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Literatur


04.3



Geschichten
Ernst Weiß

Die Verdorrten


Die Verdorrten - Seite 3


IV.
 
       Edgar ging schnell, er lief, Esther begriff ihn noch nicht, sie eilte ihm nach, er rannte dahin, sprang über Wurzeln, die hoch bogenförmig sich spannten über kaum sichtbare Saumpfade. Winterlich schwere Gebüsche trat er herab, sie folgte ihm, schweigend, ihr Atem jagte, ihr Herz schlug.

       Noch waren die Bäume feucht vom Regen, die Erde schwer am Fuße der hohen Bäume, wo kein Gras wuchs. Er lief weiter, beflügelte sie, verzweifelte Leidenschaft ließ sie jetzt dahinstürmen, Hand in Hand, er hielt die Zweige von ihren Augen ab, aber Esther riß er hoch, vor dem Abhang, der Dämmerung, der Tiefe.

       Jetzt hatte sie wieder das alte Gesicht, wollüstig und scheu, Esther, aber war sie mit neuer Jungfräulichkeit geschwellt, „es“ lebte noch, „es“ würgte ihn wie ein Haar, in seiner Kehle tief. Aber Edgar und Esther, gemeinsam rasend in hingewölbtem Schwung, weiter Wiesen erstes Grün, unter den Füßen sinkender Hang, rollend in Geröll, fliehender Mond unter spiraligen Wolken, blasender Wind über der nächtlichen Waldblöße, der kalt versteinerten Ebene, von einem einzigen Trieb getrieben, schleuderten sie hin auf den Boden: Brust an Brust, Fleisch an Fleisch: in einer verzweifelten Umarmung umarmten sie ihre ganze Liebe noch einmal.

       Tränen wurden. Überwältigung. Nun war Esther das Wesen ohne Wissen, die allem Bekannten unbekannte, ein nackter Schoß, eine Seele nackt, nicht der mütterlich schützende Leib, sondern nur des Geliebten Geliebte, Braut.

       Sie schämte sich, ihn anzusehen nachher. Von dem Kinde sprach sie nicht mehr. Sie zitterte in Schmerzen, war elend, ohne Mitleid grub der Geliebte seinen Blick in ihr gemartertes Gesicht. In Esthers Gedanken war „es“ zerstört. Sie kam an dem nächsten Tage in ein Privathaus. Sie gab einen fremden Namen an. Er durfte ihr nicht schreiben, aber sie durfte es. Sie sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, das war Hohn und Zärtlichkeit zugleich. Er ließ sie dort, lange ging er unter den Fenstern hin und her. Hunde bellten, Kinder schrien, eine Maschine, vielleicht in einer Druckerei, bewegte sich stöhnend. Ein sehr schönes, sehr junges Mädchen ging vorbei, so leichte zarte Hüften, so feine Knöchel in glimmernden Seidenstrümpfen. Zum erstenmal ergriff Edgar Schmerz um die Geliebte, er wußte, über diesen Tag konnten sie weiterleben, aber nicht mehr so wie jetzt, eine Esther war auf ewig verloren, wenn auch eine Esther wiederkam.

       Am nächsten Tage hatte er nur Angst. Angst vor dem notwendigen „Eingriff“, Angst, daß Esther im letzten Augenblick Angst vor dem Eingriff bekäme und „es“ zu retten versuchte. Fremde Augen, fremde, robuste Hände, brutale Worte, ihre, der armen Esther kranke Nacktheit fühlte er als seine eigene Schande.

       Am dritten Tage dachte er nur an ihren Tod. Tausendmal war solches geschehen, die blühendsten Menschen hatte „es“ so hinweggerafft, warum sollte es nicht sie hinwegraffen, die er liebte? Er liebte sie? Alles, fühlte er tief erschüttert, tat sie seinetwegen, unauslöschlich war seine Schuld, ohne Grenzen ihre Liebe.

       Was lag jetzt an der Freiheit, an dem ersehnten Alleinsein, an eines neuen Lebens Beginn? Er konnte sich nicht betäuben, Wein wirkte nicht gegen Wirklichkeit, die Welt war zu klein für Flucht. Sie sprechen, ihr schreiben? Esther lag vielleicht schon in dieser Minute auf dem schmutzigen Seziertisch eines Vorstadtspitals, sie krümmte sich nicht unter der knochigen Hand eines betrunkenen Sezierdieners, der ihren zerstörten Leib mit groben Bindfaden zusammennähte. Aber nicht erst der Tod, schon er, Edgar, hatte diesen Körper aufgerissen, ihn mit einem Atom Lust gefüllt und mit einem Berg von Schmerz und Tod. In ihren Fenstern war es dunkel.

