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Literatur


04.3


Geschichten
Stefan Zweig
aus
Die Liebe der Erika Ewald






Die Wunder des Lebens
Seite 9


Esther hatte sich halb ohnmächtig in den Schatten des Altars versteckt. Ihr war, als müsse dies alles geträumt sein und plötzlich verschwinden, wie ein trügerischer Spuk. Aber schon stürmten die ersten Fackeln in die Seitengänge. Gestalten, die in fanatischer Leidenschaft bebten, wie im Rausche, sprangen über die Gitter oder zerhieben sie mit dröhnenden Streichen, stürzten die Statuen und rissen die Bilder von den Schreinen. Dolche blitzten wie feurige Schlangen im zuckenden Fackellicht und zerbissen zornig Schränke und Bilder, die mit zerschmetterten Rahmen zu Boden sausten. Näher und näher taumelte die Schar mit ihren qualmenden, zuckenden Leuchten. Esther blieb atemlos und preßte sich tiefer ins Dunkel. Ihr Herz hörte auf zu schlagen vor Angst und quälender Erwartung. Noch wußte sie nicht recht, die Geschehnisse zu deuten und fühlte nur Furcht, jähe unbändige Furcht. Ein paar Schritte kamen heran. Und ein stämmiger wüster Kerl zerhieb mit einem Schlage das Gitter.

Schon glaubte sie sich entdeckt. Aber erst im nächsten Augenblicke erkannte sie die Absicht der Eingedrungenen, als am Nebenaltare eine Statue der Madonna mit gellem Todesschrei zersplittert zu Boden sank. Die Angst wurde in ihr wach, man wolle auch ihr Bild, ihr Kind vernichten, und sie wurde Gewißheit, als Bild um Bild, im unsichern Fackelschein unter Jubel und Hohn herabgezerrt, zerstoßen und zertreten wurde. Ihr ganzes Denken strömte brausend zusammen in die furchtbare blitzartig aufzuckende Idee, man wolle das Bild ermorden, das in ihren wirren Träumen längst eines war mit ihrem eigenen lebendigen Kinde. In einer Sekunde flammte alles auf wie in blendendes Licht getaucht. Ein Gedanke, der Gedanke all ihrer Tage, tausendfach gedacht in diesem einen Augenblicke, entzündete ihr Herz: Das Kind zu retten, ihr Kind. Und in dieser Sekunde umfingen sich in ihr Traum und Wirklichkeit mit verzweifelter Inbrunst. Schon stürmten die zelotischen Zerstörer auf den Altar zu. Eine Axt flog hoch auf in der Luft – und in diesem Augenblicke verlor sie alles wache Besinnen und sprang schützend mit ausgebreiteten Armen vor das Bild. . . .

Und wie ein Zauber war es. Dumpf schmetterte die Axt aus der kraftlos niedersinkenden Hand zu Boden. Und aus des andern erstarrenden Faust zischte die Fackel verlöschend nieder. Wie ein Blitz fuhr es unter diese berauschten lärmenden Menschen. Alles war verstummt, nur einem erstarb in der Kehle der gurgelnde Ruf: » Madonna ... die Madonna.«

Kreidefahl und zitternd standen sie alle. Ein paar fielen betend in die schlotternden Kniee. Keiner war, der nicht ins tiefste erschauert wäre. Überwältigend war die wundersame Täuschung. Denn für sie gab es keinen Zweifel, daß sich hier ein oft beglaubigtes und erzähltes Wunder ereignet hatte, daß die Madonna, die offenbarlich des Bildes Züge trug, ihr Bild beschützt hatte.

Ihr aufgepeitschtes Gewissen riß sie mit, als sie die Züge des Mädchens sahen, die ihnen nicht anderes schien als das verlebendigte Bild. Und nie waren sie gläubiger, als in diesem raschen und flüchtigen Augenblick.

Aber da stürmten schon andere herbei. Fackeln erhellten die erstarrte Gruppe und das Mädchen, das sich halberstarrt an den Altar preßte. Lärm überflutete das Schweigen. Rückwärts kreischte eine Dirnenstimme: »Vorwärts ... das ist ja nur das Judenmädel des Wirts.« Und jählings war der Zauber gebrochen. In Scham und Wut stürmten die Gedemütigten hinauf. Eine rauhe Faust stieß Esther zur Seite, daß sie taumelte. Aber sie raffte sich auf; sie kämpfte für das Bild, als gelte es wirklich eigenes blutwarmes Leben. Blindwütend und in altem Trotze schlug sie mit einem schweren silbernen Leuchter gegen die Bilderstürmer; einer stürzte auffluchend hin, aber einer sprang erbittert vor. Ein Dolch zuckte wie ein kurzer roter Blitz und Esther taumelte nieder. Und schon regneten die Splitter und Stücke des Altars auf sie herab, die keinen Schmerz mehr fühlte. Das Bild der Madonna mit dem Kinde und das der Madonna mit dem wunden Herzen, beide fielen sie unter einem einzigen wütenden Axthieb.

