Ellen
Key
in
herzlichem Gedenken der hellen Herbsttage
von
Bagni di Lucc
O
Kindheit, wie ich hinter deinen Gittern,
Du
enger Kerker, oft in Tränen stand,
Wenn
draußen er mit blau und goldnen Flittern
Vorüberzog,
der Vogel Unbekannt.
O
Nächte Ungeduld, da sich die Hand
Am
Riegel wundriß – schon fühlt ich das Zittern
Verfrühter
Wünsche mir im Blut gewittern –
Bis
ich ihn brach und frei die Ferne fand!
Kaum
daß ich blickte, war ich schon entsprungen.
Mein
war die Welt! In hundert heißen Schauern
Verlor
sich das verbreiterte Gefühl.
Und
doch, Entsinnen bringt mir oft Bedauern:
»O
süße Angst der ersten Dämmerungen!
O
könnt ich heim! Wie war ich rein und kühl!«
Geschichte
in der Dämmerung
Hat
der Wind wieder Regen über die Stadt geweht, daß es plötzlich so
dunkelt in
unserem Zimmer? Nein. Die Luft ist silbern klar und still, wie selten
in diesen
Sommertagen, aber es ist spät geworden, und wir haben es nicht bemerkt.
Nur die
Dachfenster gegenüber lächeln noch in leisem Glanz, und der Himmel über
dem
First ist schon mit goldenem Rauch umflort. In einer Stunde wird es
Nacht sein.
In einer wundervollen Stunde, denn nichts ist schöner zu sehen als
diese Farbe,
die allmählich welk wird und sich verschattet, und dann im Zimmer das
Dunkel,
das vom Boden aufquillt, bis schließlich die schwarzen Fluten lautlos
über den
Wänden zusammenschlagen und uns mittragen in ihre Finsternis. Wenn man
da
einander gegenübersitzt und sich ansteht ohne Wort, will es einem
scheinen in
dieser Stunde, als würde das vertraute Gesicht in den Schatten älter
und
fremder und ferner, als hätte man sich nie so gekannt und sähe sich an
über
einen weiten Raum und viele Jahre. Aber du willst jetzt das Schweigen
nicht,
sagst du, weil man sonst zu beklommen hört, wie die Uhr die Zeit in
hundert
kleine Splitter zerschlägt und das Atmen in der Stille laut wird, wie
das eines
Kranken. Ich soll dir jetzt etwas erzählen. Gerne. Freilich nicht von
mir, denn
unser Leben in diesen endlosen Städten ist ja arm an
Erlebnis, oder es scheint uns so, weil wir noch nicht wissen, was uns
wirklich
zu eigen gehört. Aber ich will dir eine Geschichte erzählen für diese
Stunde,
die eigentlich nur das Schweigen liebt, und ich wollte, sie hätte etwas
von
diesem warmen, weichen, flutenden Licht der Dämmerung, das schleiernd
vor
unsern Fenstern schwebt.
Ich weiß nicht, wie diese Geschichte zu
mir kam. Ich
bin nur, dessen entsinne ich mich, am frühen Nachmittage hier lang
gesessen,
habe in einem Buche gelesen und es dann sinken lassen, hindämmernd in
Träumerei, vielleicht auch in leisen Schlaf. Und plötzlich sah ich
Gestalten
hier, und sie glitten die Wand entlang, und ich konnte ihre Worte hören
und in
ihr Leben sehen. Doch als ich den Entschwindenden nachblicken wollte,
war ich
schon wieder wach und allein. Zu meinen Füßen gesunken, lag das Buch.
Nun ich
es aufhob und nach den Gestalten frug, fand ich darin die Geschichte
nicht
mehr; es war, als sei sie aus den Blättern in meine Hände gefallen,
oder sie
war nie darin gewesen. Vielleicht hatte ich sie geträumt – oder in
einer jener
bunten Wolken gelesen, die heute von fernen Ländern in unsre Stadt
kamen und
den Regen forttrugen, der uns so lange bedrückte. Oder hatte ich sie
aus jenem
einfältigen alten Lied gehört, das eine Drehorgel melancholisch
unter meinem Fenster knarrte, oder hatte sie jemand mir vor Jahren
erzählt? Ich
weiß es nicht. Solche Geschichten kommen oft zu mir heran, und ich
lasse ihre
Geschehnisse spielend durch meine Finger rinnen, ohne sie festzuhalten,
so wie
man Ähren und hochstengeligen Blumen im Vorübergehen schmeichelt, ohne
sie zu
pflücken. Ich träume sie nur von einem jähen farbigen Bild zu einem
sanfteren
Ende, aber ich fasse sie nicht. Doch du willst heute von mir eine
Geschichte,
und so erzähle ich sie dir jetzt in dieser Stunde, da die Dämmerung uns
sehnsüchtig macht, Buntes und Bewegtes vor unsern Augen leuchten zu
sehn, die
im Grau verarmen.
