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04.3
Geschichten
Stefan Zweig
aus
Die Liebe der Erika Ewald
Der
Stern über dem Wald
Franz Carl Ginzkey
in
herzlicher Gesinnung
Einmal, als sich der schlanke und sehr soignierte
Kellner François beim Servieren über die Schulter der schönen polnischen Gräfin
Ostrowska herabneigte, geschah etwas Seltsames. Nur eine Sekunde währte es und
war kein Zucken und kein Erschrecken, keine Regung und Bewegung. Und doch war
es eine jener Sekunden, in die tausende Stunden und Tage voll Jubel und Qual
gebannt sind, gleichwie der großen dunkelrauschenden Eichen wilde Wucht mit all
ihren wiegenden Zweigen und schaukelnden Kronen in einem einzigen verflatternden
Samenstäubchen geborgen ist. Nichts Äußerliches geschah in dieser Sekunde.
François, der geschmeidige Kellner des großen Rivierahotels beugte sich tiefer
hinab, um die Platte dem suchenden Messer der Gräfin besser zurecht zu legen.
Doch sein Gesicht ruhte diesen Moment knapp über der weichgelockten duftenden
Welle ihres Hauptes, und als er instinktiv das devot gesenkte Auge aufschlug,
sah sein taumelnder Blick, in wie milder und weißleuchtender Linie ihr Nacken
sich aus dieser dunklen Flut in das dunkelrote bauschende Kleid verlor. Wie
Purpurflammen schlug es in ihm auf. Und leise klirrte das Messer an die
unmerklich erzitternde Platte. Obzwar er aber in dieser
Sekunde alle Folgenschwere dieser jähen Bezauberung ahnte, meisterte er gewandt
seine Erregung und bediente mit der kühlen und ein wenig galanten Verve eines
geschmackvollen Garçons weiter. Er reichte die Platte mit geruhigem Gange dem
steten Tischgenossen der Gräfin, einem älteren, mit ruhiger Grazie begabten
Aristokraten, der mit fein akzentuierter Betonung und einem kristallenen
Französisch gleichgültige Dinge erzählte. Dann trat er ohne Blick und Gebärde
von dem Tisch zurück.
Diese Minuten waren der Beginn eines sehr seltsamen
und hingebungsvollen Verlorenseins, einer so taumelnden und trunkenen
Empfindung, daß ihr das gewichtige und stolze Worte Liebe beinahe übel ansteht.
Es war jene hündisch treue und begehrungslose Liebe, wie sie die Menschen sonst
inmitten ihres Lebens gar nicht kennen, wie sie nur ganz junge und ganz alte
Leute haben. Eine Liebe ohne Besonnensein, die nicht denkt, sondern nur träumt.
Er vergaß ganz jene ungerechte und doch unauslöschliche Mißachtung, die selbst
kluge und bedächtige Leute gegen Menschen im Kellnerfracke bezeugen, er sann
nicht nach Möglichkeiten und Zufällen, sondern nährte in seinem Blute diese
seltsame Neigung, bis ihre geheime Innigkeit sich aller Bespottung und
Bemänglung entrang. Seine Zärtlichkeit war nicht die der heimlich zwinkernden
und lauernden Blicke, die jäh losbrechende Kühnheit verwegener Gebärden, die
sinnlose Brünstigkeit lechzender Lippen und zitternder Hände, sie war ein
stilles Mühen, ein Walten jener kleinen Dienste, die um so erhabener und
heiliger in ihrer Demut sind, als sie wissend unbemerkt bleiben.
Er strich nach
dem Souper über die zerknüllten Tischtuchfalten vor ihrem Platze mit so
zärtlichen und kosenden Fingern, wie man wohl liebe und weichruhende
Frauenhände streichelt; er rückte alle Dinge ihrer Nähe mit hingebungsvoller
Symmetrie zusammen, als ob er sie zu einem Feste bereite. Die Gläser, die ihre
Lippen berührt hatten, trug er sich sorgsam in sein enges dumpfes
Dachlukenzimmer und ließ sie im perlenden Mondlicht nächtlich auffunkeln wie
köstliches Geschmeide.
Stets war er aus irgend einem Winkel der geheime
Behorcher ihres Schreitens und Wandelns. Er trank ihre Sprache so wie man einen
süßen und duftberauschenden Wein wollüstig auf der Zunge wiegt, und fing die
einzelnen Worte und Befehle gierig wie Kinder den fliegenden Spielball. So trug
seine trunkene Seele in sein armes und gleichgültiges Leben einen wechselnden
und reichen Glanz. Nie kam ihm die weise Torheit, das ganze Ereignis in die
kalten, vernichtenden Worte der Tatsächlichkeit zu kleiden, daß der armselige
Kellner François eine exotische, ewig unerreichbare Gräfin liebte. Denn er
empfand sie gar nicht als Wirklichkeit, sondern als etwas sehr Hohes, sehr
Fernes, das nur mehr mit seinem Abglanz des Lebens reichte. Er liebte den
herrischen Stolz ihrer Befehle, den gebietenden Winkel ihrer schwarzen, sich
fast berührenden Augenbrauen, die wilde Falte um den schmalen Mund, die sichere
Grazie ihrer Gebärden. Unterwürfigkeit schien ihm Selbstverständlichkeit, und
die demütigende Nähe niederen Dienstes empfand er als Glück, weil er ihr zu
danke so oft in den zauberischen Kreis treten durfte, der sie umfing.
