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Literatur


04.3


Geschichten Stefan Zweig

Geschichte in der Dämmerung
aus
Vier Geschichten aus Kinderland






Geschichte in der Dämmerung - Seite 4

Ein Pferd wird gesattelt, und einer reitet in den nächsten Ort um einen Arzt. Gespenstig belebt sich das aufgeschreckte Schloß: Lichter zittern wie Johanniskäfer in den Gängen auf, Stimmen flüstern und fragen aus den Türen heraus, die Diener kommen scheu und schlaftrunken, und endlich trägt man den Ohnmächtigen hinauf in sein Zimmer.
 
Der Arzt konstatiert einen Beinbruch und beruhigt alle, daß keine Gefahr sei. Nur lange müsse der Verunglückte reglos liegen bleiben im Verband. Wie man es dem Knaben sagt, lächelt er matt. Es trifft ihn nicht schwer. Denn es ist schön so zu liegen, lange allein, ohne Lärm und Menschen, in einem hellen, hohen Zimmer, an das die Bäume mit den Wipfeln heranrauschen, wenn man träumen will von einer, die man liebt. Es ist süß, alles so in Ruhe zu überdenken, leise Träume zu träumen von der einen, ungestört zu sein von allen Verrichtungen und Pflichten, traulich allein mit diesen zarten Traumbildern, die an das Bett treten, wenn man die Lider für einen Augenblick schließt. Die Liebe hat vielleicht keine stillschöneren Augenblicke als die dieser blassen, dämmernden Träume.
 
Noch ist der Schmerz stark in den ersten Tagen. Aber es ist ihm eine eigentümliche Wollust beigemengt. Der Gedanke, daß er um Margots, um der Geliebten willen, den Schmerz erlitten habe, gibt dem Knaben ein sehr romantisches und fast überschwengliches Selbstgefühl. Er hätte gerne eine Wunde gehabt, denkt er sich, blutrot über das Gesicht, daß er sie stet und offen hätte tragen können wie ein Ritter die Farben seiner Dame; oder es wäre schön gewesen, überhaupt nicht mehr zu erwachen, sondern unten liegen zu bleiben, zerschmettert vor ihrem Fenster. Und schon träumt er weiter, wie sie dann morgens erwacht, weil Stimmen unter ihrem Fenster lärmen und durcheinander rufen, wie sie sich neugierig niederbeugt und ihn sieht, ihn, unter ihrem Fenster zerschmettert, um ihretwillen gestorben. Und er sieht, wie sie niederbricht mit einem Schrei; er hört diesen gellenden Schrei in seinen Ohren, sieht dann ihre Verzweiflung, ihren Kummer, sieht sie ein ganzes verstörtes Leben lang in schwarzem Kleid düster und ernst gehen, ein leises Zucken um die Lippen, wenn die Leute sie fragen nach ihrem Schmerz.
 
So träumt er tagelang, zuerst nur im Dunkeln, dann auch schon mit offenen Augen, bald gewöhnt an das wohlige Erinnern des lieben Bildes. Keine Stunde ist zu licht oder zu laut, daß nicht ihr Bild, als lichter Schatten an den Wänden vorbeischleichend, zu ihm käme oder draußen ihre Stimme sich ihm löste vom tröpfelnden Rinnen der Blätter und dem Knistern des Sandes im scharfen Sonnenschein. Stundenlang spricht er so mit Margot oder träumt sich mit ihr auf Reisen und wunderbaren Fahrten. Manchmal aber wacht er wie verstört von diesen Träumereien auf. Würde sie wirklich um ihn trauern? Würde sie sich seiner überhaupt entsinnen?
 
Freilich: sie kommt manchmal den Kranken besuchen. Oft wenn er mit ihr in Gedanken spricht und ihr helles Bild vor ihm zu stehen scheint, geht die Tür auf, und sie tritt herein, hoch und schön, aber doch so anders wie das Wesen der Träume. Denn nicht mild ist sie und beugt sich auch nicht erregt nieder, um seine Stirn zu küssen, wie die Margot der Träume, sondern sie setzt sich nur hin zu seinem Strecksessel, fragt, wie es ihm ginge, ob er Schmerzen habe, und erzählt ihm ein paar bunte Dinge. So süß erschreckt und verwirrt ist er immer von ihrer Gegenwart, daß er sie gar nicht anzusehen wagt; oft schließt er die Lider, um ihre Stimme besser zu hören, das Tönen ihrer Worte tiefer in sich zu saugen, diese eigene Musik, die dann noch durch Stunden schwingend um ihn schwebt. Er antwortet ihr zögernd, denn er liebt das Schweigen zu sehr, wenn er nur ihren Atem vernimmt und so im tiefsten das Alleinsein mit ihr im Raum, im Weltenraume spürt. Und wenn sie dann aussieht und sich zur Türe wendet, reckt er sich, trotz des Schmerzes, mühsam auf, um noch einmal alle Linien ihrer bewegten Gestalt in sich einzuzeichnen, sie noch einmal lebend zu umfassen, eh sie wieder in die unsichere Wirklichkeit seiner Träume stürzt.
 