Wie soll ich beginnen? Ich fühle, ich muß
einen
Augenblick aus dem Dunkel herausheben, ein Bild und eine Gestalt, denn
so
beginnen auch in mir diese seltsamen Träume. Nun entsinne ich mich
schon. Ich
sehe einen schlanken Knaben, der die breitstufige Treppe eines
Schlosses
niedersteigt. Es ist Nacht und eine Nacht mit nur mattem Mondlicht,
aber ich
umfasse wie mit einem erhellten Spiegel jede Kontur seines
geschmeidigen
Körpers, sehe genau in seine Züge. Er ist außerordentlich schön.
Kindhaft
gekämmt fallen die schwarzen Haare glatt über die fast überhohe Stirne,
und die
Hände, die er im Dunkel vorbreitet, um die Wärme der
durchsonnten Luft tastend zu fühlen, sind sehr zart und edel. Sein
Schritt
zögert. Verträumt steigt er nieder zu dem großen, mit vielen runden
Bäumen
rauschenden Garten, durch den wie ein weißer Steg eine einzige breite
Chaussee
strahlt.
Ich weiß nicht, wann dies alles geschieht,
ob gestern
oder vor fünfzig Jahren, und ich weiß nicht wo, aber ich glaube in
England muß
es sein oder in Schottland, denn nur dort kenne ich so hohe
breitgequaderte
Schlösser, die von der Ferne wie Kastelle trotzig drohen und sich erst
vertrautem Blick willig zu den hellen blumigen Gärten niederneigen. Ja,
nun
weiß ich es ganz bestimmt, es ist oben in Schottland, denn nur dort
sind die
Sommernächte so licht, daß der Himmel milchig glänzt wie ein Opal und
die
Felder nie dunkel werden, daß alles wie von innen leise leuchtend
scheint und
nur die Schatten, schwarzen Riesenvögeln gleich, in die hellen Flächen
niederfallen. In Schottland ist es, oh, nun weiß ich es ganz, ganz
bestimmt,
und wenn ich mich mühte, fände ich diesem gräflichen Schlosse den Namen
und dem
Knaben auch, denn nun schält sich rasch die dunkle Rinde los von dem
Traume,
und alles fühle ich so deutlich, als sei es nicht Entsinnung, sondern
Erlebnis.
Der Knabe ist während des Sommers bei seiner
verheirateten Schwester zu Gast und nach der freundschaftlichen Art der
vornehmen englischen Familien nicht allein; abends versammelt die Runde
eine
ganze Reihe Jagdfreunde und ihre Frauen, dazu ein paar Mädchen, hohe
schöne Menschen,
deren Heiterkeit und Jugend lachend und doch nicht lärmend mit dem Echo
der
alten Mauern spielt. Tagsüber sprengen Pferde hin und her, Hunde werden
in
Koppeln gebracht, drüben auf dem Fluß glitzern zwei, drei Boote: eine
Regsamkeit ohne Geschäftigkeit gibt dem Tag einen angenehm schnellen
Rhythmus.
Aber jetzt ist es Abend, die Tischrunde
gelöst. Die
Herren sitzen im Saal, rauchen und spielen; bis Mitternacht fallen von
den
hellen Fenstern weiße, an den Rändern zitternde Lichtkegel in den Park
hinein,
manchmal auch ein volles, launiges Lachen. Die Damen sind meist schon
auf ihren
Zimmern, eine oder zwei plaudern vielleicht noch in der Vorhalle
mitsammen. Und
so ist der Knabe abends ganz allein. Zu den Herren darf er noch nicht
oder nur
für einen Augenblick, und vor der Nähe der Frauen hat er Scheu, denn
oft, wenn
er die Türe aufklinkt, senken sie plötzlich die Stimmen, und er spürt,
sie
reden Dinge, die er nicht hören soll. Und überhaupt, er liebt ihre
Gesellschaft
nicht, denn sie fragen ihn wie ein Kind und hören nur
lässig seine Antwort, sie nützen ihn bloß zu tausend kleinen
Gefälligkeiten aus
und danken ihm dann wie einem artigen Buben. So hat er zu Bett gehen
wollen und
war schon die krumme Treppe hinaufgegangen; aber das Zimmer war zu warm
gewesen,
vollgepreßt mit dumpfer unbewegter Schwüle. Man hatte vergessen, bei
Tag die
Fenster zu schließen, und so hatte die Sonne sich hier breit gemacht:
den Tisch
hatte sie heiß gezündet und das Bett angeglüht, auf den Wänden lastend
gelegen,
und noch zittert erregt ihr schwüler Atem aus den Winkeln und
Vorhängen. Und
dann: so früh war es noch – und draußen leuchtete die sommerliche Nacht
wie
eine weiße Kerze, so ruhig, so windstill, so sehnsuchtslos still. Und
da ist
der Knabe die hohe Schloßtreppe wieder hinabgestiegen zu dem Garten,
über
dessen dunkler Runde der Himmel mattleuchtend liegt wie ein
Heiligenschein und
wo ein voller, von vielen unsichtbaren Blüten entatmeter Duft ihm
lockend
entgegenbebt. Seltsam ist ihm zumute. Er wüßte nicht zu sagen wie, in
dem
verwirrten Gefühl seiner fünfzehn Jahre, aber seine Lippen beben so,
als müßte
er irgend etwas in die Nacht hinsprechen oder die Hände heben oder die
Augen
lange schließen, als sei irgendein Geheimnisvoll-Vertrautes zwischen
ihm und dieser ruhenden Sommernacht, das Rede wollte
oder ein Zeichen des Grußes.
