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Literatur


04.3


Geschichten
Stefan Zweig

Die Liebe der Erika Ewald





Die Liebe der Erika Ewald
Seite 6

Erika war eine der ersten im großen, mit tausend Lichtern flimmernden Konzertsaale. Eine sehnsüchtige Unruhe, die Minuten zu Stunden dehnte, hatte sie seit Tagesanbruch erfüllt und durchschauert, seit jener Stunde, da der Gedanke, daß sich heute alles begeben müsse, ihr den Schlaf von den Lidern riß. Und dann war sie alle die Stunden durch Traumland gegangen, ob auch die einzelnen Forderungen ihres Berufes sie immer wieder aufschrecken ließen aus ihren sinnenden Erwartungen und ihrer sanftruhenden Sehnsucht. Und als der Abend kam, nahm sie ihr bestes Gewand und legte es mit einer gewissen feierlichen Sorgfalt an, die nur Frauen haben, wenn sie den Blick des Geliebten erwarten. Eine Stunde zu früh begab sie sich zum Konzertsaal.

Wohl hatte sie zuerst einen Spaziergang geplant, ein kurzes Rasten für ihre Nerven, die zu fiebern schienen, aber kaum daß sie die Straße betrat, fühlte sie eine dunkle Gewalt, die sie magnetisch einer Richtung zudrängte. Ihre anfangs bedächtigen Schritte wurden unruhiger und beschleunigter. Und mit einem Male stand sie, fast selbst überrascht, vor den breiten Stufen des Konzertgebäudes und schämte sich ihrer Unrast. Gedankenlos ging sie noch ein wenig dort auf und ab. Und als die ersten Wagen behäbig vorrasselten, mühte sie sich nicht mehr länger, sich zu bezwingen und ging mit beherzter Miene in den eben erleuchteten Saal.

Nicht lange blieb drinnen dieses breite und leere Schweigen, das zu fürchtigen Träumen lud. Dichter und dichter drängten sich die Leute. Erika sah nicht die einzelnen, sondern fühlte nur die hereinströmende Masse, fühlte vor ihren Augen die wandernden Streifen der farbigen Toiletten, das dunkle Durcheinanderschieben und die vielen wechselnden Gesichter,die ihr wie Masken schienen. Alles in ihr war Unrast und Erwartung. In ihren Augen stand nur ein Name, ein Wunsch, ein Wort.

Und dann plötzlich begann das jähaufrauschende Murmeln und Bewegen, die vorbereitende Unruhe vor dem Schweigen, das leise Knacken der geöffneten Operngläser, das Klappern der Lorgnons, das Regen und Bewegen, jenes vieltönige Geräusch, das sich in stürmischen Beifall löste. Sie fühlte, daß er eingetreten war, jetzt eingetreten war. Und schloß die Augen. Sie wußte sich zu schwach, ihn in dieser stolzen Minute schweigend zu sehen. Sie hätte ja jubeln müssen oder ihn rufen, aufspringen oder ihm zuwinken, aber jedesfalls etwas Törichtes, Unüberlegtes, Lächerliches tun. Ihr Herz fühlte sie bis an die Kehle schlagen. Sie wartete. Sie wartete, mit geschlossenen Augen alles sehend, wie er hinaufschritt, wie er sich verneigte und jetzt, – jetzt mußte es ja sein – zum Bogen griff. Sie harrte, bis endlich die ersten Töne seiner Geige sich singend erhoben wie langsam steigende Lerchen, die aus den Feldern zum Himmel aufjubeln.

Dann schaute sie empor, leise, ganz vorsichtig, wie man in ein sehr grelles blendendes Licht sieht.

