Diese
Ereignisse hatten
einen starken Mißklang zwischen meinen Tagen und Nächten zur Folge.
Tagsüber
ging ich ausgelaugt und müde zur Arbeit und verfluchte die verzaubernde
Nacht
mit ihren leeren Träumen, aber wenn es dunkel wurde, erschien mir mein
Alltag
mit seinen Bindungen und Arbeitsverpflichtungen als unbedeutende,
unechte, lächerliche
Einbildung.
Nach
Sonnenuntergang dann
wurde ich vom Garn einer fremdartigen Betäubung gefangen
und
überwältigt, ich
veränderte mich in irgendeine unbekannte Person aus längst vergangener
Zeit und
spielte meinen Part in ungeschriebener Geschichte; mein kurzer
englischer
Mantel und die engen Kniehosen passten überhaupt nicht mehr zu
mir. Mit einer roten Samtmütze auf dem Kopf,
lockeren Pluderhosen, einer bestickten Weste, einer langen fließenden
Seidenrobe
und farbigen, nach attar duftenden Taschentüchern, vervollständigte ich
meine
ausgeklügelte Garderobe, saß auf einem Stuhl mit dicken Kissen und
ersetzte
meine Zigarette durch eine Wasserpfeife mit verwickeltem Schlauch und
gefüllt
mit Rosenwasser, wie jemand in ungezügelter Erwartung auf ein weiteres
Treffen mit der Geliebten.
Mir
fehlt die Kraft, die
wunderbaren Ereignisse zu beschreiben, die sich entwickelten, als sich
die Düsternis
der Nacht vertiefte. Ich hatte ein Gefühl, als ob in den
bemerkenswerten Räumen
dieses weiten Gebäudes die Fragmente einer wunderschönen Geschichte von
einem
plötzlichen frühlingshaften Windstoß aufgewirbelt wurden, einer
Geschichte, der
ich über eine gewisse Distanz folgen, aber nie das Ende sehen konnte.
Und immer
wieder wanderte ich die ganze Nacht von Zimmer zu Zimmer, um sie zu
erfahren.
Mitten
im Strudel dieser Traumfragmente,
in den Hennagerüchen und Gitarrenklängen,
mitten in
Wellen von parfumgeladener Luft würde ich dann blitzartig einen kurzen
Blick
auf ein schönes Mädchen erhaschen. Sie war es, sie mit den
safrangefärbten
Pluderhosen, weißrot weichen Füßen in goldbestickten Pantoffeln mit
gebogener Spitze, mit enganliegendem,
goldgewirktem Leibchen und einer
roten Kappe, von der goldene Kräusel auf ihre schneeweißen Brauen und
Wangen
fielen.
Sie
hatte mich verrückt
gemacht. Auf der Suche nach ihr wanderte ich von Raum zu Raum, vom
einen zum nächsten
Pfad in diesem verwirrenden Labyrinth von Gassen im verzauberten
Traumland
der
Schlaf-Unterwelt.
Manchmal,
wenn ich mich
abends sorgfältig als Prinz von königlichem Blut zwischen den zwei
Kerzen vor
dem Spiegel zurechtmachte, sah ich eine plötzliche Reflexion der
persischen
Schönheit an meiner Seite stehen. Eine schnelle Drehung des Halses, ein
kurzer
sehnlicher Blick voll intensiver Leidenschaft und Schmerz, der in ihren
großen
dunklen Augen glühte, nur der Hauch des Sprechens auf ihren feinen
roten
Lippen, ihre schöne und schlanke Figur, gekrönt mit Jugend wie eine
blühende Schlingpflanze,
sich schnell erhebend in ihrem anmutigen geneigten Gang, der
blitzartige
Eindruck von Schmerz, Verlangen und Ekstase, ein Lächeln, ein Blick und
ein
Funkeln von Juwelen und Seide, und sie war wieder verschwunden. Ein
wilder
Windstoß, beladen mit allen Düften der Hügel und Wälder, löschte dann
das Licht
und ich warf meine Bekleidung beiseite, legte mich auf mein Bett, die
Augen
geschlossen und den Körper freudig gespannt. Um mich herum, mitten in
all den
Düften der Hügel und Wälder,
schwebten sodann in der stillen Düsternis manche Liebkosung und nicht
wenige
Küsse und viele zärtliche Berührungen und sanftes Murmeln in meinen
Ohren und
wohlriechender Atem auf meinen Brauen; manchmal wurde auch süß
parfumiertes
Taschentuch wieder und wieder an meine Backen geweht. Zuletzt wand eine
geheimnisvolle Schlange ihre betäubenden Fänge um mich; und mit
schwerem
Seufzer fiel ich in Gefühllosigkeit und tiefen Schlummer.
