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Geschichten

Kurt Tucholsky

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Vision

Heute haben wir den 28. Juli dieses Jahres, der Autobusführer sitzt vorn am Steuerrad und wendet den schweren, langen Wagen, als ob es ein kleiner Zweisitzer wäre. „AX“ steht vorn dran. Ich weiß doch nicht genau … und frage den Schaffner. Der Schaffner sagt nett und höflich Bescheid: Nein, nach der Rue Grenelle muss ich von da hinten, mit dem andern Wagen abfahren. Danke.

Das wäre also 1924. Und was hätte der Omnibusschaffner, der da auf diesem pariser Omnibus, mit mir gemacht, wenn wir uns heute vor acht Jahren begegnet wären?

Der Omnibusschaffner hätte — vor Angst, aus Pflichtbewusstsein, nach Kommando — auf mich geschossen. Sein Fahrer wäre, um mich zu fangen, vorsichtig den Graben entlanggekrochen, wäre alle paar Minuten regungslos auf dem Bauch liegen geblieben, hätte gewartet — und dann, an der nächsten Biegung, wäre er vorgesprungen und hätte mir sein Bajonett in den Magen gestoßen, da, wo ich jetzt meinen Spiegel trage. Der Mann auf der Metro, der mir vorhin das Billett geknipst hat, hätte befriedigt das Gewehr abgesetzt, wenn ich drüben die Arme hochgeworfen hätte und dann hinter dem deutschen Graben verschwunden wäre … Vor acht Jahren.

Und ich, ich war verpflichtet, meinem Milchhändler, der mir morgens immer so nett auseinandersetzt, was es Neues gibt, den Kolben auf den Kopf zu schlagen, wenn ich ihn erwischt hätte; ich musste meinem Kollegen vom ‚Quotidien‘ das Seitengewehr durchs Gesicht ziehen, und ich hatte dafür zu sorgen, dass die schöne Frau Landrieu ihren Mann nicht mehr zu sehen bekam. Vor acht Jahren.

Das war meine Pflicht, das war ihre Pflicht.

Aber jetzt sind wir alle wieder friedlich, sagen uns freundlich Guten Tag, sie zeigen mir den Weg, ich drücke ihnen die Hand, grüße und unterhalte mich, werde ins Theater begleitet und führe nette Konversation über alles Mögliche. Nur über diese eine Sache nicht. Nur über diese eine einzige Kardinalfrage sprechen die Menschen fast gar nicht, ungern, zögernd:

Ob sie sich morgen wieder Messer in die Köpfe jagen, morgen wieder Granaten (mit Aufschlagzünder) in die Wohnstuben schießen, Herrn Haber konsultieren, damit er ein neues Gas erfinde, dass die Leute, wenn irgend möglich, Professor, total erblinden lässt … Und darüber, dass sich morgen Alle: Omnibusschaffner, Metrokontrolleur, Universitätslehrer und Milchhändler, in eine tobende, heulende Masse verwandeln, die nur den einen Wunsch hat, aus den Berufsgenossen der andern Seite einen stinkenden Brei zu machen, der in den Sandtrichtern verfault …

Morgen wieder? Morgen wieder.


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Die brennende Lampe
       Kaspar Hauser

Wenn ein jüngerer Mann, etwa von dreiundzwanzig Jahren, an einer verlassenen Straßenecke am Boden liegt, stöhnend, weil mit einem tödlichen Gas ringend, das eine Fliegerbombe in der Stadt verbreitet hat; er keucht, die Augen sind aus ihren Höhlen getreten, er verspürt einen widerwärtigen Geschmack im Munde, und in seinen Lungen stichts, es ist, wie wenn er unter Wasser atmen sollte –: dann wird dieser junge Mensch in einem verzweifelten Blick an den Häusern hinauf, zum Himmel empor, fragen:

Warum –?

