04.3
Kriminal-Roman
R. Kohlrausch
Das Geheimnis des Wassers
1933
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Das Geheimnis des Wassers
- Viertes Kapitel -
Untätig
wanderte Grothof in seinem Atelier hin und her; an den Wänden überall
Werke des
Künstlers, als beredtestes Hauptstück darunter die große Skizze für ein
Porträt
der Frau van Berg, das er gemalt hatte.
Jetzt
war die Zeit,
in der sie draußen Siemens’ Braut bestatteten. Jetzt ging der Mann, den
er haßte,
voll heuchlerischer Trauer hinter dem Sarge her. Jetzt bauten seine
Gedanken
verbrecherisch an einem neuen Liebesglück, um das er ihn, den Maler,
betrog.
Mit halbem Bewußtsein traf sein Auge nun das Porträt der Frau van Berg.
Er
nickte vor sich hin: jawohl, ihm geschah, was er selbst einem anderen
getan
hatte. Mit den Sitzungen für dieses Porträt hatte der tolle Rausch
begonnen,
der ihn ein Jahr lang willenlos gemacht hatte.
Dann ging der
Maler schnell in einen dunkeln Winkel des Ateliers und holte von dort
eine
große Mappe hervor und entnahm ihr die Skizze von einem anderen
weiblichen
Porträt. Wie mildes Mondlicht neben versengender Sonnenglut wirkte
dieses Bild
neben jenem. Ein junges, unschuldiges Gesicht schaute hier unter einem
Kranze
goldblonden Haares mit blauen Augen hervor; ein Frühlingstag hier, eine
schwüle
Sommernacht gegenüber.
Das
Bild
emporhebend, schaute Grothof lange darauf. „Dir gehöre ich, dir ganz
allein.“ Aber
nun ergriff ihn plötzlich die Leidenschaft. Beinahe schreiend rief er:
„Warum
kann ich dir das nicht sagen? Wohin hat er dich entführt, wo kann ich
dich
finden?“
Plötzlich
warf
er den Kopf zurück. Mein Gott, hier war ja der Weg, den er suchte! Der
Schurke selbst,
der ihn beraubt hatte, sollte Führer sein auf diesem Wege. Wenn Siemens
Bertas
Aufenthaltsort kannte, und er sich insgeheim an seine Fersen heftete,
wohin er
ging, so mußte dieser Mann ihn schließlich einmal zu der Verschwundenen
führen.
Ein
Befreiungsgefühl, das ihn erlöst aufatmen ließ, kam über Grothof. Und
er machte
sich, vor Aufregung bebend, an die Ausführung seines Planes. Dazu mußte
er für
Siemens unkenntlich sein, wenn er ihm unbemerkt folgen wollte. Die
Hilfsmittel
fehlten ihm nicht; Grothof besaß Perücken und Kostüme. Bald war seine
Wahl
getroffen und die Maske leicht hergestellt: ein zerlumpter
Anzug, ein zerbeulter Hut auf einer wüsten Perücke, und bald stand im
Spiegel
ihm gegenüber ein Kerl, der von Grothof durch eine weite Kluft getrennt
schien.
Seit
Bertas
Verschwinden hatte sein Blut nicht mehr so hoffnungsvoll pulsiert wie
jetzt, indem
er sein Unternehmen begann. Er mußte seine Schritte auf der Straße
gewaltsam
zügeln. Als er in die Gegend von Siemens’ Hause kam, begann er eifrig
nach dem
Gesuchten auszuspähen. Er brauchte auch nicht lange warten, bis der in
Spannung
Erwartete kam. Es war inzwischen acht Uhr geworden; von der Glocke des
Domes
kam eben der Stundenschlag.
Siemens
ging
ziemlich schnell vorwärts, ohne sich umzuschauen; der Gedanke, daß er
beobachtet
würde, lag ihm offenbar fern.
Mit
Erstaunen
sah der Maler, daß er sich der Gegend des Flusses zuwandte. Doch weit
weniger unheimlich
als in den dunkeln Sturm- und Regenstunden, in denen Erna Herterich
hier gegangen
war, wirkten heute die baufälligen Baracken
ringsum.
Siemens
kannte
scheinbar die Gegend. Er ging mit sicheren und raschen Schritten. Jetzt
war der
Verfolgte rechts abgebogen; der Maler las auf dem kleinen Schild im
unsicheren
Lichte das Wort ›Auenstraße‹. Hier war es fast völlig einsam, und er
mußte ein
wenig zurückbleiben; doch war es nicht schwer, auf der geraden
Straßenlinie den
Mann im Auge zu behalten. Einfache Häuser standen inmitten von kleinen,
jetzt kahlen
Gärten; gegenüber lag der Fluß. Teer-, Qualm- und Holzgeruch erfüllte
die Luft;
Lagerplätze und Bootswerften zogen sich am Wasser hin.
Der
Maler fuhr
zusammen, — Siemens verließ die Straße! Doch hielt seines Verfolgers
Auge die
Stelle fest, wo das geschah. Dort war es, wo das kleine Häuschen im
Garten lag.