Und sie fühlte eine warme Blutwelle, wie sie ihn sah, gleichsam emporgetragen von diesem dunklen, schweigenden Meer, das die funkelnden Gläser und suchenden Blicke wie zitternde Schaumkämme durchglänzten. Und sie fühlte sein Spiel und wieder die ganze zauberische Gewalt von einst. Und wie die Töne wuchsen und anschwollen, so füllte sich auch ihr Herz. Lachen und Weinen war in ihr, ein Fluten der Erregung, warme zitternde Wellen. Sie fühlte Jubel, Jubel aus tausend sonndurchglänzten Springstrahlen in ihr Herz sprudeln, sie fühlte es selbst aufschäumen zu ihrer Kehle wie den jauchzenden Strahl einer aufzuckenden Fontäne. Wieder verführte sie die Stimmung der Musik wie eine Blinde, die keinen Weg weiß und sich willig der fremden und lieblichen Hand vertraut. Und als dann der Jubel losbrach und dieses dunkle Meer im Saale, das gleichsam in bezaubertem Schlafe gelegen war, plötzlich in wilder, tosender Brandung aufschäumte, als von allen Seiten ein überwältigender Beifall dröhnte, da rauschte ein jäher Stolz in ihr empor. Ihre Seele jubelte bei dem Gedanken, von ihm begehrt worden zu sein. Alle Häßlichkeit und Herbe jener Minuten war zerronnen in diesem stolzen Bewußtsein, in dieser siegenden Stunde seines Künstlertums.

So ward dieser Abend ein lauteres und tiefes Fest für ihre suchende und unruhige Seele. Nur eine Frage drängte sie, ob er ihrer wohl noch gedachte. Und sie war ganz Demut in jener Stunde, eine Sehnsüchtige, die nur begehrt, sich verschenken zu dürfen. Sie dachte nicht mehr an sich und nur mehr an ihn, sah nur sein Verlangen und seine Inbrunst in dem lockenden Geigenspiel und nicht mehr Töne und Melodien.

Und da kam ihr eine seltsame und unendlich beseligende Antwort. Nach langen Beifallsstürmen hatte er sich noch zu einer Zugabe entschlossen. Und nur ein paar schlichte, langsame Takte hatte er gespielt, als Erika erblaßte. Sie lauschte und lauschte wie gebannt. In herbem Erschrecken hatte sie das Lied erkannt, das Lied jenes ersten seltsamen Abends, da er es ihr zuliebe in die Dämmerung gestammelt. Und sie träumte von einer Huldigung. Sie fühlte, daß es ihr gesungen sei, zu ihr gesungen sei. Sie hörte es nur als Frage, die über alle andern zu ihr hinabtastete in den Saal, sie sah eine Liedseele, die in den dunklen Saal flog, um sie zu finden. Eine rasche Gewißheit schaukelte sie in selige Träume. Sie verstand ein Geständnis, daß er ihrer, nur ihrer mehr gedachte. Und Seligkeiten brausten auf sie nieder. Wieder war es die Musik, die sie betörte und über alle Wirklichkeiten hob. Sie fühlte einen Flug nach oben, menschenhoch und erdenfrei. Fast so wie damals in jener Stunde, als sie hoch über der fernen, brausenden Stadt zusammen standen. Nur höher noch, viel höher über Schicksal und Welt, über allen Kleinlichkeiten und Bedenken. In den wenigen Minuten dieses Spieles überflog sie in seligem Traume alle Schranken und Wirklichkeiten.

Der unerhörte Jubel, der seinem Spiele folgte, erweckte Erika erst wieder aus ihren weltentrückten Träumen. Und in drängender Hast eilte sie dem Ausgange zu, um ihn zu erwarten. Denn nun wußte sie auch die helle und sonnige Antwort auf ihre letzte Frage, die sie beängstigt und sie zurückgehalten, sich ihm zu schenken – nun war es ihr offenbar, daß er sie noch immer liebte und glühender wie einst, mit einer viel schöneren, wilderen und größeren Liebe. Sonst hätte er nicht all diesen Menschen den leuchtenden Hymnus gesungen, den er ihr zur Feier und aus ihrer Liebe geschaffen, dieses herrliche Lied, dessen Macht sie damals überwältigt und besiegt hatte, ohne daß sie es geahnt. Aber heute wollte sie ihm die sorglich gehüteten Früchte ihrer schenkenden Neigung zu Füßen legen, daß er sie selig erhöhe. . . .

Mit Mühe drängte sie sich bis zum Ausgange durch, wo die Künstler herabzukommen pflegten. Wenige Flammen erhellten das matte Dunkel; dort drängten die Menschen nicht in so wilder Hast, und sie konnte sich ungestört wieder ihren Träumen hingeben, die sich in seliger Sicherheit wiegten. Sie hätte es doch schon lange, so lange wissen können, daß er sie nicht vergessen könnte – dieser Gedanke kehrte immer wieder und einte sich mit fröhlichen Verheißungen für die kommenden Tage. Mit übermütigem Lächeln dachte sie an seine Überraschung, wenn er ahnungslos die Treppen herabkäme und sich plötzlich der Wunsch verwirklichte, von dem er vielleicht eben geträumt. Und wenn. . . .