Weil, junger Mann, zum Beispiel einmal in einem Buchladen eine sanfte grüne Lampe gebrannt hat. Sie bestrahlte, junger Mann, lauter Kriegsbücher, die man dort ausgestellt hatte; sie waren vom ersten Gehilfen fein um die sanft brennende Lampe herumdrapiert worden, und die Buchhandlung hatte für dieses ebenso geschmackvolle wie patriotische Schaufenster den ersten Preis bekommen. Deswegen.

Weil, junger Mann, deine Eltern und deine Großeltern auch nicht den leisesten Versuch gemacht haben, aus diesem Kriegsdreck und aus dem Nationalwahn herauszukommen. Sie hatten sich damit begnügt – bitte, stirb noch nicht, ich möchte dir das noch schnell erklären, zu helfen ist dir ohnehin nicht mehr – sie hatten sich damit begnügt, bestenfalls einen allgemeinen, gemäßigten Protest gegen den Krieg loszulassen; niemals aber gegen den, den ihr sogenanntes Vaterland geführt hat, grade führt, führen würde. Man hatte sie auf der Schule und in der Kirche, und, was wichtiger war, in den Kinos, auf den Universitäten und durch die Presse national vergiftet. So vergiftet, wie du heute da liegst: hoffnungslos. Sie sahen nichts mehr. Sie glaubten ehrlich an diese stumpfsinnige Religion der Vaterländer, und sie wussten entweder gar nicht, wie ihr eignes Land aufrüstete: geheim oder offen, je nach den Umständen; oder aber sie wussten es, und dann fanden sie es sehr schön. Sehr schön fanden sie das. Deswegen, junger Mann.

Was röchelst du da –? „Mutter?“ – Ah, nicht doch. Deine Mutter war erst Weib und dann Mutter, und weil sie Weib war, liebte sie den Krieger und den Staatsmörder und die Fahnen und die Musik und den schlanken, ranken Leutnant. Schrei nicht so laut; das ist so gewesen. Und weil sie ihn liebte, hasste sie alle die, die ihr die Freude an ihrer Freude verderben wollten. Und weil sie das liebte, und weil es keinen öffentlichen Erfolg ohne Frauen geben kann, so beeilten sich die liberalen Zeitungsleute, brave Familienväter, die viel zu feige waren, auch nur ihren Portier zu ohrfeigen, so beeilten sie sich, den Krieg zu lobpreisen, halb zu verteidigen, jenen den Mund und die Druckerschwärze zu verbieten, die den Krieg ein entehrendes Gemetzel nannten; und weil deine Mutter den Krieg liebte, von dem sie nur die Fahnen kannte, so fand sich eine ganze Industrie, ihr gefällig zu sein, und viele Buchmacher waren auch dabei. Nein, nicht die von der Rennbahn; die von der Literatur. Und Verleger verlegten das. Und Buchhändler verkauften das.

Und einer hatte eben diese sanft brennende Lampe aufgebaut, sein Schaufenster war so hübsch dekoriert; da standen die Bücher, die das Lob des Tötens verkündeten, die Hymne des Mordes, die Psalmen der Gasgranaten. Deshalb, junger Mann.

Eh du die letzte Zuckung tust,  Mann:

Man hat ja noch niemals versucht, den Krieg ernsthaft zu bekämpfen. Man hat ja noch niemals alle Schulen und alle Kirchen, alle Kinos und alle Zeitungen für die Propaganda des Krieges gesperrt. Man weiß also gar nicht, wie eine Generation aussähe, die in der reinen Luft eines gesunden und kampfesfreudigen, aber kriegablehnenden Pazifismus aufgewachsen ist. Das weiß man nicht. Man kennt nur staatlich verhetzte Jugend. Du bist ihre Frucht; du bist einer von ihnen – so, wie dein fliegender Mörder einer von ihnen gewesen ist.

Darf ich deinen Kopf weicher betten? Oh, du bist schon tot. Ruhe in Frieden. Es ist der einzige, den sie dir gelassen haben.


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