Eines
Abends entschied ich
mich auszureiten – irgendetwas flehte mich an, zu bleiben, aber an jenem
Tag
hörte ich nicht darauf. Mein englischer Hut und Mantel lagen auf dem
Regal und
ich wollte sie gerade herunternehmen, als ein plötzlicher Wirbelsturm,
beladen
mit dem Sand des Susta und den toten Blättern der Avalli-Hügel, sie
packte und
immer wieder herumwirbelte, während gleichzeitig der helle Klang
amüsierten
Lachens höher und höher stieg und alle Akkorde der Fröhlichkeit
anschlug, bis
es im Land der untergehenden Sonne erstarb.
Ich
konnte mich nicht mehr
zum Ritt aufmachen, und am nächsten Tag gab ich meinen wunderlichen
englischen
Mantel und Hut endgültig auf.
An
demselben Tag um Mitternacht
hörte ich jemandes ersticktes, herzzerreißendes Schluchzen – als ob
eine Stimme
unter dem Bett, unter dem Fußboden, unter dem steinernen Fundament
dieses
gigantischen Palastes, aus den Tiefen eines dunklen, feuchten Grabes
erbärmlich
weinte und mich anflehte: ‘Oh, rette mich! Brich durch die Türen harter
Illusion, todähnlichen Schlafes und fruchtloser Träume, setze mich auf
Deinen
Sattel, drück mich an Dein Herz und nimm mich mit auf den Ritt durch
Hügel und
Wälder und über den Fluss in die Wärme Deiner sonnigen Räume da oben!
Wer
bin ich? Oh, wie kann
ich Dich retten? Welch ertrinkende Schönheit, welch fleischgewordene
Leidenschaft muss ich aus diesem wilden Strudel aus Träumen an Land
ziehen? O,
liebevolle ätherische Erscheinung! Wo bist Du aufgeblüht und wann? Aus
welcher
kühlen Quelle, im Schatten welcher Dattelpalmen wurdest Du geboren – im
Schoß
welchen heimatlosen Wanderers in der Wüste? Welcher Beduine schnappte
Dich,
eine sich öffnende Wildblumenknospe, aus den Armen Deiner Mutter,
setzte
Dich auf ein Pferd, schnell wie der Blitz, durchquerte glühenden Sand
und
brachte Dich zum Sklavenmarkt welcher königlichen Stadt? Und dort,
welcher
Beamte des Padishah sah den Ruhm Deiner schüchternen, aufblühenden
Jugend und
zahlte für Dich in Gold, setzte Dich auf eine goldene Sänfte, und
offerierte Dich als Geschenk für das Serail des Königs? Und o, die
Geschichte des Ortes! Die
Musik der sareng, das Klingeln der Fußreifen, das gelegentliche
Aufblitzen der
Messer, der glühende shiraz -Wein und der durchdringende, blitzende
Blick!
Welch unendliche Grandeur, welch endloses Sklavenleben!
