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Geschichten

Kurt Tucholsky

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Justitia schwooft!
 Für Berthold Jacob   

 

Nachts im Treppenhaus des Berliner Kriminalgerichts

Die Justitia, die tagsüber in Stein gehauen dasteht, löst sich von der Wand und tappt, mit verbundenen Augen, einige Schritte vorwärts. Im Halbdunkel leuchtet auf dem Boden ein weißer Strich. Sie geht darauf.

Die Justitia:  Diese verdammte Binde –! Fort mit dem Zeug – jetzt sieht‘s  ja keiner! Ratsch – da liegt die Wage – ich weiß doch, wie gewogen wird – und – Bautsch! da das Schwert! Hol doch der Teufel diesen ganzen Betrieb! Ein netter Aufenthalt so weit – wo ist der Spiegel? (Sie spiegelt sich in einer Glastür. Ordnet ihr Haar. Legt Rot auf, Puder, Lippenstift.) Sie trällert leise vor sich hin:

Von vorne – von vorne – da ist er ganz von Horne –
von hinten – von hinten …

Die Uhr: Bim – Bam – Bum!
Die Justitia: Hab ich mich erschrocken! Das … das war nur die Uhr …! Na, Uhr – wie geht‘s denn?
Die Uhr: Bum –
Die Justitia
: Wir beide werden auch nicht jünger, wie? Na, wie viel  schlägt‘s denn jetzt bei dir, in der Republike?

Die Uhr: Bum – bim – bam – bum – bim – bam – bum – bam – baum – bim – baum – bum – bum!Die Justitia: Dreizehn! Allerleihand! Und ich halte mich hier mit politischen Gesprächen auf! – Wo bleibt er denn? Ei, dort kommt er ja just –!
Der Staatsanwalt: (pfeift auf zwei Fingern)
Die Justitia: Ludwig! Wo bleibst du so lange!
Der Staatsanwalt: Meechen …! (Kuß) Wo ick solange bleibe? Akten ha’ck jeschmiert … Bolschewistensachen!
Die Justitia (an seiner Schulter): Du sorgst so nett für Kundschaft, Luichen!
Der Staatsanwalt: Allemal. Det du mir die Brieder bloß richtig behandelst! Die Feinen fein – und die Kerls, na: Reichsgericht.
Die Justitia: Luichen – mach ich‘s vielleicht nicht richtig? Marburg? Marloh? Frag mal in Leipzig, warum dass die Talare von meine Reichsgerichtsräte so rot sind –
Der Staatsanwalt: Dette mir den Ledebour freijesprochen hast – det kann ick da heute no nich vasseihn!

Die Justitia: Nich haun!
Der Staatsanwalt: Seh dir vor, Meechen! Treib ick dir dassu die Kundschaft zu? Watt ziehste dir aus? Zieh doch die Jungens aus! Wozu hab ick dir denn det Jeschäft lern lassn?
Die Justitia: Luichen! Wo machen wir denn heute ahmt hin?
Der Staatsanwalt: Heute nacht? Jehn wa schwoofn! Ins Auditorium Maximum von de Universität! Die janzen Rektoren sind da – lauter orntliche Leute – Reserveoffiziere und so. Kannste was erben! Benimm dir!
Die Justitia: Ick wer dir schonst keine Schande machn! Ich will auch immer dein braves Mädchen sein … Mich sieht keiner nackt, aber ich seh sie alle. Du süßer Paragraphenlehrling!
Der Staatsanwalt: Streiker und Revoluzzer und Demokraten und Spartakisten und Unabhängige und Pennbrüder und Pazifisten und Schriftsteller und Kommunisten und all das Pack – wohin?
Die Justitia: Ins Kittchen, Luis!
Der Staatsanwalt: Und die Offiziere? Und die feinen Leute? Wohin?
Die Justitia: Raus aus die Anklagebank, Luis!
Der Staatsanwalt: Und wenn sie Republik spielen – was tun wir?
Die Justitia: Wir bleiben unserm Kaiser treu!
Der Staatsanwalt: Denn was haben wir?
Die Justitia: Wir haben die Unabhängigkeit der Justiz!

(Achtunddreißig Hühner treten auf, lachen und trippeln wieder ab.)