       Gebrochen von Ekel und Wut kam er nach Hause.

Schlaflos saß er die ganze Nacht, eingehüllt in graue Dumpfheit, mit der Hand ohne Aufhören ein Stück Kerze knetend, bis es, klebrig und grau geworden, an seinen Fingern hing. Am Morgen ging er zu ihr.
 
V.
 
       Esther, in verdunkeltem Zimmer, riß ohne Worte seine Hand in eine eiserne Klammer zwischen ihre Schulter und den seitwärts gesenkten Kopf.

       „Vorbei?“

       „Nein, laß es mir, laß es!“

       „Habe ich dich je zu etwas gezwungen?“

       „Willst du es?“

       „—“

       „Ein Tier, eine wilde Bestie läßt man austragen, wer läßt die Mutter leben, das Muttertier, und vertilgt das Kind?“

       „Habe ich dich hergebracht? Wer kann dich zwingen?“

       „Nein, nicht so. Du willst mich nicht, das verstehe ich so gut. Du, was war ich als Geliebte? Als Mutter werde ich leben!“

       „Leben, wovon? Du und dein Kind, und ich, der letzte, aber doch auch ein Mensch.“
       „Ich werde arbeiten.“

       „Du hast doch bis jetzt gearbeitet und doch muß ich es bezahlen, wenn du hier zu Bett liegst. Ist das gemein? Es ist so.“

       „Im Bett? Ich erwarte ihn.“

       „Wen?“

       „Der es schlachten soll!“

       „Schlachten! Worte! Kleide dich an, komm fort. Wie du willst.“

       „Nicht so. Nicht so! Ist es nicht von dir? Ich habe dich doch geliebt, kannst du es nicht fassen, ich bin nicht mehr, was du bis jetzt bei dir gehabt hast, in mir ist jetzt etwas anderes, ja, da, da,“ sie nahm seine Hand und führte sie an ihre eisenschwere Brust, die von Feuchtigkeit triefte, wie ein Baum im Mittagsgewitter August, „das fließt aus mir, seit der Hetzjagd im Wald, seit diesem Abend.“

       „Meine Brust ist Mutter, ich soll es nicht sein?“

       „Wer besteht darauf, ich bin der letzte . . .“

       „Der letzte! Der letzte!“ Sie drückte auf einen Klingelknopf, ein stämmiges, dickes, kleines Weib, wie ein Insekt lackartig glänzend in spiegelnder Wachstischschürze bis zu den Fersen, erschien: „Gnädige Frau?“

       „Kann der Arzt kommen? Kann er augenblicklich kommen?“

       „Wir werden telephonieren“, sie verschwand, entglitzerte.

       „Ich gehe“, sagte Edgar.

       „Nein! Soll ‚es‘ vertilgt werden, dann unter deinen Augen!“

       „Esther!“

       „Nun?“

       „Wie soll ich dir danken?“

       Knirschend hervorgerollt, „Edgar!“

       Das Weib: „Der Herr wird sofort kommen, zur Untersuchung.“

       Edgar: „Untersuchung?“

       „O, keine Angst. Dein Wille geschieht, es ist ernst, Liebling!“ Zu dem Weib: „Kann ich meine Kleider anbehalten, muß ich nackt sein?“

       „Aber Gnädigste, wie Sie wollen! Es ist höchstens, daß etwas schmutzig wird.“

       „Dann kleide ich mich an.“

       „Aber, Gnädigste, der Herr . . .“

       „Mein Bruder.“

       Der Arzt: „Wir wollen also gleich uns umsehen. Aber hier, der Herr?“

       „Der Bruder der Dame.“

       „So, also der Bruder der Dame. Sie können, verehrte Gnädige, das Tuch ohne Besorgnis vom Gesicht nehmen. Ich bin Arzt, sollten wir uns in Gesellschaft treffen, sind Sie mir fremd, ich Ihnen . . . selbstverständlich . . . unser Eid, übrigens, welche Bagatelle, eine Untersuchung, sonst nichts! Schmerzlos.“

       Esther, ein Tuch um den Kopf, ihr Gesicht zu verbergen, wankte an Edgars Hand aus dem dunklen Zimmer, von Ihrer Brust rann Mütterlichkeit, Nässe fast schwarz auf leicht vergilbten Spitzen. Halbblind erturnte sie den hohen Operationstisch. Sie sagte nichts, seufzte nicht. Ihre Hose, handbreite Stickerei um die Knie, so mädchenhaft, ihrer Schenkel edel geschwungenes Fleisch, alles goldgelb, elektrisch umgleißt vom blendenden Scheinwerfer. Sie stieß Edgars Hand von sich, er schlich in den Winkel, Metall klirrte, Wasser rauschte.