Und weiter stürmte das Rasen; von Kirche zu Kirche eilten die Plünderer, die Straßen mit heillosem Lärm erfüllend. Eine furchtbare Nacht sank auf Antwerpen herab. Schrecken und Beben schlich in die Häuser mit der Kunde, hinter den verriegelten Toren schlugen ängstliche Herzen. Aber die Flamme des Aufruhrs flaggte wie eine Fahne über das ganze Land. –

Auch der alte Maler erschauerte in dieser Nacht in unbändiger Angst, als er die Nachricht vom Bildersturm vernahm. Seine Kniee zitterten, und er faßte mit flehenden Händen ein Kruzifix, um die Rettung des Bildes zu beschwören, das ihm doch Gottes offenbare Gnade geschenkt. Eine wilde und finstere Nacht quälte ihn der fürchterliche Gedanke. Und im frühesten Morgengrauen hielt es ihn nicht länger zu Hause.

Vor der Kirche schlug seine letzte Hoffnung nieder, wie eine gefällte Gestalt. Die Tore waren zerbrochen, Fetzen und Splitter, wie blutige Spuren deuteten den mitleidslosen Weg der Bilderstürmer. Mühsam tappte er durch das Dunkel zu seinem Bilde. Seine Hände griffen nach dem Schrein. Aber sie irrten, irrten ins Leere. Und sanken müde herab. Das Vertrauen in seiner Brust, das viele Jahre sein frommes Lied zu Gottes Dank und Gnade gesungen, verflog jäh, wie eine gescheuchte Schwalbe.

Endlich faßte er sich und schlug ein Licht an. Ein flüchtiger Schein zuckte vom Zündsteine auf und hellte ihm einen Anblick, der ihn taumelnd zurückfahren ließ. Auf dem Boden zwischen Trümmern lag des italienischen Meisters traurig-süßes Madonnenbild, die Madonna mit dem blutenden Herzen, vom Schwertstoß durchdrungen. Aber nicht das Bild, sondern die Gestalt, die Madonna selbst. . . . Kalter Schweiß stand auf seiner Stirne, als das schnelle Aufleuchten wieder erlosch. Er glaubte einen bösen Traum zu leben. Aber als er wiederum das Licht entflammte, erkannte er Esther, die mit tödlicher Wunde hingestreckt war. Und durch ein seltsames Mirakel offenbarte sie, die sein Madonnenbild im Leben verkörpert, des fremden Meisters Madonnenzüge und ihr blutendes Schicksal im Tode. . . .

Es war dies ein Wunder, ein offenbares Wunder. Aber der alte Mann wollte an keine Wunder mehr glauben. In dieser Stunde, da er sie, seiner letzten Lebenstage mildleuchtende Blüte tot sah, neben seinem zerschmetterten Bilde war die gläubig klingende Saite seiner Seele zerbrochen. Er verleugnete den Gott seiner siebzig Jahre in einer Minute. Konnte dies denn des weisen und milden Gottes Hand sein, die so viel Schöpferseligkeit und werdende Pracht nur schenkte, um sie wieder zwecklos ins Dunkel zu reißen. Dies konnte kein Wille sein, nur das Spiel eines tändelnden Willens! Nur ein Wunder des Lebens und nicht Gottes, ein Zufall, wie Tausende durch den Tag rauschen, sich verschlingend und sich wieder lösend. Nicht mehr! Könnten denn Gott die guten und lauteren Seelen so wenig sein, daß er sie hinwarf im lässigen Spiel? Zum ersten Male stand er in einer Kirche und verzweifelte an Gott, weil er ihn groß und gütig geglaubt hatte und nun seine Wege nicht mehr verstand.

Lange sah er nieder zu der jungen Toten, die so viel frommes Abendlicht über seine letzten Jahre gegossen. Und er ward milder und gerechter, als er die verhaltene Seligkeit um ihre gebrochenen Lippen sah. Demut kam wieder über sein gütiges Herz. Durfte er denn wirklich fragen, wer dies seltsame Wunder vollbracht, daß dieses einsame Judenmädchen für der Madonna Ehre in den Tod gegangen war? Durfte er rechten, ob Gott, ob das Leben dies gefügt? Durfte er die Liebe mit Worten umkleiden, die er nicht wußte, durfte er sich gegen Gott auflehnen, weil er sein Wesen nicht verstand?

Der alte Mann erschauerte. Er fühlte sich sehr arm in dieser einsamen Stunde. Er fühlte, daß er in den langen Jahren einsam geirrt war zwischen Gott und dem Leben, daß er zwiefach hatte begreifen wollen, was einfach und doch undeutbar war. Waren es denn nicht gleiche wundersam wirkende Sterne gewesen über dem tastenden Wege dieser aufknospenden Frauenseele – waren sie denn nicht in ihr und in allem Eines gewesen, Gott und die Liebe?. . .
 

Über den Fenstern glühte leise das erste Morgenrot. Aber es erhellte ihn nicht, denn er hatte keine Sehnsucht mehr nach neuen werdenden Tagen, nach dem Leben, das er in so langen Jahren durchschritten, berührt von seinen Wundern und nie doch ganz durchleuchtet. Und ohne Bangen fühlte er sich nun jenem letzten Wunderbaren nahe, das nicht mehr Täuschung und Traum ist, sondern die ewige dunkle Wahrheit.
 






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