Die
Dienstmädchen zu Deiner
Rechten und Linken wedelten mit dem chamar, von ihren Armreifen
blitzten
Diamanten; der Padishah, König der Könige, fiel vor Deinen schneeweißen
Füßen in
den juwelenbesetzten Schuhen auf die Knie, und draußen stand der
schreckliche
abessinische Eunuch, wie der Botschafter des Todes aussehend, aber wie
ein
Engel gekleidet, mit einem blanken Schwert in der Hand! Dann, o
Wüstenblume,
wurdest Du von diesem blutbefleckten schillernden Ozean der Grandeur,
mit Schaum
voll Neid und Felsen und Untiefen voll Intrige, fortgetragen wohin, an
welche
Küste des grausamen Todes geworfen, oder welches andere noch
prächtigere, noch grausamere
Land?
In
diesem Moment schrie
dieser verrückte Meher Ali plötzlich: ‘Zurück-treten! Zurücktreten!
Alles ist
falsch! Alles ist falsch!!’ Ich öffnete meine Augen und sah, dass es
schon hell war. Mein chaprasi kam und reichte mir meine Briefe, und
der Koch wartete mit einem salam auf meine Befehle.
Ich
sagte: ‘Nein, hier kann
ich nicht länger bleiben.’ An demselben Tag packte ich zusammen, und
zog in
mein Büro um. Der alte Karim Khan lächelte ein wenig, als er mich sah.
Ich ärgerte
mich, sagte aber nichts und stürzte mich in die Arbeit.
Als
der Abend kam, fühlte
ich mich immer abwesender; es war, als müßte ich eine Verabredung
einhalten;
die Prüfung der Baumwollkonten erschien völlig nutzlos; sogar das
Nizamat des
Nizams schien nicht mehr viel wert.
Was
auch immer zur
Gegenwart gehörte, was sich bewegte, handelte und für Brot arbeitete,
sah nur
noch trivial, bedeutungslos und verachtenswert aus.
Ich
warf meinen Stift hin,
schloß meine Schubladen ab, stieg in meinen Karren und fuhr weg. Ich
bemerkte,
dass er von selbst bei Sonnenuntergang am Tor des Marmorpalastes
anhielt. Mit
schnellen Schritten stieg ich die Treppen hinauf und trat in die Halle.
Innen
regierte schwere Stille.
Die dunklen Räume sahen mürrisch aus, als ob sie beleidigt wären. Mein
Herz war
voller Reue, aber da war niemand, dem ich es öffnen konnte oder den ich
um Vergebung bitten konnte. Mit leerem Kopf wanderte ich in den dunklen
Zimmern
herum. Ich wünschte, ich hätte eine Gitarre, zu deren Begleitung ich zu
der
Unbekannten singen könnte: ‘O Feuer, die arme
Motte, die sich vergeblich bemühte wegzufliegen, ist zu Dir
zurückgekommen!
Vergib ihr nur dieses eine Mal, versenge ihre Flügel und verbrenne
sie in Deiner Flamme!’
Auf
einmal fielen zwei Tränen
von oben auf meine Augenbraue. Dunkle Wolkenmassen
bedeckten die
Gipfel der Avalli-Hügel an diesem Tag. Die düsteren Wälder und die
rußigen
Wasser des Susta warteten in schrecklicher Spannung und ominöser Ruhe.
Plötzlich
ging ein Schauder durch Land, Wasser und Himmel, und ein wilder,
stürmischer
Windstoß fuhr heulend durch das entfernte, unwegsame Holz und zeigte
seine
Blitz-Zähne wie ein Wahnsinniger, der seine Fesseln abgeworfen hatte.
Die
desolate Halle des Palastes schlug mit ihren Türen und stöhnte in der
Bitterkeit ihrer Qual.
Die
Diener waren alle im Büro
und niemand war da, um die Lampen anzuzünden. Bewölkt und mondlos war
die
Nacht. Drinnen, in dichter Düsternis, konnte ich deutlich fühlen, dass
eine
Frau mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich unter dem Bett lag –
mit
verzweifelten Fingern klammerte und riß sie an ihrem langen wirren
Haar. Blut
tröpfelte an ihrer schönen Augenbraue herunter und erst lachte sie
hart, rauh
und freudlos, dann brach sie in schweres, heftiges Schluchzen aus,
zerriß ihr
Leibchen und schlug sich auf die blanken Brüste, während der Wind
durchs offene Fenster stürmte und der Regen in Strömen fiel und sie
völlig durchnäßte.