Jeden Tag fast kommt ihn Margot besuchen. Aber kommt nicht Kitty auch und Elisabeth, die kleine Elisabeth, die ihn sogar immer so erschreckt ansieht und mit so milder, besorgter Stimme fragt, ob ihm noch nicht besser sei? Sieht nicht seine Schwester täglich nach ihm und die andern Frauen, sind sie denn nicht eigentlich alle gleich herzlich zu ihm? Bleiben sie nicht auch bei ihm und erzählen ihm bunte Geschichten? Viel zu lange sogar bleiben sie, denn sie scheuchen ihm mit ihrer Gegenwart die verträumten Sinne fort, wecken sie auf von ihrer sinnenden Ruhe und treiben sie zu gleichgültigen Gesprächen und dummen Phrasen. Er wollte, sie kämen alle nicht und nur Margot käme allein, eine Stunde nur, ein paar Minuten bloß, und dann bliebe er wieder einsam, um von ihr zu träumen, ungestört, unbehelligt, leise froh, wie von linden Wolken getragen, ganz in sich gewandt zu den tröstlichen Bildern seiner Liebe.
 
Manchmal darum, wenn er eine Hand an der Klinke hört, schließt er die Lider und stellt sich schlafend. Dann schleichen die Besucher auf den Zehen hinaus, er hört die Klinke sich zögernd schließen und weiß, jetzt kann er sich wieder in die laue Flut seiner Träume badend stürzen, sanft von ihnen den lockendsten Fernen zugetragen.
 
Und einmal nun geschieht ihm dies: Margot war schon bei ihm gewesen, ganz kurz bloß, aber sie hatte ihm den vollen Duft des Gartens mit ihrem Haar gebracht, das schwüle Quellen aufgeblühten Jasmins und das heiße Funkeln der Augustsonne in ihren Augen. Nun, wußte er, durfte er sie nicht nochmals für heute erwarten. Ein langer, heller Nachmittag würde das nun werden, leuchtend in süßer Träumerei, denn keiner wird ihn mehr stören: alle sind sie ja fortgeritten. Und wie sich nun die Türe wieder zaghaft rührt, klemmt er die Augen zu und heuchelt Schlaf. Aber die Eintretende – ganz deutlich hört er es in dem atemstillen Zimmer – tritt nicht wieder zurück, sondern schließt geräuschlos, um ihn nicht zu wecken, die Türe. Und jetzt mit sorgsamen, kaum den Boden anstreifenden Schritten schleicht sie zu ihm heran. Leise hört er ein Kleid rauschen, und wie sie sich neben sein Lager setzt. Und purpurn brennend fühlt er durch die geschlossenen Augen ihren Blick über sein Gesicht streifen.
 
Sein Herz fängt an unruhig zu pochen. Ist es Margot? Sicherlich. Er fühlt es, aber doch ist es süßer, wilder, erregender, ein heimlicher, lüsterner Reiz, die Augen jetzt nicht aufzuschlagen und sie nur neben sich zu ahnen. Was wird sie tun? Endlos scheinen ihm die Sekunden. Sie sieht ihn nur immer an, belauscht seinen Schlaf, und das prickelt elektrisch durch seine Poren, dieses unbehagliche und doch berauschende Bewußtsein, wehrlos, blind ihrer Betrachtung hingegeben zu sein, zu wissen, daß, wenn er jetzt die Augen aufschlüge, sie jäh wie ein Mantel Margots erschrecktes Gesicht einhüllen würden in ihre Zärtlichkeit. Aber er regt sich nicht, dämpft nur den Atem, der unruhig und stoßend wird in der zu engen Brust, und wartet, wartet.
 
