lifedays-seite

moment in time

 
 
Literatur


04.3



Geschichten
Ernst Weiß

Die Verdorrten


Die Verdorrten - Seite 4

VII.

       Am nächsten Abend, Esther zu Edgar: „Was ich von dir will? Ein nacktes Geschäft. Ich bin zwei Jahre verheiratet, mein Mann ist jung, ist stark, jünger, stärker als du. Aber ich bin nicht mehr fruchtbar.

       Meine Brust hat zu fließen nicht mehr aufgehört, in mir ist es Mutter, wie kann ich weiterleben? Steh jetzt nicht auf, rühre dich nicht, du wirst deine Kräfte noch brauchen, heute Nacht, das ist mein Geschäft.

       Du bist in Geldsorgen, so kann dir nur durch Geld geholfen werden. Dieses Geld erhältst du, wenn du mir meinen Willen tust und dann verschwindest, das wird auch deine Absicht sein, denn zu sagen haben wir uns sonst heute nichts. Nimm mich, aber nimm mich nicht als die Esther, die du gehabt hast. Jetzt will ich nur eins: fruchtbar sein. Ich bin ohne Kleider vor dir gelegen, nackt bin ich jetzt vor ihm, nachts wälze ich mich über ihn, meinen Mann, aber er ist eine unfruchtbare Quelle, wer konnte das vorher wissen? Aber jetzt genug Worte, ist es dir heute recht? Kann ich angezogen bleiben, soll ich nackt sein, mir ist es gleich. Wie alles, nur das eine nicht, ‚es‘.“

       Er tat es aus Not. Ohne Worte, wie sie es verlangte, umwand er die verwandelte Geliebte in eine kalte Umarmung.

     „Liebe ich dich noch?“ sagte sie, „zürne ich dir, du hast mich zum Menschen gemacht, du hast mich zum Tier gemacht. Und du, und du,“ sie strich mit steinernem Finger eine tiefe Linie von der Halsgrube über das Brustbein den Leib hinab den schmerzlich aufatmenden Geliebten, „jetzt, wo du leidest, bist du Mann. Deine Lunge wund? Daß deine Wunde nicht außen liegt, Esther würde dich heilen.“ Sie überbreitete sich ihm, Feuchtigkeit, lauwarme, streifte, wie einer Weide regengetränkte Zweige, seine hingestreckte Gestalt, ihre langen Augenwimpern, tränenumflossen, liebkosten sein vereistes Herz mit Liebkosungen, ungeahnt.

       Er fühlte: Hätte ich doch einen Stachel, eisern, rostig, mit Widerhaken, damit ich ihn in sie bohren könnte!

       Er sagte: Mein Geld, wann?

       „Morgen, erwarte mich etwas früher.“

       Am nächsten Tage war sie schon um fünf Uhr da, sie verdunkelte das Zimmer, entkleidete sich, erwartete ihn. War er roh, sie freute sich. Geld brachte sie nicht.

       Am dritten Tage: „Es ist genug, ich will nicht mehr.“

       „Was habe ich dir getan? Edgar?“

       „Was noch? Du weißt alles. Mein Vermögen . . .“

       „Mein Kind . . .“

       „Meine Stellung, meine Zukunft, die Erfindung . . .“

       „Mein Kind . . .“

       Er riß Furchen in sein verstörtes Gesicht, er grub mit seinen von der Färberarbeit farbig gebeizten Fingern Gruben zwischen Stirn und Mund: „Meine Gesundheit, mein Leben, mein Mund voll Blut?“ Sie schwieg. „Bist das alles nicht du?“

       „Es ist heute zum letztenmal, der Abschiedstag. Wobei soll ich schwören?“ Auch am nächsten Tage brachte sie nur Zärtlichkeiten, Geld aber nicht. Er ergriff die im Zimmer lüstern Umhertaumelnde an den Fußknöcheln, stürzte sie von untenher krachend auf den Erdboden.

 „Hast du kein Erbarmen, was bin ich dir?“

       „Liebling“ flötete Esther.

