln in meinen Ohren und wohlriechender Atem auf meinen Brauen; manchmal wurde auch süß parfumiertes Taschentuch wieder und wieder an meine Backen geweht. Zuletzt wand eine geheimnisvolle Schlange ihre betäubenden Fänge um mich; und mit schwerem Seufzer fiel ich in Gefühllosigkeit und tiefen Schlummer.
 
Eines Abends entschied ich mich auszureiten – irgendetwas flehte mich an, zu bleiben, aber an jenem Tag hörte ich nicht darauf. Mein englischer Hut und Mantel lagen auf dem Regal und ich wollte sie gerade herunternehmen, als ein plötzlicher Wirbelsturm, beladen mit dem Sand des Susta und den toten Blättern der Avalli-Hügel, sie packte und immer wieder herumwirbelte, während gleichzeitig der helle Klang amüsierten Lachens höher und höher stieg und alle Akkorde der Fröhlichkeit anschlug, bis es im Land der untergehenden Sonne erstarb.
 
Ich konnte mich nicht mehr zum Ritt aufmachen, und am nächsten Tag gab ich meinen wunderlichen englischen Mantel und Hut endgültig auf.
 
An demselben Tag um Mitternacht hörte ich jemandes ersticktes, herzzerreißendes Schluchzen – als ob eine Stimme unter dem Bett, unter dem Fußboden, unter dem steinernen Fundament dieses gigantischen Palastes, aus den Tiefen eines dunklen, feuchten Grabes erbärmlich weinte und mich anflehte: ‘Oh, rette mich! Brich durch die Türen harter Illusion, todähnlichen Schlafes und fruchtloser Träume, setze mich auf Deinen Sattel, drück mich an Dein Herz und nimm mich mit auf den Ritt durch Hügel und Wälder und über den Fluss in die Wärme Deiner sonnigen Räume da oben!
 
Wer bin ich? Oh, wie kann ich Dich retten? Welch ertrinkende Schönheit, welch fleischgewordene Leidenschaft muss ich aus diesem wilden Strudel aus Träumen an Land ziehen? O, liebevolle ätherische Erscheinung! Wo bist Du aufgeblüht und wann? Aus welcher kühlen Quelle, im Schatten welcher Dattelpalmen wurdest Du geboren – im Schoß welchen heimatlosen Wanderers in der Wüste? Welcher Beduine schnappte Dich, eine sich öffnende Wildblumenknospe, aus den Armen Deiner Mutter, setzte Dich auf ein Pferd, schnell wie der Blitz, durchquerte glühenden Sand und brachte Dich zum Sklavenmarkt welcher königlichen Stadt? Und dort, welcher Beamte des Padishah sah den Ruhm Deiner schüchternen, aufblühenden Jugend und zahlte für Dich in Gold, setzte Dich auf eine goldene Sänfte, und offerierte Dich als Geschenk für das Serail des Königs? Und o, die Geschichte des Ortes! Die Musik der sareng, das Klingeln der Fußreifen, das gelegentliche Aufblitzen der Messer, der glühende shiraz -Wein und der durchdringende, blitzende Blick! Welch unendliche Grandeur, welch endloses Sklavenleben!
 
Die Dienstmädchen zu Deiner Rechten und Linken wedelten mit dem chamar, von ihren Armreifen blitzten Diamanten; der Padishah, König der Könige, fiel vor Deinen schneeweißen Füßen in den juwelenbesetzten Schuhen auf die Knie, und draußen stand der schreckliche abessinische Eunuch, wie der Botschafter des Todes aussehend, aber wie ein Engel gekleidet, mit einem blanken Schwert in der Hand! Dann, o Wüstenblume, wurdest Du von diesem blutbefleckten schillernden Ozean der Grandeur, mit Schaum voll Neid und Felsen und Untiefen voll Intrige, fortgetragen wohin, an welche Küste des grausamen Todes geworfen, oder welches andere noch prächtigere, noch grausamere Land?
 
In diesem Moment schrie dieser verrückte Meher Ali plötzlich: ‘Zurück-treten! Zurücktreten! Alles ist falsch! Alles ist falsch!!’ Ich öffnete meine Augen und sah, dass es schon hell war. Mein chaprasi kam und reichte mir meine Briefe, und der Koch wartete mit einem salam auf meine Befehle.
 
Ich sagte: ‘Nein, hier kann ich nicht länger bleiben.’ An demselben Tag packte ich zusammen, und zog in mein Büro um. Der alte Karim Khan lächelte ein wenig, als er mich sah. Ich ärgerte mich, sagte aber nichts und stürzte mich in die Arbeit.
 
Als der Abend kam, fühlte ich mich immer abwesender; es war, als müßte ich eine Verabredung einhalten; die Prüfung der Baumwollkonten erschien völlig nutzlos; sogar das Nizamat des Nizams schien nicht mehr viel wert.
 
Was auch immer zur Gegenwart gehörte, was sich bewegte, handelte und für Brot arbeitete, sah nur noch trivial, bedeutungslos und verachtenswert aus.
 
Ich warf meinen Stift hin, schloß meine Schubladen ab, stieg in meinen Karren und fuhr weg. Ich bemerkte, dass er von selbst bei Sonnenuntergang am Tor des Marmorpalastes anhielt. Mit schnellen Schritten stieg ich die Treppen hinauf und trat in die Halle.
 