Nichts geschieht. Ihm ist nur, als ob sie sich tiefer niederbeugte zu ihm, als ob er diesen leisen Duft, diesen feuchten, leisen Fliederduft, den er von ihren Lippen kennt, näher an seinem Antlitz fühle. Und jetzt – wie eine heiße Welle stürzt von dort sein Blut in den ganzen Körper – hat sie ihre Hand auf sein Lager gelegt und streift leise über der Decke seinen Arm entlang, ruhige, ganz behutsame Striche, die er magnetisch fühlt und denen das Blut immer wild nachrinnt. Wunderbar ist das Gefühl dieser leisen Zärtlichkeit, berauschend und aufstachelnd zugleich.
 
Langsam, fast rhythmisch, streift noch immer ihre Hand seinen Arm entlang. Da blinzelt er heimlich zwischen den Lidern empor. Zuerst dämmert es nur purpurn rot, eine Wolke von unruhigem Licht, dann nimmt er die dunkel gesprenkelte Decke wahr, die über seinen Körper gebreitet ist, und jetzt, als käme sie weit von fern, die streichelnde Hand; ganz, ganz dämmerig sieht er sie, nur ein weißes, schmales Leuchten, das heranbricht wie eine helle Wolke und wieder weicht. Immer mehr schiebt er den Spalt der Lider auf. Und jetzt erkennt er sie deutlich, die Finger, weiß und glänzend wie Porzellan, sieht, wie sie sanft gekrümmt vorwärtsstreifen und dann wieder zurück, tändelnd, aber doch voll innerer Lebendigkeit. Wie Fühler kriechen sie heran und ziehen sich wieder zurück, und er empfindet in diesem Augenblick die Hand auch als etwas Eigenes und Belebtes, wie eine Katze, die sich an ein Kleid anschmiegt, wie eine kleine, weiße Katze, die mit eingezogenen Krallen sich verliebt schnurrend an einen heranmacht, und er erstaunte nicht, wenn plötzlich ihre Augen zu funkeln begännen. Und wirklich: glänzt da nicht in diesem weißen Heranstreifen blinkender Blick? Nein: es ist nur ein Glanz von Metall, ein Schimmer von Gold. Aber jetzt, wie die Hand wieder vorstreift, sieht er ihn deutlich, es ist das Medaillon, das von dem Armband niederzittert, das geheimnisvolle, verräterische Medaillon, achteckig und pennygroß. Es ist Margots Hand, die seinen Arm liebkost, und das Verlangen zuckt in ihm aus, diese leise, weiße, unberingte, nackte Hand an seine Lippen zu reißen und zu küssen. Aber da fühlt er ihren Atem gehen, spürt Margots Gesicht ganz nahe dem seinen, und da kann er seine Lider nicht länger niederpressen, und beglückt, strahlend schlägt er den Blick auf in das nahe Gesicht, das erschreckt auffährt und zurückweicht.
 
Und da, wie die Schatten des niedergebeugten Antlitzes aufstiegen und die Helle über die erregten Züge hinfließt, erkennt er – und wie ein Schlag zuckt es durch seine Glieder – Elisabeth, Margots Schwester, die junge, seltsame Elisabeth. War das ein Traum? Nein, er starrt in das jetzt von rascher Röte überflogene Gesicht, das die Augen ängstlich wegwendet: es ist Elisabeth. Mit einem Male ahnt er den furchtbaren Irrtum, sein Blick fährt gierig herab zu ihrer Hand, und wirklich, das Medaillon ist daran.
 
Vor seinen Augen beginnen Schleier zu kreisen. Ganz wie damals fühlt er, da ihn die Ohnmacht hinwarf, aber er preßt die Zähne zusammen, er will nicht die Gedanken verlieren. Blitzartig fliegt alles vorbei, eingepreßt in die eine Sekunde, das Staunen, der Hochmut Margots, das Lächeln Elisabeths, dieser seltsame Blick, der ihn anrührte wie eine verschwiegene Hand – nein, nein, da war kein Irrtum möglich.
 
Eine einzige leise Hoffnung zuckt in ihm auf. Er starrt auf das Medaillon hin, vielleicht hat es Margot ihr geschenkt, heute oder gestern oder damals.
 
Aber da spricht schon Elisabeth zu ihm. Dieses fiebernde Nachdenken muß seine Züge verzerrt haben, denn sie fragt ihn ängstlich: »Hast du Schmerzen, Bob?«
 
Wie doch ihre Stimmen ähnlich sind, denkt er. Und antwortet nur gedankenlos. »Ja, ja . . . das heißt, nein . . . es geht mir ganz gut!«
 
Es wird wieder eine Stille. Wie eine heiße Welle kommt der Gedanke immer wieder: vielleicht hat es Margot ihr nur geschenkt. Er weiß, daß es nicht wahr sein kann, aber er muß sie fragen.
 
