lifedays-seite

moment in time

 
  
Literatur


04.3



Geschichten
Ernst Weiß

Die Verdorrten


Die Verdorrten

I.
 
     Edgar und Esther kannten einander viele Jahre, bevor sie einander liebten. Sie änderte sich in diesen Jahren nicht viel: groß, blond, die Haare schwer um den schmalen Kopf, schiefgestellt die blauen Augen, ihr Mund groß oder klein, weich oder hart, kindlich oder verbittert, wie sie eben lebte, an Regentagen war er anders als an starken, sonnigen.

     Er liebte an ihr den spitzigen gotischen Bogen ihres Kinnes, ihr Gesicht konnte er dann zwischen zwei Finger nehmen, leise hin und her bewegen, und es strömte wie Licht ohne Grenzen. Für Augenblicke wurde sie, war sie: wovon er träumte: ein Wesen ohne Wissen, ein Etwas, umschwungen von ewiger Sommerzeit, schwimmend in Duft wie in einer eigenen Welt! Ein Stern, allem Bekannten unbekannt, entfernt von Tier, von Pflanze, eine starke Gewalt, beide Hände triefend voll mit Wollust, etwas tiefes zum hineinversinken, dem Schlafe gleich und dem Tod, dem ersehnten, dem gefürchteten.

     Das war sie nicht. Sie war ein Mensch aus bürgerlichen Kreisen, ein Herz, noch unberührt, in ihrer Blüte ein junges Mädchen. In ihrer Blöße eine zitternde Braut, das hatte Esther zu geben, das gab sie ihm.
 

 
II.
 
       Er wollte sie besitzen, immer zu ihr zurückkehren können. Aber auf die Dauer konnte er mit ihr nicht leben. Er konnte überhaupt nicht dauernd mit Menschen Wand an Wand, Mund an Mund, Brust an Brust leben. Es beengte ihn bis zur Angst des Erstickens: er haßte, er verfluchte, stampfte in die Erde Vater, Mutter. Die Samtmöbel im Zimmer, die Geliebte, den Hauch ihres Atems, den etwas vergilbten Einsatz ihres Hemdes, ihr Haar, das er am Tage nachher in seinem Kamm fand oder auf dem Grunde seines Waschbeckens, alles reizte ihn zum Erbrechen, als ziehe es sich durch seinen Hals die Kehle herab! Wie als Kind trieb er sich viel herum auf steinigen Bergen, sprach zu sich, sang stundenlang zu dem Takte seiner Schritte, zu dem Stampfen der Lokomotiven, zu dem Surren der Zentrifuge in seinem Laboratorium, während er umherging.

       Er liebte die Freiheit über alle Worte, aber er liebte auch die Menschen, und zwischen beiden schwankte er. War die Geliebte verreist, dachte er an sie in allerinnigster Sehnsucht, schwoll an mit der schwersten Qual des gierigen Geschlechts. Wieder sah er, und die Wehmut jugendlicher Tage kam nie mehr, die rauschende Halle des Fernbahnhofes, Eisen und gebräuntes Glas, die überstickte Schwüle des Wartesaales, in Wehmut preßte sich der kleine Hügel ihrer unbewehrten Brust an seine Schulter beim Abschied des Abends, feucht und schwer machte der sich verdichtende Nebel ihr sanft fallendes Haar, rührend rauschte es an seinen Lippen vorbei, demütige Liebkosung! Wenn sie gerade entschwinden wollte, fühlte er sie ganz: die holden Brüste, die schräg gleitende Falte, von der Schulter abwärts, ihren kleinen Fuß, den er wie ein Stück warmes Elfenbein zwischen seinen Händen rollte, und ihr Duft, unvergeßlich war ihr Duft zu Anfang ihrer Liebeszeit, scharf und sommerlich zugleich, ein fremdes Gewürz, das sie mit ihrer Unschuld dahingab, das ihn dann nie mehr zu Tränen überwältigte. Aber wenn sie wiederkehrte, etwas blieb auf immer verloren.

       So erlebte er, daß nicht nur das Sterbliche am Menschen verwesen konnte, sondern auch das Unsterbliche, die glühende Flamme, Duft von Seele zu Seele, die letzte, die einzige Wirklichkeit, wie ein Pfeilerbogen gespannt über zwei Säulen, unerschütterlich dem Blick, aber nicht der Zeit!
 
       An manchen Tagen verblaßte auch das stärkste bei ihnen beiden, das letzte kam nicht, war nicht zu erreichen, mit den Spitzen der Zähne nicht zu erraffen.