Innen regierte schwere Stille. Die dunklen Räume sahen mürrisch aus, als ob sie beleidigt wären. Mein Herz war voller Reue, aber da war niemand, dem ich es öffnen konnte oder den ich um Vergebung bitten konnte. Mit leerem Kopf wanderte ich in den dunklen Zimmern herum. Ich wünschte, ich hätte eine Gitarre, zu deren Begleitung ich zu der Unbekannten singen könnte: ‘O Feuer, die arme Motte, die sich vergeblich bemühte wegzufliegen, ist zu Dir zurückgekommen! Vergib ihr nur dieses eine Mal, versenge ihre Flügel und verbrenne sie in Deiner Flamme!’
 
Auf einmal fielen zwei Tränen von oben auf meine Augenbraue. Dunkle Wolkenmassen bedeckten die Gipfel der Avalli-Hügel an diesem Tag. Die düsteren Wälder und die rußigen Wasser des Susta warteten in schrecklicher Spannung und ominöser Ruhe. Plötzlich ging ein Schauder durch Land, Wasser und Himmel, und ein wilder, stürmischer Windstoß fuhr heulend durch das entfernte, unwegsame Holz und zeigte seine Blitz-Zähne wie ein Wahnsinniger, der seine Fesseln abgeworfen hatte. Die desolate Halle des Palastes schlug mit ihren Türen und stöhnte in der Bitterkeit ihrer Qual.
 
Die Diener waren alle im Büro und niemand war da, um die Lampen anzuzünden. Bewölkt und mondlos war die Nacht. Drinnen, in dichter Düsternis, konnte ich deutlich fühlen, dass eine Frau mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich unter dem Bett lag – mit verzweifelten Fingern klammerte und riß sie an ihrem langen wirren Haar. Blut tröpfelte an ihrer schönen Augenbraue herunter und erst lachte sie hart, rauh und freudlos, dann brach sie in schweres, heftiges Schluchzen aus, zerriß ihr Leibchen und schlug sich auf die blanken Brüste, während der Wind durchs offene Fenster stürmte und der Regen in Strömen fiel und sie völlig durchnäßte.
 
Die ganze Nacht ließ weder der Sturm, noch das leidenschaftliche Weinen nach. In vergeblichem Kummer wanderte ich im Dunkeln von Zimmer zu Zimmer. Wen konnte ich trösten, wenn doch niemand da war? Zu wem gehörte dieser qualvolle Schmerz? Wie kam es zu diesem untröstbaren Leid?
 
Und der Verrückte rief: ‘Zurücktreten! Zurücktreten! Alles ist falsch! Alles ist falsch!!’
 
Ich sah, dass der Tag heranbrach, und dass Meher Ali in diesem schrecklichen Wetter den Palast mit seinem üblichen Schrei umkreiste. Es kam mir plötzlich in den Sinn, dass er vielleicht einmal genauso in diesem Haus gelebt hatte und er, obwohl er verrückt geworden war, jeden Tag herkam und herumging, eingefangen vom unheimlichen Zauber des Marmordämons.
 
Trotz Sturm und Regen lief ich zu ihm hin und fragte ihn: ‘Ho, Meher Ali, was ist falsch?’
 
Der Mann antwortete nicht, sondern drückte mich beiseite und ging weiter herum mit seinem wahnsinnigen Rufen, wie ein Vogel fasziniert von den Kiefern einer Schlange, und bemühte sich verzweifelt, sich selbst zu warnen ‘Zurücktreten! Zurücktreten! Alles ist falsch! Alles ist falsch!!’ Und immer wieder und wieder. . .
 
Wie ein Wahnsinniger rannte ich durch den prasselnden Regen in mein Büro und bat Karim Khan: ‘Sag mir, was das alles bedeuten soll!’
 
Was ich von diesem alten Mann erfuhr: dass einmal zahllose unerwiderte Leidenschaften und unbefriedigte Sehnsüchte und grelle Flammen wild lodernder Lust in jenem Palast tobten, und dass der Fluch all diesen Kummers und zerstörter Hoffnung jeden einzelnen Stein hungrig und durstig gemacht hatte, gierig darauf, jeden Lebenden, der zufällig in die Nahe kam, wie eine  verhungerte Menschenfresserin zu verschlingen. Keiner, der dort drei Nächte hintereinander verbrachte, konnte diesen grausamen Fängen entfliehen, außer Meher Ali, der auf Kosten seiner geistigen Gesundheit davonkam.
 
Ich fragte: ‘Gibt es wirklich keine Möglichkeit, mich zu befreien?’ Der alte Mann sagte: ‘Es gibt nur einen Weg, und der ist höchst schwierig. Ich werde Dir sagen, was es ist, aber zuerst solltest Du die Geschichte eines jungen persischen Mädchens hören, das einmal in diesem Freudenhaus lebte. Eine seltsamere oder bitter herzzerreißendere Geschichte hat auf dieser Erde niemals stattgefunden.’
 
Genau in diesem Moment kündigten die Kulis den kommenden Zug an. So früh? Wir packten eilig unsere Sachen, als der Zug schon hereindampfte. Ein englischer Gentleman, anscheinend gerade aus dem Schlummer gerissen, blickte aus einem Erste-Klasse-Wagen und versuchte, den Namen der Station zu entziffern. Sowie er unseren Mitreisenden entdeckte, rief er: “Hallo!“, und nahm ihn in sein Abteil. Da wir in einen Zweite-Klasse-Wagen gelangten,hatten wir keine Chance mehr herauszufinden, wer dieser Mann war, oder, wie die Geschichte zu Ende ging.
 
Ich meinte: “Der hielt uns offensichtlich für Dummkopfe und hat uns an der Nase herumgeführt.¨ Die Geschichte ist von vorn bis hinten erfunden.“
 
Die darauffolgende Diskussion endete in einem lebenslangen Bruch zwischen meinem theosophischen Freund und mir.







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