»Was hast du da für ein Medaillon?«
 
»Ach, irgendeine Münze von einer amerikanischen Republik, ich weiß gar nicht von welcher. Onkel Robert hat sie uns einmal gebracht.«
 
»Uns?«
 
Er hält den Atem an. Jetzt muß sie es sagen.
 
»Margot und mir. Kitty wollte sie nicht. Ich weiß nicht warum.«
 
Er fühlt, wie etwas Feuchtes in seine Augen quillt. Vorsichtig legt er den Kopf zur Seite, daß Elisabeth nicht die Träne steht, die jetzt schon ganz nahe an den Lidern sein muß, die sich nicht zurückzwingen läßt und die jetzt ganz, ganz langsam über die Wange rollt. Er möchte etwas sagen, hat aber Angst vor seiner Stimme, daß sie sich biegen könnte unter dem steigenden Druck des Schluchzens. Beide schweigen sie, einer den andern ängstlich belauernd. Dann steht Elisabeth auf. »Ich gehe jetzt, Bob. Gute Besserung.« Er schließt die Augen, und dann knarrt die Tür leise zu.
 
Wie eine aufgeschreckte Taubenschar flattern jetzt die Gedanken auf. Jetzt erst begreift er das Ungeheure des Mißverständnisses, Scham und Ärger über seine Torheit packt ihn, aber gleichzeitig auch ein wilder Schmerz. Er weiß nun, daß ihm Margot auf immer verloren ist, aber er spürt, daß er sie unverändert liebt, jetzt vielleicht noch mit jener verzweifelten Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Und Elisabeth – wie im Zorn stößt er ihr Bild von sich, denn all die Hingabe und die jetzt so gedämpfte Glut ihrer Leidenschaft können ihm nicht mehr so viel sein wie ein Lächeln Margots oder ihre Hand, wenn sie ihn einmal nur leise anrühren wollte. Hätte Elisabeth damals sich ihm gezeigt, er hätte sie geliebt, denn in jenen Stunden war er ja noch kindhaft in seiner Leidenschaft, aber jetzt hat sich in den tausend Träumen der Name Margots zu tief in ihn eingebrannt, als daß er ihn weglöschen könnte aus seinem Leben.
 
Er fühlt, wie es dunkler wird vor seinen Augen, wie das unablässige Sinnen allmählich in Tränen verschwimmt. Vergebens müht er sich wie in all den Tagen der Krankheit, in den langen einsamen Stunden Margots Bild vor den Blick zu zaubern: immer drängt sich gleich einem Schatten Elisabeth dazu mit ihren tiefen sehnsüchtigen Augen, und dann verwirrt sich alles, und er muß wieder qualvoll allem nachsinnen, wie es gekommen ist. Und da faßt ihn Scham, wenn er denkt, daß er vor dem Fenster Margots gestanden und ihren Namen gerufen hatte, und wieder Mitleid mit der stillen, blonden Elisabeth, für die er nie ein Wort gehabt hatte oder einen Blick in all den Tagen, da seine Dankbarkeit doch hätte aufstrahlen müssen wie ein Feuer.
 
Am andern Morgen tritt dann Margot für einen Augenblick an sein Lager. Er schauert vor ihrer Nähe und wagt ihr nicht in die Augen zu sehen. Was sagt sie zu ihm? Er hört es kaum, das wilde Sausen in seinen Schläfen ist lauter als ihre Stimme. Erst wie sie von ihm geht, umfaßt er wieder sehnsüchtig mit dem Blick ihre ganze Gestalt. Er fühlt: nie hat er sie mehr geliebt.
 
Nachmittags kommt Elisabeth. Sie hat eine leise Vertraulichkeit in ihren Händen, die manchmal an die seinen streifen, und ihre Stimme ist sehr leise, ein wenig umflort. Sie redet mit einer gewissen Angst von gleichgültigen Dingen, als fürchte sie, sich verraten zu müssen, spräche sie von sich oder von ihm. Er weiß nicht recht, was er für sie empfindet. Manchmal wie Mitleid, manchmal wie Dankbarkeit für ihre Liebe spürt er es in sich, aber er könnte ihr nichts sagen. Er wagt kaum, sie anzusehen, aus Furcht, sie zu belügen.
 
Jeden Tag kommt sie jetzt und bleibt auch länger. Es ist, als ob seit jener Stunde, da das Geheimnis zwischen ihnen aufdämmerte, auch die Unsicherheit verloren gegangen wäre. Aber doch wagen sie nie davon zu reden, von diesen Stunden im Dunkel des Gartens.  

 





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