Der Staatsanwalt: Und die Wage?
Die Justitia: Hängt schief.
Der Staatsanwalt: Und die Binde?
Die Justitia: Hat Gucklöcher.
Der Staatsanwalt: Und das Schwert?
Die Justitia: Ist zweischneidig. Komm, Luis, gehen wir tanzen!
Der Staatsanwalt (mit Überzeugung): Du süße Sau –! (er pfeift auf zwei Fingern)

Beide:

Justitia geht schwofen! –
Haste so was schon gesehn! –
Sie biegt sich und schmiegt sich –
man lässt es geschehn! –
So tief duckt kein Knecht sich –
wie diese Nation –
Justitia, die rächt sich –
für die Revolution! –
Die Deutschen, die doofen –
die geben schon Ruh –
Justitia geht schwofen –
sie hat‘s ja dazu –!

(Beide kess tanzend ab

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Das Sprachwunder

Der seltsamste Mensch, dem ich in meinem Leben begegnet bin, ist ein Bankangestellter aus der Provinz Brandenburg gewesen, ein geborener Berliner. Dieser Mann war ein Dichter, ohne ein Wort schreiben zu können.

Schon die Fähigkeit, eine Figur auf die Beine zu stellen und sie ihre Sprache sprechen zu lassen, ist nicht sehr verbreitet. Dieser rätselhafte Bursche aber entwickelte seine Figuren aus der Sprache, und zwar aus der berlinischen. Die Bank hatte kleine Leute zu Kunden, vielleicht hatte von da sein Ohr die letzten Schwingungen des Tones aufgefangen, jene feinsten Nuancen, die nie ein Fremder trifft – aber er erzählte keine Berliner Witze, er erfand Leute, ließ sie ein paar Minuten leben und sprach dann von etwas anderem, als seien sie nie gewesen.

Vor allem konnte er sich in den gehobenen, organisierten, etwas kleinbürgerlichen Berliner Arbeiter verwandeln. So stand er etwa an einem imaginären Telefon und war der Telegrafenarbeiter, der den Apparat kontrollierte. Das Gemisch von technischem und privatem Gerede war kostbar. „Jehm Se mah die Leitung B, Frollein!“ Pause. „Ja, hier Schmorrke, Bautrupp III. Frollein, wie is die Vaständjung? Nein. Ja. Franz, bist du da?“ (Jetzt sprach er mit einem Kollegen und riskierte eine kleine Privatunterhaltung, übrigens ohne den Ton zu wechseln, diesen etwas mürrischen, trockenen, dussligen Ton.) „Ick jehe von hier direkt in de Bamberjerstraße. Nein – is aledicht. Hast du mit Rabener jesprochen, wejn die Picke? Wir wahn jestern in seine Laube – die Bohnen komm janz jut. Ick weeß nich, meine wolln nich wern. Nein, hier Störungssucher. Leitung A, Frollein …“ Auf diese Art.

Er hatte das Berliner Tempo weg, aber nicht jenes falsch-amerikanische, mit dem so viel Unfug getrieben wird, sondern dieses ruhige, fast behäbige in aller Hast, das Pathoslose, er war der Mann mit dem hängenden Hosenboden, der mit zwei Kameraden an der Ecke steht, einer erzählt eine endlose Geschichte, die nie aufhört, und kein Aas hört zu. Und er saß um einen runden Stammtisch herum, wieder erzählte einer, und mitten drin, grade an der Stelle, auf die der Erzähler den größten Wert legte, zog jener sein Zigaretten-Etui heraus und sprach: „Paul hat welche ohne Banderole …“, was gleichermaßen die ganze Umwelt ignorierte und eine gewisse neidische Bewunderung für Paulen ausdrückte.

Einmal im Winter, stand er nachdenklich vor dem Haus,  in dem ich damals wohnte, es war spät abends, und er sah an der Fassade empor und sagte langsam, ohne jeden Zusammenhang und völlig aus einem unterirdischen Gedankengang heraus: „Machen lasst er nischt, der olle Jude. Aber Miete nehm, det kann er.“ (Wobei zu bemerken wäre, daß der Wirt ein wilder Völkischer war.) Und dann fiel sein unzufriedenes Auge auf die großen Schneehaufen, die dort aufgehäuft waren. „Ick frahre nur: wo bleiben da die Arbeitslosen, frahre ick!“ Und dann ging er zu etwas anderm über.

Einmal machte ich die Probe und bat ihn, alles zu sagen, was ihm zu dem Thema „Berliner Chauffeur“ einfiele. Er sprach, und ich stenographierte; die Bogen liegen noch vor mir.