Die
ganze Nacht ließ weder
der Sturm, noch das leidenschaftliche Weinen nach. In vergeblichem
Kummer
wanderte ich im Dunkeln von Zimmer zu Zimmer. Wen konnte ich trösten,
wenn doch
niemand da war? Zu wem gehörte dieser qualvolle Schmerz? Wie kam es zu
diesem
untröstbaren Leid?
Und
der Verrückte rief:
‘Zurücktreten! Zurücktreten! Alles ist falsch! Alles ist falsch!!’
Ich
sah, dass der Tag
heranbrach, und dass Meher Ali in diesem schrecklichen Wetter den
Palast mit
seinem üblichen Schrei umkreiste. Es kam mir plötzlich in den Sinn,
dass er
vielleicht einmal genauso in diesem Haus gelebt hatte und er, obwohl er
verrückt
geworden war, jeden Tag herkam und herumging, eingefangen vom
unheimlichen
Zauber des Marmordämons.
Trotz
Sturm und Regen lief
ich zu ihm hin und fragte ihn: ‘Ho, Meher Ali, was ist falsch?’
Der
Mann antwortete nicht,
sondern drückte mich beiseite und ging weiter herum mit seinem
wahnsinnigen
Rufen, wie ein Vogel fasziniert von den Kiefern einer Schlange, und
bemühte
sich verzweifelt, sich selbst zu warnen ‘Zurücktreten! Zurücktreten!
Alles ist
falsch! Alles ist falsch!!’ Und immer wieder und wieder. . .
Wie
ein Wahnsinniger rannte
ich durch den prasselnden Regen in mein Büro und bat Karim Khan: ‘Sag
mir, was
das alles bedeuten soll!’
Was
ich von diesem alten
Mann erfuhr: dass einmal zahllose unerwiderte Leidenschaften und
unbefriedigte
Sehnsüchte und grelle Flammen wild lodernder Lust in jenem Palast
tobten, und
dass der Fluch all diesen Kummers und zerstörter Hoffnung jeden
einzelnen Stein hungrig und durstig
gemacht hatte, gierig darauf,
jeden Lebenden, der zufällig in die Nahe kam, wie eine
verhungerte Menschenfresserin zu verschlingen.
Keiner, der dort drei Nächte hintereinander verbrachte, konnte diesen
grausamen
Fängen entfliehen, außer Meher Ali, der auf Kosten seiner geistigen
Gesundheit
davonkam.
Ich
fragte: ‘Gibt es
wirklich keine Möglichkeit, mich zu befreien?’ Der alte Mann sagte: ‘Es
gibt
nur einen Weg, und der ist höchst schwierig. Ich werde Dir sagen, was
es ist,
aber zuerst solltest Du die Geschichte eines jungen persischen Mädchens
hören,
das einmal in diesem Freudenhaus lebte. Eine seltsamere oder bitter
herzzerreißendere Geschichte hat auf dieser Erde niemals
stattgefunden.’
Genau
in diesem Moment kündigten
die Kulis den kommenden Zug an. So früh? Wir packten eilig unsere
Sachen, als
der Zug schon hereindampfte. Ein englischer Gentleman, anscheinend
gerade aus
dem Schlummer gerissen, blickte aus einem Erste-Klasse-Wagen und
versuchte, den
Namen der Station zu entziffern. Sowie er unseren Mitreisenden
entdeckte, rief er: “Hallo!“, und nahm ihn in sein Abteil. Da wir in
einen
Zweite-Klasse-Wagen gelangten,hatten wir keine Chance mehr
herauszufinden, wer
dieser Mann war, oder, wie die Geschichte zu Ende ging.
Ich
meinte: “Der hielt uns offensichtlich für
Dummkopfe und hat uns an der Nase herumgeführt.¨
Die Geschichte ist von vorn bis hinten erfunden.“
Die
darauffolgende Diskussion endete in einem lebenslangen
Bruch zwischen meinem theosophischen
Freund und mir.