Langsam geht der Knabe aus der breiten,
offenen Allee
in einen der schmalen Seitengänge, wo sich die Bäume hoch oben mit
silbern
bestrahlten Kronen zu umarmen scheinen, unten aber nachtschwer das
Dunkel liegt.
Ganz still ist es. Nur jenes unbeschreibliche Getön der Stille in einem
Garten,
jenes summende Schwingen, als fiele ein weicher Regen ins Gras oder
streiften
die Halme hellsurrend einander, weht an den Schreitenden heran, der
ganz
verloren ist in süßer unfaßbarer Schwermut. Manchmal rührt er leise
einen Baum
an oder bleibt stehen, um dem flüchtigen Getön nachzulauschen: der Hut
drückt
ihm die Stirne, und so legt er ihn ab, um an den nackten Schläfen, wo
sein Blut
klingt, die Hand des schläfrigen Windes zu fühlen. Da, mit einem Male,
wie er
tiefer in das Dunkel tritt, geschieht etwas Unerhörtes. Hinter ihm
knirscht
leise der Kies. Und da er sich erschreckt umwendet, sieht er nur noch
das
flatternde Leuchten einer hohen weißen Gestalt auf sich zu, und schon
an ihm,
und erschrocken fühlt er sich stark und doch ohne jede Gewalt von einer
Frau
umfangen. Ein warmer, weicher Körper preßt sich drängend an den seinen,
eine Hand streift rasch und schaudernd über sein Haar
und beugt seinen Kopf zurück: taumelnd fühlt er an seinem Mund eine
fremde,
aufgetane Frucht, zitternde Lippen, die sich in die seinen einsaugen.
So nahe
ist dieses Gesicht dem seinen, daß er die Züge nicht sehen kann. Und er
wagt es
nicht, denn wie Schmerz schlägt Schauer seinen Leib, daß er die Augen
schließen
muß und sich willenlos als Beute diesen brennenden Lippen hingeben;
unentschlossen, unsicher wie eine Frage, fassen seine Arme nun diese
fremde
Gestalt, und jäh berauscht preßt er den fremden Leib an sich. Gierig
stießen
seine Hände die weichen Linien entlang, ruhen und zittern wieder fort,
werden
fiebriger und empörter. Immer drängender und schon übergebeugt, eine
selig
schwere Bürde, ruht jetzt die ganze Last des Körpers über seiner
nachgebenden
Brust. Er fühlt sich irgendwie sinken und hinströmen unter diesem
schwer
atmenden Drängen, und schon brechen seine Knie. An nichts denkt er,
nicht, wie
diese Frau zu ihm kam, und nicht, wie ihr Name ist, er trinkt nur mit
geschlossenen Augen von diesen fremden duftfeuchten Lippen die
Begehrlichkeit
in sich, bis er trunken ist, willenlos, sinnlos hintreibend in eine
ungeheure
Leidenschaftlichkeit. Ihm ist, als seien plötzlich Sterne
niedergestürzt, so
ein Flimmern ist vor seinen Augen, und wie Funken
zittert alles und brennt, was er berührt. Und er weiß nicht, wie lange
all dies
dauert, ob es Stunden sind, daß er so weich umkettet ist, oder
Sekunden: alles
fühlt er auflodern in dem wilden Gefühl des wollüstigen Kampfes und
wegtreiben,
hintaumeln in eine wunderbare Schwindligkeit.
Und dann plötzlich, mit einem Ruck,
zerbricht die
heiße Kette. Jäh, fast erbost, läßt die Umklammerung seine umpreßte
Brust, die
fremde Gestalt richtet sich auf, und schon fließt, hell und schnell,
ein weißer
Lichtstreif an den Bäumen vorbei und ist wieder fort, ehe er die Hände
heben
konnte, ihn zu haschen.