       „Also? Es ist vorbei, meine Dame! Die Untersuchung hat nichts — bedrohliches ergeben.
 Sollten aber doch, was nicht vorauszusehen, und nicht beabsichtigt, gewisse Blutungen einsetzen, so bitte mich zu verständigen, auch zur Nacht! Sie! Sie,“ er stieß Edgar an, „helfen Sie, machen Sie mit, tragen Sie mit mir Ihre Schwester in ihr Zimmer zurück!“

       „Lassen Sie ihn!“ Unter einem Schwall von Tränen schleuderte sie das Tuch, das ihr Gesicht verbarg, zur Erde, gebückt wie ein Tier, schwer schleifte sie durch das helle Zimmer in ihren Raum, wo im Dunkel Hitze brütete.
   
VI.

       Am nächsten Tage rief Edgar seine Geliebte an, es meldete sich die Wirtin, sagte, alles gehe gut, nach zwei Tagen hieß es, die Dame sei bereits auf dem Wege der Besserung, immer wurde Esther an den Apparat gerufen, sie kam nie. Er schrieb ihr. Seine Vermögensverhältnisse hatten sich gebessert, er konnte Esther eine unvergleichlich schönere Existenz verschaffen, sie sollte in den Beruf nicht mehr zurück. Er war erschüttert, besänftigt durch ihre Tat, daß „es“ nicht mehr lebte, gab ihm ein neues Dasein, eine neue Gewalt, da sein Wille sich durchgesetzt hatte, Esthers Liebe zu ihm die Natur überwunden hatte. Aber sehr lange erfuhr er nichts von ihr, als daß sie lebte, dann schrieb sie auf einer bunten Karte mit unleserlichem Poststempel: „Bitte, mir jetzt nicht zu schreiben.“ Drei Tage nachher las er in der Zeitung, daß sie sich mit dem Bankier Anschütz, seinem Freund, verlobt hatte, sechs Wochen nachher fand die Trauung statt ohne Fest, nur in Gegenwart der Zeugen.

       Edgar verreiste, seine Aktien waren inzwischen von 700 auf 825 gestiegen. Kaum war er zurück, wurde er telephonisch angerufen, der Bankier meldete sich: Edgar sprach seine Glückwünsche aus, aber nicht darum handelte es sich, die Papiere wankten, sehr sicher war nichts, sollte man verkaufen? Der Bankier antwortete nicht, die Verbindung wurde wie durch Zufall unterbrochen. Edgar, der seine Ruhe und sein Kapital für eine Erfindung, einen neuen Farbstoff, brauchte, rief nochmals an, Anschütz antwortete etwas ungeduldig, er könne seinen Rat nicht mehr wie bisher „unter Freunden“ gehen, die Verantwortung sei zu groß. Schließlich riet er Edgar, entweder augenblicklich, wenn auch mit Verlust loszuschlagen, oder zu warten, er selbst scheide aus, Edgar fühlte erst beim letzten Wort am Telephon, daß er einen Freund verloren hatte.

       Nun lebte er, ganz wieder, wie in der Zeit vor Esther, in seine Arbeit hineingezwungen in seinem Laboratorium. Er hatte mit der Unterstützung eines jüngeren Kollegen eine Erfindung gemacht, ein nie dagewesenes Rot, eine wundervolle Farbe, säureecht, unzerstörbar.

       Nach Wochen meldete sich der Bankier wieder, er rief nachts an. Am Telephon hörte man Summen, Musik, wie auf einen Gummifaden gespannt. Es sei Gesellschaft bei ihm, sagte er, dennoch riefe er an. Die Papiere zeigten Tendenz nach abwärts, sollte man abstoßen? Er entschuldigte sich mit keinem Worte, das er den früheren Freund nicht zu sich einlade, ihm nur so im Vorübergehen am Telephon seine Entschlüsse abzwinge. Verantwortung übernehme er nicht, riete aber doch dazu zuzuwarten, die Deckung, für die er seit zehn Jahren aus eigenem gebürgt, müsse freilich erhöht werden. Wie? Vielleicht einen Vorschuß auf den Gehalt Edgars als Chemiker, denn auch die Fabrik, in der Edgar arbeitete, gehörte der Bank Anschütz.