So ward in dem Leben eines einfachen Menschen
plötzlich ein Traum wach, gleich einer edlen und sorgfältig gezüchteten
Gartenblüte, die an einer Straße blüht, wo sonst der Wanderstaub alle Keime
zertritt. Es war der Taumel eines schlichten Menschen, ein zauberischer und narkotischer Traum inmitten eines kalten,
gleichtönigen Lebens. Und Träume solcher Menschen sind wie die ruderlosen
Boote, die ziellos in schaukelnder Wollust auf stillen, spiegelnden Wassern
treiben, bis plötzlich ihr Kiel mit jähem Ruck an ein unbekanntes Ufer stößt.
Die Wirklichkeit ist aber stärker und robuster als
alle Träume. Eines Abends sagte ihm der feiste Waadtländer Portier im
Vorübergehn: »Die Ostrowska fährt morgen mit dem Acht-Uhr-Zug.« Und dann noch
ein paar andre gleichgültige Namen, die er überhörte. Denn ein wirres Brausen
und Wirbeln war aus diesen Worten in seinem Hirne geworden. Ein paar Mal fuhr
er sich mechanisch mit den Fingern über die gepreßte Stirn, als wollte er eine
drückende Schicht wegschieben, die dort lagerte und das Verständnis umdämmerte.
Er machte ein paar Schritte; es war ein Taumeln. Unsicher und erschreckt glitt
er an einem hohen goldgerahmten Spiegel vorbei, aus dem ihm ein fahles und
fremdes Gesicht kreidig entgegenstarrte. Die Gedanken wollten nicht kommen, sie
waren gleichsam festgemauert hinter einer dunklen nebligen Wand. Fast unbewußt
tastete er am Geländer die breite Treppe in den umdämmerten Garten hinab, wo
die hohen Pinien-Bäume einsam standen wie finstere Gedanken. Noch ein paar
Schritte wankte seine unruhige Gestalt, gleich dem niederen und taumelnden Flug
eines großen dunklen Nachtvogels, dann sank er auf eine Bank, den Kopf an die
kühle Lehne gepreßt. Es war ganz still dort. Rückwärts zwischen den runden
Sträuchern funkelte das Meer. Weiche und zitternde Lichter
glühten dort leise, und in der Stille verlor sich der eintönig murmelnde
Singsang fernplätschernder Brandungsquellen.
Und plötzlich war alles klar, ganz klar. So
schmerzklar, daß er fast ein Lächeln fand. Es war einfach alles zu Ende. Die
Gräfin Ostrowska fährt nach Hause, und der Kellner François bleibt auf seinem
Posten. War dies denn so seltsam? Gingen nicht alle die Fremden fort, die
kamen, nach zwei, nach drei, nach vier Wochen? Wie töricht, das nicht überdacht
zu haben. Es war ja alles so klar, zum Lachen, zum Weinen klar. Er lachte ganz
laut in seinem jähen ingrimmigen Schmerz.
Und die Gedanken
schwirrten und schwirrten. Morgen abend, mit dem
Acht-Uhr-Zug nach Warschau. Nach Warschau – Stunden und Stunden durch Wälder
und Täler, über Hügel und Berge, über Steppen und Flüsse und durch brausende
Städte. Warschau! Wie weit das war! Er konnte es sich gar nicht ausdenken, aber
im tiefsten fühlen, dieses stolze und drohende, harte und ferne Wort: Warschau.
Und er . . .
Eine Sekunde flatterte noch eine kleine träumerische
Hoffnung auf. Er konnte ja nachfahren. Und dort sich verdingen als Diener, als
Schreiber, als Fuhrknecht, als Sklave; als frierender Bettler dort auf der
Straße stehn, aber nur nicht so furchtbar ferne sein, den Atem derselben Stadt
nur atmen, sie manchmal vielleicht vorüberbrausen sehen, nur ihren Schatten
sehen, ihr Kleid und ihr dunkles Haar.
Schon zuckten eilfertige Träumereien empor. Aber die
Stunde war hart und unerbittlich. Er sah das Unerreichbare nackt und klar. Er
rechnete: hundert oder zweihundert Francs Ersparnisse im besten Falle. Das
reichte kaum die Hälfte des Weges. Und was dann? Wie durch einen
zerrissenen Schleier sah er auf einmal sein Leben, fühlte, wie arm, wie
kläglich, wie häßlich es jetzt werden mußte. Öde leere Kellnerjahre, zermartert
von törichter Sehnsucht, diese Lächerlichkeit sollte seine Zukunft sein. Wie
ein Schauder kam es über ihn. Und plötzlich liefen alle Gedankenketten
stürmisch und unabwendbar zusammen. Es gab nur eine Möglichkeit. –
Leise schwankten die Wipfel in einer unmerklichen
Brise. Eine finstere schwarze Nacht stand drohend vor ihm. Da erhob er sich
sicher und gelassen von seiner Bank und schritt über den knirschenden Kies zu
dem großen, in weißem Schweigen schlafenden Hause empor. Bei ihren Fenstern
blieb er stehen. Sie waren blind und ohne ein funkelndes Lichterzeichen, daran
sich träumerische Sehnsucht hätte entzünden können. Nun ging sein Blut in
ruhigen Schlägen, und er schritt wie einer, den nichts mehr verwirrt und
betrügt. In seinem Zimmer warf er sich ohne jede Erregung auf das Bett und
schlief dumpfen traumlosen Schlaf bis zum rufenden Morgenzeichen.
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