       „Noch bin ich nicht wehrlos. Für mich habe ich nichts mehr zu hoffen, endlich sehe ich das Muß, aber du sollst nicht reine Freude haben.“ Er fuhr mit beiden Händen unter ihr Beinkleid, mit den Händen es ausweitend, zerfetzte er es zischend, mit den Nägeln riß er Stücke heraus und ballte sie in einen Knäuel in seiner Faust. Sie hielt ihm ihr weißes Gesicht entgegen, voll Hohn: „Wie willst du mir drohen?“

       „Ein Wort an deinen Mann . . .“

       „Und wenn er es weiß? Wenn er mich herschickt zu dir? Aber gleich. Es ist genug. Ich bin zu versöhnen. Ich bin es nicht, es ist meine Natur. Meine Natur will Befriedigung, ein Kind, lebendigen Samen. Was ist Esther als Geliebte? Du hast mich gehaßt, in dem, was aus mir kommen sollte. Was bin ich als Gattin?“ Sie breitete die zerrissenen Stücke Spitze auf ihren Fingern aus und blies mit lauem Atem hindurch. „Als Mutter werde ich leben.“

       Nach einer Woche kam sie, aber sie verdunkelte das Zimmer nicht, warf sich ihm nicht hin.
       „Es wächst in mir.“

       „Und . . .“

       „Hast du es nur des Geldes wegen getan? Ist das noch Edgar? Einerlei, morgen bringe ich dir das Geld. Um vier Uhr erwarte mich.“

       Edgar verbrachte die Nacht schlaflos aus Haß.

       Um vier Uhr übergab sie ihm einen Scheck, um viertel fünf erschien Anschütz, von Edgar durch ein anonymes Telegramm bestellt. „Bin ich zugrunde gegangen,“ sagte er zu Esther, während der Mann an der Tür pochte, „dann wenigstens nicht allein.“

       „Warte ab“, sagte Esther, sie trat Anschütz mit Unbefangenheit entgegen. „Mein Jugendfreund“, sagte sie, wie sie vor Jahren zu dem dienenden Weib gesagt hatte. „Mein Bruder.“

       Anschütz ging scheinbar beruhigt mit Esther fort, Edgar wurde seiner Infamie nicht froh, das Geld wurde ihm nicht ausgezahlt, Esther hatte es gesperrt.

       Edgar konnte ohne Geld die verhaßte Stadt nicht verlassen. Er bekam nach langem Suchen eine Stelle als Hilfschemiker in einer Anstalt, wo man Kot, Urin, Auswurf chemisch untersuchte, aber auch zu dieser Arbeit ließ man ihn nur widerwillig zu, da ältere Kräfte wie er als schwer behandelbar galten. Und dann, was konnte ein Mensch leisten, der es in Edgars Alter zu keiner Position gebracht hatte und sich in den Zeitungen anbot?

       In der Mitte des Sommers traf Edgar Esther. „Du bist immer noch hier? Konntest nicht fort. Ich bin unschuldig. Anschütz hatte Verdacht, es durfte kein größerer Betrag auf geheimnisvolle Art ausgegeben werden, du verstehst.“

       „Aber du hast doch den Scheck schon vorher gesperrt.“

       „War es nicht gut für mich? Ich kannte dich.“

       „Willst du mich jetzt gehen lassen?“

       „Hast du keine Zeit für mich? Ich könnte dir manches erzählen, komm mit mir ins Freie, in den Wald, wo wir damals waren, erinnerst du dich?“

       Während der Fahrt: „Wie lebst du? Du siehst nicht gut aus, bist du denn wirklich krank? Deine Erfindung? Dein tägliches Brot?“

       „Ich untersuche, was die Menschen auswerfen, sie bringen Kot in kleinen Töpfen von Liebigs Fleischextrakt, eitrigen Speichel in Wassergläsern, die mit einem Taschentuch oben zugebunden sind, und anderes —, aber genug, auch so kann man leben.“

       Sie stiegen an der gleichen Station aus, wie an dem späten Abend im April, nach dem Gewitter, sie suchten die Gegend des stürmenden Laufes, die Waldblöße, den Winkel, wo sie sich endlich, einer hinstürzend über den andern in verzweifelter Umarmung berauscht hatten, aber sie fanden die Gegend nicht mehr.