„Wenn se schon so uff die Uhr gucken, denn weiß ick, det sie sinn ausjemist! – Die sagen, ick hätte mir mit jestohlnen Benzin bereichert – det war aber meine Schwester ihre Beßiehung!“ (Hierbei wie im folgenden ist besonders das schöne Schriftdeutsch zu beachten, das man im Berlinischen sehr häufig antrifft.) – „Nee, eene Person – det jeht heite nich. Da hab ick ja mehr Polster als Fahrjeste! Mein Motor is doch keen Badeofen!“ – „Wenn ick stehe, und wart, denn will mir keener ham. Aber kaum det ick mal ’ne Bockwurst essen due, denn kommse an!“ – Und nun, mit dem ganzen Berufsstolz des alten Fahrers: „Der Mann hat auf Doktor studiert, die Eltern ham sich was zusammenjescharrt, und nu denkt der Mann, er kann mir belehren. Auf keine Art kann er das. Niemals! sage ich zu den Herrn. Ick unterstelle mir, das frühestens zu konschtatiern. Die Herrnfahrer, wo nie jearbeitet ham – mitn Anlasser fahrn se, die feinen Herrn; watn richtcher Schofföhr is, der braucht seine Bremse nich – der richt sich ein! Man muß ehmt mit Jefühl schalten! Sone Maschine, det isn Orjanismus. Aber der – Hat mal rumjespielt an de Klingelleitung … nu meint der, er kann  faahn …!“ Und dann kam eine ganz wilde Geschichte aus dem intimsten Familienleben. „Wenn ick ahms nach Hause komme, denn stellt mir meine Braut imma die Milch ant Fensta – da is son kleenet Jitta. Der Wirt hat jesacht, sie hätte ’n Vahältnis mit Athua.“ Entrüstetes Schnaufen. „Det is ja nischt wie Neid von den Mann!“ Und das alles ganz langsam und ruhig, ohne die leiseste Überlegung, mühelos.

Das Allermerkwürdigste aber war, dass der Mensch noch etwas anderes sprechen konnte, bis zur Täuschung genau; wenn man die Augen schloss, sah man sie vor sich: die dicke, bewegliche, geschwätzige Frau aus dem Mittelstand des Berliner Westens. Dann nahm seine Stimme eine etwas kreischende Färbung an, er plapperte wie ein Papagei, der Redestrom floss über alle Ufer, hemmungslos, wie die Sintflut.

„Meine hat gestern wieder zwei Teller zerschlagen, von den guten. Nimmst du Eier in die Bouillon? Ich lasse sie nie allein mit den Eiern wirtschaften. Neulich …“ Aber nun kam wirklich ein Dienstmädchen ins Zimmer, durchaus real und gleichgültig. Der Satz war wie mit der Schere abgeschnitten. In einem lächerlichen gezierten und unnatürlichen Ton: „Die Butter wird ja jetzt auch immer teurer. Wir zahlen … Was zahlst du …?“ Und, kaum war das Mädchen heraus: „Stiehlt deine –?“

Ich besinne mich noch sehr genau, wie wir einmal einen Kranken besuchten, der lag am Blinddarm danieder und hatte eine große Eisblase auf dem Bauch, er musste ganz still liegen. Das erste Wort beim Entree lautete so: „Guten Tag! Hast du dir nicht den Blinddarm rausnehmen lassen? Jenny hat gesagt, sie lässt bei ihren Kindern sofort den Blinddarm rausnehmen! Bei Israel …!“ Der Kranke fiel fast aus dem Bett, die Eisblase verrutschte, und wir mussten jenen hinaustun.  Noch im Korridor hörten wir ihn schwabbern: „Wenn du mal ’ne billige Quelle für Krepteschiehn hast …“

Ich habe so etwas niemals wiedergesehn. Es gibt in der gesamten deutschen Literatur eine einzige Figur, die so berlinisch ist: das ist der Portier Quaquaro aus Hauptmanns „Ratten“ diesem berlinischsten Stück, das in einem völlig verfehlten Dialekt geschrieben ist, in einem Jargon, den es überhaupt nicht gibt, und in dem doch das ganze Herz dieser Stadt schlägt. Der hat das auch: die filzenen Schuhe, den Bauch, die Mischung von Roheit, Sentimentalität und Kleinbürgertum, die Ruhe weg … „Immer anzeijn, Herr Doktor, immer anzeijn …“ Man riecht den Burschen.

Der Bankbeamte ist nicht imstande, einen guten Brief zu verfassen. Er „labert“ das so vor sich hin, wie die Schlesier sagen, denkt sich vielleicht sein Teil dabei …

Und ich höre immer noch die rauhe, etwas kehlige Stimme, mit der er einmal in der Siegesallee sagte: „Ick bin jewiss in meine Jewerkschaft als radikaler Mann bekannt. Aber wenn ick det hier allens so ansehe, da muß ick doch sahrn: Ordnung muss sein, Herr Doktor! Ordnung muss sein –!“

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