       Drei Tage nachher war alles verloren, die Aktien standen so tief, daß Edgar dem Bankier einen Betrag schuldete, der nie abzuzahlen war. Aber Esther, zum erstenmal Esthers Stimme am Telephon, sagte, er solle sich keine Sorgen machen, Edgars Stellung in der Fabrik, fast leitend, blieb. Edgars Stellung in der Fabrik, fast leitend, war unhaltbar, denn sein Mitarbeiter, der um acht Jahre jüngere Mitarbeiter, wurde Chefchemiker, stand über Edgar. Die Erfindung, bei dem verpfändeten Gehalt die einzige Rettung, war beiden Chemikern bekannt. Trat Edgar aus, blieb dem Jüngeren alles, mit ihm zusammenzuarbeiten war trotz der Demütigung, die der alternde Edgar auf sich nehmen wollte, unmöglich. Der Direktor der Fabrik war machtlos. Anschütz war der Herr, Anschütz hatte es so verfügt. Aber die Erfindung, das neue Rot, wurde von Anschütz dem Assistenten zuerkannt. Edgar hätte doch nichts dabei getan, als die schmutzigen Probiergläser auszuwaschen, und sich unaufhörlich die farbigen Hände mit Bimsstein zu reinigen. Das war Lüge? Dann sollte doch Edgar persönlich zu Anschütz, und freundschaftlich alles aufklären. Edgar ging. Anschütz war stets unerreichbar. Man ließ ihn warten, niedersitzen in einem ungeheizten Zimmer, nebenan war Anschütz zu hören, wie er lachte, mit Esther sich lange unterhielt, seine Schritte schienen oft nahe der Tür, seine Hände drückten schon an der Klinke; Edgar erhob sich, aber niemand kam, es wurde still. Edgar nahm sich zusammen, er trat ein, fand Esther allein. Sie war sehr elegant, mit Schmuck behängt, sehr verjüngt, ein junges Mädchen, ein glücklicher Mensch.

       „Was willst du? Deine Stelle ist vergeben, nicht einem besseren, einem anderen einfach. Warum hast du so lange gewartet? Die Stadt ist zu klein für Edgar und Esther. Die Welt ist groß. Man wird dich entschädigen. Du erhältst Nachricht. Kommen? Nein, man schreibt dir.“

       Nach kurzer Zeit kam ein Angebot. Edgar reiste in den Ort, der frühere Chemiker war an Lungenblutungen erkrankt, er lag in elendem Zustande in einem verlotterten Hotelzimmer. Die Tätigkeit, unaufhörlich in feuchten Salzsäuredämpfen, verätzte jede Lunge, auch sein Vorgänger sei erkrankt, erzählte er und warnte.

Edgar kehrte zu Esther zurück. „So, das ist schade,“ immer lächelnd, „wozu es leugnen, ich will dich nicht hier.“


       „Man wird mich nicht sehen.“

       „Aber, Edgar, wozu die Demütigung, vor ihm, meinem Mann. Du!“

       „Denke doch, du zwingst mich zum Selbstmord, erinnere dich . . .“

       „Erinnern? Liebe ich dich nicht? Aber wir sprechen von Geschäften. Warum hast du deine Papiere nicht behalten, du wärest Millionär. Wozu es leugnen, es machte mir Spaß, und für ihn, meinen Mann, war es ein gutes Geschäft. Mein Rat ist: Gehe ruhig in die Fabrik, die neue Farbe gelingt dir, dann bist du dein eigener Herr. Das war doch stets dein Wunsch. Aber beeile dich, auch die Stelle dort könnte besetzt sein.“

       Edgar reiste hin, arbeitete den ganzen Winter dort, schlief in dem Bett des erkrankten Vorgängers in dem verlotterten Hotel. Die Zeit war fürchterlich, er hatte alle Mühe für die Fabrik, dazu reichte kaum der Tag, die Nacht brauchte er für sein Rot.

       In einer Märznacht schlief er bleiernen Schlaf, auf die Glasplatte des Tisches gesunken. Er träumte, er schwämme durch das Meer, im Munde alle salzige Bitternis des Meerwassers, und Esther, über den Bord eines Schiffes gelehnt, schütte neue Bitternis in seinen Schlund. Er erwachte. Es war Blut.

       Er reiste zurück, zu dem einzigen Menschen, den er kannte, Esther: „Blut? Einfache Lungenblutungen, Tuberkulose ist es nicht.“

       „Du bist gut unterrichtet.“

       „Ich denke viel an dich, weil ich dich liebe. Du bist grau geworden. Mußt du das?“

       Sie fuhr mit ihrer Hand in den Schlitz seines Hemdes, befühlte wie ein Liebender Edgars Brust, sein hart pochendes Herz, seine Haut, die schwamm in bitterer Feuchtigkeit.

       „Ich will dir etwas sagen, aber nicht hier. Ich will dir etwas vorschlagen, nur ein Geschäft, aber nicht hier, willst du?“

      „Komm zu mir?“

       „Kommen? Wohin?“

       „Hast du vergessen, wo ich wohnte? Esther, hast du vergessen? . . .“

       „Habe ich vergessen?“ sagte sie und ein fürchterliches Lächeln ging um ihren Mund.


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