       „Wie sollten wir den Eingang zur Hölle finden, da wir doch mitten in ihr leben? Ich habe ‚es‘ noch nicht, bin noch nicht gerettet, Anschütz hat Verdacht, er berührt mich seit dem Abend bei dir nicht mehr, er lauert mir auf, spioniert mir nach, sieh her“, sie streifte den Ärmel ihrer spitzenumflossenen Bluse von der Schulter, eine leicht verharschte Wunde wies sich. „Verstehst du das? Diese Wunde gibt alle vier Wochen Blut. Dieses Blut soll Anschütz täuschen, mein Kind vor ihm schützen, inzwischen,“ sie rauschte auf der Erde zusammen und schwere Wolken starken Parfüms erhoben sich zu Edgar, „inzwischen locke ich ihn Nacht für Nacht, mit was man Menschen seiner Art lockt, bis es gelingt. ‚Es‘ wird leben, ich lebe in zweifacher Welt, wachend hier, schlafend dort, ich fühle, wie es in mir aufgeht, ich habe etwas, das du nie gekannt hast, auch in meiner ersten Nacht nie, ich höre immer, wie es lebt in mir.

       Sie standen zwischen harzstrotzenden jungen Bäumen, in wehenden Wänden ohne Dach, in hoch flirrendem Mittag.

       Alles an ihr starrte wie heißes Erz ihm entgegen, ihre gewaltige Brust mit blauschwarzem Hof in der Mitte, glühte. „Bist das nicht du, Edgar, jetzt erst du?“ Adern in verknäuelten Strängen zogen von allen Seiten dieser Brust zu, vor seinen Augen sah Edgar diese Brust sich wie Wolken senken, die Brustwarzen sich abwärts, herzwärts neigen, einem Kinde entgegen, das geahnt war in diesem Augenblick aufzusteigen aus dem geschwellten Leibe zu der glühenden Quelle dieser mütterlichen Brust.

       „Ich werde dich nicht vergessen, bald muß es sich entscheiden, wird das Kind gerettet, ich schwöre es dir, dann bist du es auch!“ So kehrten sie in die Stadt zurück.
 
 
VIII.
 
       Nach vier Wochen war abends Esther vor der Schwelle von Edgars Tür, dort hatte sie den ganzen Nachmittag gewartet. Auf das Fensterbrett des nächsten Stockwerks gehockt, da sie in ihrem Zustand nicht lange stehen konnte. Statt der Worte zeigte Esther, die sonst so knabenschlanke ihre wie Säulen angeschwollenen Beine. Stumm spielte sie mit dem Geliebten von einst, griff ihm in die Hosentasche, holte loses Geld heraus, ließ es klingeln, „ist das alles?“ machte einen Zug in seine Brusttasche, entfaltete die gefundenen Banknoten wie Spielkarten zu einem Fächer in ihrer Hand, legte schließlich ihre Ohrgehänge hinzu, Ringe, eine kleine Uhr. „Das ist unser Geld, ich kehre zu meinem Mann nicht mehr zurück. Für ihn spiele ich umsonst Komödie. Für mich, sagt er, die Wunde an der Schulter, wer könnte derartiges glauben, wenn dein Bauch den Leuten zum Gelächter dient, wenn deine Elefantenbeine jeden Strumpf zerreißen. Ich habe Liebe nie verlangt, sagt er, bloß Aufrichtigkeit, du warst nicht schön, bist mittellos, Edgars abgelegte Geliebte, ich liebte dich trotzdem, sagt er, aber das da, und er faßt an meinen Leib, wessen Frucht? Mein Kind ist das nicht. Du bist um zwanzig Jahre jünger als ich, dein Kind ist um dreißig Jahre jünger als du, ihr werdet mich beerben. Würdet, sagt er. Mord könnte ich verstehen, Diebstahl nicht, dein Kind bestiehlt mich und meine Nachkommen, an denen du nicht hättest verzweifeln müssen. Dienstboten traten ein. Schweige jetzt, sagte ich. Nein, sagt er, es mögen alle davon wissen, nur so entgeht man dem Gespött, ich lege keinen Wert mehr darauf, dich als Hausfrau hier zu sehen. Ich ging. Zu wem zurückkehren?