Schon vorher hatte er sie nackt gesehen, in der schwankenden Kühle ihrer Gestalt am weißen Porzellanofen, schon früher hatte er ihre Hände in den seinen gehalten, während sie langsam erkalteten in der beginnenden Glut ihrer Begierde. Wußte er nicht um ihr Zittern, wie ein Mond wuchs auf der lichte Stern ihrer Augen, etwas schräg in dem Dunkel des weißwolkigen Gesichts, und überall war Licht. Unendliche Vereinigung, zweier Sterngebilde gleichmelodisch schwebender Tanz, Ehe der Ehen, das ersehnte er. Esther aber war das verführte Kind, der geschlagene Feind, der bestochene Besitzer, ärmer jetzt als der Bettler, in dessen Hut er seinen Heller hatte fallen lassen.

       Sie waren beide jung, das war ihr letzter Besitz, und er schien unerschöpflich. Gesundheit lebten sie wie Unsterblichkeit.

       Der Sommer war schön, schön war es, auf der Terrasse des Kaffeehauses zu sitzen nachts, ohne Bewußtsein der Zeit, hinter den verstaubten Oleanderbüschen gedeckt, Nacht schwebte um sie, sie saßen noch, als das Licht verlöscht war, und im Dunkel, im Schweigen glaubte der Mann zu sehen, wie die starren Spitzen ihrer eisenschweren Brüste durch den weißen Batist ihres Kleides stachen, das, wie bei einem Kinde hoch geschlossen sich kräuselte um ihren wild pochenden Hals.

       Das herrlichste war jetzt nicht mehr das allein mit ihr im dunklen Zimmer, im Widerschein des dunkelpurpurnen Seidenteppichs, sondern im Freien mit ihr zu leben, nie hatte er Tage, Nächte empfunden wie jetzt, der Mai, der Juni, immer wolkenlos, wolkenlos, weit ging er mit ihr, ohne zu reden, bis in die Nacht, in der Nacht schimmerte ihr weißes Kleid, ihr bloßer Nacken, wie zart stieg alles an ihr empor! Sie gingen schnell, sie liefen, die goldene Kette um ihren Hals klirrte, aus ihrer noch von der Nachmittagshitze erregten Brust schwamm Duft, bitter und süß, duftend ihr feuchter Mund nach Niewiederkehr, ganz war sie umwölkt von dem quellenden Safte vieler gepflückter Pflanzen.

        Nie fühlte er Müdigkeit, alle Glut entzitterte ihm zu unbeschreiblichem Entzücken, er liebte sie wie ein hochgeschwungener Ton von der tiefsten Tiefe aufrührend ihr sommerfeuchtes Fleisch, und beide waren, wie ein unhörbar hohes, durchdringendes Schwingen am Ende ihrer Liebe am Ende der erreichbaren Welt. Sein Schweigen nachher eins mit dem Schweigen des Waldes, ihr Zittern, so mädchenhaft, eins mit dem Zittern der windgestreiften Birke. Immer neu, immer jungfräulich erwachte unter Bäumen der nächste Tag den Liebenden. Als sie nach der Reise wiederkehrte, war es nicht mehr die gleiche Luft, die gleiche Zeit. Sie fühlte tiefer, tiefer gruben sich ihre Frauenschritte in den Boden.
 
        Ihn hatten diese Monate des Fernseins jünger gemacht um Jahre, er hatte Esther ersehnt, anders als sie ihn verlassen hatte, leidenschaftlicher, dunkler, mit krallenden Wünschen, entflammenden Gebärden, wild alles emporreißend zu dem Unsagbaren, nicht einen nackten Körper bloß, eine nackte Seele. Sie aber war verwandelt in das Mädchen von einst, geschlossen zurück zur Knospe, stark im Schweigen. Jungfrau war sie nicht mehr, sondern einer Mutter Seele, eine mütterliche Zärtlichkeit. Sie war nicht mehr Esther, er war Edgar nicht mehr, sie lebten hintereinander, stets auf der Flucht einer vor dem anderen, stets beisammen in unselig verzaubertem Kreis. Soviel sie zusammen waren, soviel sie einander sagten, sie wurden einander fremd und seine Treue zu Esther schien ihm Untreue zu sein gegen sich selbst.

       Für kurze Zeit nur, dachte er, mußte er zu der alten Geliebten zurückkehren, dann erst begann eine neue Zeit, umsoviel herrlicher als das Jetzt, als Esther in ihren schönsten Sommertagen herrlicher gewesen war als die „alleinige Zeit“ vorher. Aber war es noch Esther? Nur eine Woche oder zwei hatte er sie gemieden, nun erkannte er sie kaum mehr wieder. Ganz grau wurde die alte Geliebte neben ihm. Jetzt war sie nichts als die Vernunft, der tägliche Tag, die kleine Entzauberung, die Wirklichkeit. Ihre Haare waren noch lastend und blond, aber Esther selbst, in ihrem innersten Wesen schien ihm furchtbar ergraut.

_____________________________




  lifedays-seite - moment in time