Aber da kamen wahrhaftig schon Schritte, die immer lauter und näher tönten. Unwillkürlich zog sich Erika mehr ins Dunkel zurück.
 

Lachend und plaudernd stieg er die Treppe hinab – zärtlich hinabgebeugt zu einer Dame in spitzenbesetztem Kleide, einer kleinen, netten Sängerin von der Oper, die irgend eine alte Operettenmelodie trällerte. Erika zuckte zusammen. Da bemerkte er sie. Instinktiv griff er nach dem Hut, aber ließ die Hand auf halbem Wege müßig sinken. Ein böses, beleidigtes und höhnisches Lächeln schien auf seinen Lippen zu lauern, aber er wandte den Kopf zur Seite. Und dann führte er die kleine Dame im Spitzenkleid zu seinem Wagen, half ihr hinein und stieg selbst ein, ohne den Blick noch einmal zurückzuwenden zur Erika Ewald, die dort einsam stand mit ihrer verratenen Liebe.

Solche Erlebnisse erwecken oft mit ihrer jähen Gewalt ein Leid, das so furchtbar und tiefeinschneidend ist, daß man es nicht mehr als Schmerz empfindet, weil man die Fähigkeit des Begreifens und des bewußten Fühlens in seinem wilden Anpralle verliert. Man fühlt sich nur sinken, aus schwindelnden Höhen atemlos, willenlos und widerstandsunfähig herabsausen, einem Abgrunde zu, den man noch nicht kennt, den man aber ahnt, näher, näher und immer näher kommen fühlt mit jeder Sekunde, mit jeder verschwindend kleinen Zeiteinheit, die im wirbelnden Sturze verfliegt, jenem furchtbaren Ende zu, von dem man weiß, daß es zerschmettern und zerbrechen wird.

Erika Ewald hatte schon zu viel kleine Leiden ertragen, um einem großen Ereignis ruhig ins Auge sehen zu können. Jene kleinen Schmerzlichkeiten hatten ihr Leben erfüllt, die ein seltsames Glückseligkeitsgefühl in sich tragen, weil sie zu melancholischen, träumerischen Stunden leiten, zu sanften Verzagtheiten und zu jenen süßen Traurigkeiten, aus denen die Dichter ihre innigsten und wehmütigsten Verse schaffen. Aber sie hatte in jenen Stunden schon die mächtige Pranke des Schicksals zu verspüren geglaubt, und es war doch nur ein verrinnender Schatten seiner drohend ausgereckten Hand. Sie hatte gemeint, die finstere Gewalt des Lebens schon getragen zu haben und auf dieses Bewußtsein baute sie ihre starke Sicherheit, die jetzt zusammenbrach unter der Wirklichkeit wie ein Kinderspielzeug in einer nervigen Faust.

Und darum verlor ihre Seele so ganz ihre bindenden Kräfte. Das Leben kam zu ihr wie ein Hagelschauer, der Saaten und Blüten zerbricht. Nur mehr Öde war vor ihren Blicken und Finsternis, weite undurchdringliche Finsternis, die alle Wege versteckte, alle Blicke erblindete und die hallenden Angstrufe mitleidslos verschlang. Nur mehr Schweigen war in ihr, ein dumpfes, atemloses Schweigen, die Stille des Todes. Denn viel war in ihr gestorben in einem einzigen Augenblick: ein helles heiteres Lachen, das noch nicht geboren war, aber in ihr Leben wollte, wie ein Kind, das zum Lichte strebt. Und viel Jugend, jenes sehnsüchtige Empfangenwollen, das der Zukunft vertraut und Freude und Glanz hinter allen verschlossenen Pforten ahnt, die ihr Verlangen sich eröffnen soll. Und viel lautere und weltvertrauende Empfindungen, das Sichhingeben an alle Menschen und an die große Natur, die nur Feste und Wunder ihren gläubigen Schülern offenbart. Und endlich eine Liebe, die unendlich reich gewesen war, weil sie in den dunklen Quellen des Schmerzes sich gebadet hat und durch wechselnde Gestalten gegangen ist, um die Vollkommenheit zu finden.