       Nun sind wir eins, nicht mehr zwei, ich habe mich zugrunde gerichtet mit dir und mein Kind. Hätte ich dir deinen Sündenlohn gegeben, dann hätten alle drei Brot. Ist es vorbei? Was bist du, was hast du? Und vor allem eins: läßt du „es“ am Leben?“

       Edgar ließ „es“ leben. Er selbst kündigte, weil Esther es so riet, die Stellung am Untersuchungslaboratorium, sein früherer Assistent hatte die Erfindung jener Farbe nicht vollendet, es bestand noch die Möglichkeit für ihn, die Sache zum Gelingen zu bringen. Esther verkaufte alles, was sie an Schmuck hatte, man schaffte dafür eine chemische Wage, einen Arbeitstisch, Platintiegel an, eine große Anzahl von Flaschen kam, da schon die Ausdünstung von ganz unschuldigen Lösungen Edgars kranke Kehle reizte, in den Raum zwischen den Fenstern. Esther diente ihm wie eine Magd, so retteten sie durch die Sommermonate ein erbärmliches Dasein, die Arbeit ging ohne Glück vor sich.

       Eines Nachts erwachte Edgar, Blut auf die von Esther frisch gewaschenen Kissen speiend. Esther, hochschwanger, flackernd im Kerzenlicht, riß ihm den Kopf aus dem Bereich der Kissen, tauchte ein Handtuch in Wasser, hielt es ihm unter den Mund.

„Blut!“ stammelte er.         
                       
       „Nun, Blut! Mußt du die Kissen beschmutzen, wir müssen darauf liegen, wer wird sie waschen?“ Schluchzend: „Nun erst ist ‚es‘ verloren, wo es gebären, für wen zuerst sorgen, wohin es legen? wenn er schon da liegt!“ Sie faßte das Handtuch und preßte es aus, blutige Flüssigkeit tröpfelte zur Erde, mit ihren Tränen vereint; so verbrachte sie stöhnend die Nacht und ließ die Hand nicht von Edgars Stirn.

       Am nächsten Morgen ging sie zu dem Weib, das sie in funkelnder Wachsschürze, glänzend wie ein Insekt, empfing, als wäre sie gestern eben von dort fortgegangen. Der Arzt, höflich, gemein, alltäglich zugewandt dem unerhörtesten Mord der Mutter an ihrer Mütterlichkeit, tat, was man von ihm erwartete, wofür sie ihn mit dem letzten Gelde bezahlte. Das Kind wurde vertilgt. Sie kehrte zu Edgar zurück, pflegte ihn, bis er sich wieder erheben konnte, um in das Untersuchungslaboratorium zurückzukehren, wo man ihn aus Mitleid wieder einstellte. Auch Esther verdiente ihr tägliches Brot.

       Edgar und Esther lebten miteinander viele Jahre, nachdem sie einander geliebt hatten. Sie wehrten sich nicht gegen Kindersegen, als sich ihre Einkünfte gehoben hatten, aber es kam nichts mehr.

       Sie wohnten am äußersten Ende der Stadt, liebten sich nicht und haßten sich nicht, der Spiegel in dem Glase Wasser zwischen ihnen bei den grauen Mahlzeiten trübte sich nicht; rührt sich nie, sie lebten ihre alternde Zeit, als wäre es Unsterblichkeit, sie erwarteten weder Gutes noch Böses. Er, der Irrsinn und menschenleere Einsamkeit gefürchtet hatte, war verflucht zu endlosem Alter, nie von Esther verlassen, sie, die Mutter ohne Samen, verdorrt, ein Strauch am Gestein.


oben

_____________________________




  lifedays-seite - moment in time