Wer war das? Und wie lange hat das
gedauert? Beklemmt,
betäubt richtet er sich an einem Baume auf. Langsam strömt das kühle
Denken
wieder zurück zwischen die fiebrigen Schläfen: um tausend Stunden
scheint ihm
sein Leben plötzlich vorgerückt. Was er verwirrt geträumt hatte von
Frauen und
von Leidenschaft, sollte es plötzlich wahr geworden sein? Oder war es
doch nur
ein Traum? Er tastet sich an, greift sich ins Haar. Ja, es ist feucht
um die
hämmernden Schläfen, feucht und kühl vom Tau des Grases, in das sie
hingestürzt
waren. Nun blitzt alles wieder vorbei vor seinem Blick, er fühlt die
Lippen wieder brennen, atmet den fremden knisternden Duft
der Wollust aus dem Kleid, jedes Wortes sucht er sich zu entsinnen.
Aber keines
fällt ihm ein.
Und jetzt erinnert er sich erschreckt mit
einem Male,
daß sie gar nichts gesprochen, nicht einmal seinen Namen genannt; daß
er nur
ihre überquellenden Seufzer kennt und das Drohen, das krampfig
verhaltene
Schluchzen der Lust, daß er den Duft ihrer verworrenen Haare weiß, den
heißen
Druck ihrer Brüste, den glatten Email ihrer Haut, daß ihre Gestalt, ihr
Atem,
ihr ganzes zuckendes Gefühl ihm zu eigen war und er doch nicht ahnt,
wer diese
Frau gewesen, die ihn mit ihrer Liebe im Dunkel überfiel. Daß er nun
stammeln
muß nach einem Namen, um seine Überraschung, sein Glück zu benennen.
Und da scheint ihm das Unerhörte, das er
soeben
plötzlich mit einer Frau erlebt, arm, ganz arm und nichtig gegen das
funkelnde
Geheimnis, das mit lockenden Augen aus dem Dunkel auf ihn starrt. Wer
war diese
Frau? Im Flug überdenkt er alle Möglichkeit, versammelt die Bilder
aller
Frauen, die hier am Schlosse leben, vor seinem Blick; jede seltsame
Stunde ruft
er zurück, jedes Gespräch mit ihnen gräbt er aus seiner Erinnerung,
jedes Lächeln der fünf, sechs Frauen, die einzig in diesem
Rätsel verstrickt sein könnten. Die junge Gräfin E., die oft so heftig
ihren
alternden Mann anfuhr, vielleicht, oder die junge Frau seines Onkels,
die so
seltsam sanfte und doch irisierende Augen hatte, oder – er erschrak bei
dem
Gedanken – eine der drei Schwestern, seine Cousinen, die einander so
ähnlich
sind in ihrer hohen, stolzen, schroffen Art? Nein – aber die waren doch
alle
kühle, bedächtige Menschen. Wie ein Verstoßener, Kranker hatte er sich
in den
letzten Jahren oftmals gedünkt, seit geheime Gluten in ihm wühlten und
flackernd in seine Träume fielen, wie hatte er alle die beneidet, die
so ruhig,
so schwindelfrei und begierdelos waren oder schienen, hatte sich
geängstigt vor
seiner erwachenden Leidenschaft, wie vor einem Gebrest. Und nun . . .?
Aber
wer, wer unter allen diesen wußte so zu täuschen?
Langsam löst die beharrliche Frage den
Rausch aus
seinem Blut. Es ist spät geworden, die Lichter im Spielsaal sind
verlöscht, er
allein wacht noch im Schloß, er – und vielleicht noch jene Andere,
Unbekannte.
Leise drängt ihn die Müdigkeit. Wozu noch sinnen? Ein Blick, ein
Funkeln
zwischen den Lidern, ein heimlicher Händedruck muß ihm ja morgen alles
verraten. Träumerisch steigt er die Treppe hinauf,
träumerisch wie er sie hinabgestiegen, aber doch so unendlich anders.
Sein Blut
ist noch leise erregt, und das erwärmte Zimmer scheint ihm jetzt klarer
und
kühler zu sein.
Wie er aufwacht am
nächsten Morgen,
stampfen und
scharren schon unten die Pferde, er hört Stimmen lachen und seinen
Namen
dazwischen. Rasch springt er auf – das Frühstück ist versäumt – zieht
sich
fieberschnell an und stürmt hinab, wo ihn die andern schon fröhlich
empfangen.
»Langschläfer«, lacht ihm die Gräfin E. entgegen, und das Lachen blinkt
aus
hellen Augen. Ein gieriger Blick faßt ihr Gesicht; nein, nein, sie
konnte es
nicht sein, ihr Lachen ist zu unbekümmert. „Süß geträumt“, spottet die
junge
Frau, aber zu schmächtig scheint ihm ihr zarter Körper. Rasch flattert
seine
Frage von Gesicht zu Gesicht, aber auf keinem wartet ein lächelnder
Widerschein.