Und jetzt konnte Grothof, durch dichtes Gesträuch
gedeckt, seine
Verfolgung fast laufend fortsetzen. Aber nichts war mehr von Siemens zu
sehen, kein
Ton verriet ihn. War hier etwa der Ort, wo Berta verborgen gehalten
wurde?
Diese
Vorstellung allein genügte, Grothofs eifersüchtige Wut neu zu
ent-fachen, alle
seine Sinne zur Verfolgung anzuspannen.
Der
Garten war
nach der Straße zu durch einen Lattenzaun abgesperrt, aber die Tür war
nicht
verschlossen. Vorsichtig öffnete der Maler sie, vorsichtig betrat er
den
Garten. Vorn hatte das kleine Haus nur vier Fenster aber keinen
Eingang; der
war auf der Seite rechts. Doch auch die beiden Fenster, von denen sich
eins auf
jeder Seite der Tür befand, waren dunkel. Aber dort an der Hinterseite
des
Hauses lag ein schmaler, heller Lichtstreif auf dem braunen
Gemüselande.
Dorthin glitt Grothof lautlos und erkannte, daß ein paar hölzerne
Fensterläden nicht
ganz befestigt waren, sodaß er einen Blick in das Innere tun konnte.
Siemens
war es,
den er zuerst erblickte; sein Gesicht war dem Fenster zugewandt. Ihm
gegenüber stand
eine Frauengestalt. War es Berta? — Indem die Frau sich ein wenig zur
Seite
wandte, zeigte sie das Profil, und nun wußte der Maler, daß es nichts
Ähnliches
gab zwischen ihr und seiner Braut. Aber was hatten die beiden mit
einander zu
verhandeln? Möglicherweise war Siemens hierher gekommen, um noch
irgendetwas
über Fräulein Herterich
zu erfragen.
War aber das der Fall, dann befand sich Grothof hier auf falscher Spur.
Da,
— was
geschah jetzt? Siemens holte seine Brieftasche hervor und entnahm ihr
Geld, um
es der Frau zu geben. Ihre Gebärden bekundeten
einen kühlen Dank. Offenbar war sie sehr einfachen Standes; sie mochte
vierzig
Jahre zählen. Plötzlich ging sie durch eine Tür hinaus, anscheinend um
etwas zu
holen; denn Siemens blieb ruhig stehen.
Als
aber die
Frau wieder herein kam, bot sich Grothof ein Anblick, den er nicht
erwartet hatte.
Sie trug ein kleines, etwa ein Jahr zählendes Kind auf dem Arm und
hielt es
ihrem Besucher entgegen. Er aber, der scheinbar so kalte
Verstandesmensch, nahm
es ihr ab und hob es ein paarmal hoch in die Luft, sodaß es, mit Händen
und
Füßen zappelnd, fröhlich aufschrie. Was bedeutete dieses Kind, was
bedeutete
dieser Besuch des Rechtsanwalts in dem einsamen Hause?
Daß
er des Kindes
Vater aus einer geheimen Liebschaft, erschien Grothof so gut wie gewiß.
Die
ganzen Umstände sprachen dafür. Aber wer war die Mutter? Diese Frau
hier sicher
nicht. War es aber möglich, daß Berta —, der Maler fuhr zurück vor dem
plötzlich aufgetauchten Gedanken. Nein, und hundertmal nein! Was ihm
auch
Mißtrauen und Eifersucht vorgespielt hatten, das war unmöglich! — Wenn
aber sie
nicht, wer blieb übrig? Nur eine; die Tote, die man heute
nachmittag begraben hatte.
Der
Spur Bertas
war er nachgegangen und hatte die jener Toten gefunden. Immerhin, ein
Geheimnis
hatte dieses kleine Haus ihm doch verraten. Und er wollte nicht ruhen,
bis
dieses Rätsel ganz gelöst war.
Aber
was war
das? Die Frau hatte das Kind wieder ins Nebenzimmer getragen, Siemens
hatte
Stock und Hut genommen, — jetzt mußte doch der Augenblick da sein, in
dem er
Abschied nahm. Aber das Gegenteil geschah. Die Frau holte sich ein
Umschlagetuch herbei, machte sich zum Ausgehen fertig, öffnete die
Zimmertür
und löschte die Petroleumlampe. Grothof verbarg sich hinter der
Schmalseite des
Hauses. Die beiden verließen den Garten und machten sich draußen
ziemlich rasch
nach der Stadt hin auf den Weg. Sobald sie für ihn außer Sicht waren,
schlich
er ihnen nach. Und als er die Straße betrat, erschienen die beiden
Gestalten
wieder in der Ferne vor ihm.
Wohin
gingen
sie? Wieder und wieder fragte sich der Maler, indem er ihnen folgte.
Siemens wandte
sich mit seiner Begleiterin nicht der eigenen
Wohnung zu,
sondern bog schon vorher in eine Villenstraße ein und verschwand hier
in einem
Hause, von der unbekannten Frau gefolgt.