Aber auch eine neue Saat war in dieser Enttäuschung, ein bitterer Haß gegen alles, was sie umgab und ein heißes Rachebedürfnis, das noch nicht wußte, wie es sich Bahn brechen sollte. In ihren Wangen brannte die Schmach, und ihre Hände bebten, als müßten sie jeden Augenblick losfahren in zorniger Gewalt gegen irgend etwas. Die Schwächlichkeit und Scham war von ihr gewichen, die drängende Macht des Handelns wurde immer deutlicher und unruhiger in ihr; ein Wesen, das sich vom Schicksal immer hatte formen und lenken lassen, wollte ihm nun entgegengehen und mit ihm ringen.

Und dieser ziellose ungebärdige Trieb ließ sie in den Gassen irren, ohne einen Entschluß. Die Wirklichkeit lag in weiter, weiter Ferne. Sie wußte nicht, wohin sie ging, in ihren Füßen war bleierne Müdigkeit, aber auch eine irre Bewegung, die sie weiter stieß. Immer mehr hüllte sie sich in ihre Gedanken, um den Schmerz, der jetzt wach werden wollte, wegzudenken und ihn im raschen Gehen zu vergessen; doch sie spürte einen Druck von Tränen, die noch nicht hervorbrechen konnten, aber innen brannten und tropften. . . .

Auf einmal stand sie vor einer Brücke. Unten der Fluß, schwarz und langsam gleitend, mit vielen hellen, glitzernden Punkten. Sterne waren das und Reflexe von den Brückenlaternen, die hinaufstarrten wie aufgerissene Augen. Und von irgendwo ein leises unaufhörliches Plätschern, die Strömung, die sich an einem Pfeiler bricht.

Einen Todesgedanken barg dieser Anblick, das fühlte sie. Ein Beben überlief ihren Körper. Sie wandte sich um. Es war niemand in der Nähe, hie und da schwarze Schatten, die vorüberhuschten. Manchmal ein Lachen aus der Ferne oder das Rollen eines Wagens. Aber in der Nähe niemand, keiner, der sie hindern könnte. Wie leicht, wie rasch das war; ein Griff, ein Schwung über die Rampe, dann noch ein paar häßliche ringende Minuten unten, dort unten in dieser schweigsamen Dunkelheit und dann Friede . . . . reicher, ewiger Friede, fern von allen Wirklichkeiten, der beruhigende Trost des Nichtwiedererwachens. . . .

Aber dann ein anderer Gedanke! Eine verunstaltete Leiche, die man aus dem Wasser zieht, Neugierige, die sich belustigen, Gerede und Geschwätz – es tat ja nicht mehr weh! Aber einer war, der könnte es erfahren und dann vielleicht selbstbewußt lächeln, im Bewußtsein eines Siegers. . . . Nein – das durfte nicht sein! Das Leben war noch nicht erschöpft, das fühlte sie, denn es konnte noch Rache bergen, den letzten tastenden Versuch einer Verzweiflung. Und vielleicht war es sogar schön, und sie hatte nur falsch gelebt, sie war gut und vertrauend gewesen, mild und zurückhaltend, während man rücksichtslos, gierig und verschlagen sein sollte, wie ein Raubtier, das sich von fremdem Leben nährt.

Ein Lachen rang sich ihr aus der Brust, wie sie sich von der Brücke abwendete, ein Lachen, vor dem sie erschrak. Denn sie fühlte, wie sie sich selbst nicht ihre ungesprochenen Worte glaubte. Nur der Schmerz war wahr, und der glühende brennende Haß, die blinde Sucht nach Rache. Wie fremd sie sich doch geworden war, daß sie sich nicht einmal selbst mehr erkannte, wie schlecht und wie wertlos!

Ihr fröstelte. Sie wollte an nichts mehr denken. Sie ging wieder tiefer in die Stadt hinein ... irgend wohin .... nach Hause zu. . . . Nein – nicht nach Hause! Mit Furcht dachte sie daran. Dort war alles so finster und eng und dumpf, dort lauerten in allen Ecken Erinnerungen, die mit hämischen Fingern auf sie deuteten, dort war sie dann ganz allein mit ihrem großen Schmerz, dort konnte er seine schwarzen Flügel dicht ausbreiten, sie umfassen und eng, ganz eng an sie pressen, daß ihr der Atem verginge.

Aber wohin? Wohin? Die Frage zermarterte ihr das Hirn. Sie wußte nichts anderes mehr, ihr ganzes Denken konzentrierte sich in dieses eine Wort. –







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