Nachsinnend
betrachtete Grothof das Haus. Hier hatte doch Fräulein Herterich
gewohnt. Wieder
sie, die Tote! Ein sich erhellendes Fenster deutete darauf, daß die
beiden dort
eingetreten waren, und als nach kaum zehn Minuten das Licht oben wieder
auslosch, zog der Maler sich zurück, weil er die Rückkehr der beiden
erwartete.
Seine Vermutung hatte nicht getäuscht: sie traten wieder auf die Straße
hinaus und
schlugen die Richtung ein, aus der sie gekommen waren. Eins nur war
anders an
ihnen geworden: die Frau trug ein ziemlich großes Bündel.
Welches
war
aber nun ihr Weg? Bis an die nächste Straßenecke blieben sie neben
einander; dann
gab Siemens seiner Begleiterin die Hand und nahm Abschied von ihr.
Was
nun tun, da
sie sich trennten? — Sein Entschluß war schnell gefaßt. Siemens hatte
die
Richtung nach seiner Wohnung eingeschlagen; es war wohl zwecklos, ihm
dorthin
zu folgen. Wo die Frau mit ihrem Bündel blieb, das war ihm wichtiger.
So ließ
er sich denn von ihr führen und mußte dabei denselben Weg zurücklegen,
auf dem
er vor kurzem als Verfolger der beiden Gestalten gekommen war. Die Frau
nahm
die Richtung nach ihrer Wohnung hin, und Grothof wollte ihr ins Haus
nachgehen
und sie dort ins Verhör nehmen.
Aber
dieser
Plan wurde wieder vereitelt. Sie machte zu des Malers Erstaunen vor
ihrer
Wohnung nicht halt sondern ging wieder auf der einsamen Straße weiter,
bis
links ein großes Holzlager mit mächtigen Bretterstapeln sichtbar
wurde. Nun
kreuzte sie die Straße, ging zum Lagerplatz hinüber, öffnete dort eine
Tür und
verschwand mit ihrem Bündel zwischen den hohen Bretterhaufen. Was
konnte sie
dort wollen, so spät am Abend? Grothof mußte das
wissen, aber es
galt in dieser tiefen Einsamkeit jetzt äußerste Vorsicht. Er eilte zum
Eingang,
wo sie verschwunden war, und konnte noch gerade
sehen, wie sie
ganz nahe dem Fluß zwischen holzgeschichteten Wänden abermals
verschwand. Bis
ans freie Wasser nachzugehen, schien ihm gefährlich, wenn er nicht
gesehen werden
wollte. Was war zu machen? Ein Bretterhaufen lag, niedriger als die
meisten
übrigen, an einen hochauf-gebauten gelehnt. Wenn er hier hinaufstieg!
Indem er
es dachte, stand
Grothof schon
oben. Und er hatte richtig berechnet; auf diesem Unterbau war er groß
genug, um
bis zum Fluß sehen zu können.
Dort
fand er auch
die gesuchte Frauengestalt wieder. Sie hob die Hand, in der sie das
Bündel trug,
um es mit kräftigem Schwung weit hinaus in die Wellen zu schleudern.
Dann kam
sie wieder zurück. War es Erstaunen über ihr geheimnisvolles Werk, war
es
Erschrecken über ihr schnelles Herankommen, — in diesem Augenblick
verlor der
Maler das Gleichgewicht. Das
Holz schwankte
und brach mit lautem Krachen zusammen. Und als unangenehmes Echo folgte
sogleich
das wütende Gebell eines Hundes, und eine rauhe Männerstimme verlangte
zu
wissen, was hier vorginge. Der Wächter war es, der vom Eingang her kam,
ihm den
Rückzug abschnitt und nach wenigen Minuten vor ihm stand.
Zum
Glück behielt
Grothof Geistesgegenwart genug; er spielte einen gemütlichen, vom
Alkohol beseligten
Betrunkenen, der dem Wächter in volkstümlichen Ausdrücken begreiflich
machte,
daß er geglaubt hätte, hier ein Nachtlager zu finden, daß aber der
infame
Holzhaufen unter ihm zusammengebrochen sei; und er spielte seine Rolle
gut
genug, daß er nur mit ein paar Flüchen zum Teufel gejagt wurde.
So
stand er
wieder draußen und schaute vergeblich umher nach der unsichtbar
gewordenen Frauengestalt.
Er wartete, aber sie kam nicht. Endlich ging er leise hinüber nach
ihrem Hause,
faßte die Klinke der Lattentür, — sie war
verschlossen.
Die Frau mußte noch einen anderen Ausgang aus dem Lagerplatz gekannt
und sich
bei dem ausbrechenden Lärm behutsam davongegemacht haben. Jetzt lag sie
vielleicht schon sicher in ihrem Bett, und er stand hier draußen vor
der
verschlossenen Tür. Dies lähmte für heute seinen Tatendrang. Er war
genug umhergelaufen,
hatte genug Täuschungen erfahren. Die Wohnung der Frau war ihm bekannt,
er
konnte bei Tage wiederkommen; und aufgeschoben war nicht aufgehoben.
oben
weiter
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