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Literatur


04.3


Am Kamin
Paul Rosenhaym

10 Die Amati

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Die Amati - Seite 1
(Berlin)

Das vornehme Auditorium begrüßte den gefeierten Violinvirtuosen mit freudigem Händeklatschen. Man sah es: er war der Liebling des Publikums. Holger Karst verneigte sich dankend und wandte sich an den Pianisten.
 
Der Klavierspieler schlug das A an. Karst ergriff seine Geige, um sie zu stimmen. Er fuhr prüfend mit dem Boden über die Saiten, die leise widerklangen. Plötzlich ging es wie ein Schatten der Bestürzung über sein Gesicht . . .
 
Wieder setzte er die Violine ans Kinn. Abermals schlug der Pianist das A an. Karst legte den Bogen auf die Saiten . . . ein leiser, fast zärtlicher Strich . . . plötzlich erweiterten sich seine Augen . . . mit einem Ruck setzte er das Instrument ab, und sein Blick glitt fassungslos über die Saiten. Er wandte sich zum Publikum und öffnete den Mund, als wolle er reden . . . im nächsten Augenblick drehte er sich um und lief mit allen Zeichen grenzenloser Bestürzung vom Podium.
 
Durch das Publikum ging ein Murmeln des Erstaunens. Stimmengewirr schwirrte durch den Saal, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Dann trat plötzlich lautlose Stille ein; ein kleiner, untersetzter Herr erschien auf dem Podium: der Impresario.
 
„Meine Damen und Herren“, begann er. „Ich muß Ihnen leider ein unerklärliches Vorkommnis melden. Soeben entdeckt Herr Holger Karst, daß man ihm seine berühmte Amati gestohlen hat, oder vielmehr  . . . sie mit einem fast wertlosen Instrument, das äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Geige besitzt, vertauscht hat. Herr Karst kann leider nicht auftreten. Die Kasse wird die gezahlten Eintrittsgelder zurückerstatten.“
 
Wieder setzte das Stimmengewirr ein. Bedauernde, mitleidige, spöttische Ausrufe schwirrten durch den Raum, dann entstand ein Drängen zum Ausgang.
 
Im Künstlerzimmer, auf einer Chaisselongue ausgestreckt, lag Holger Karst, vor ihm stand Joe Jenkins.
 
Der Impresario lief wie ein gefangener Löwe in dem kleinen Raum hin und her. In der Tür stand ein Diener, um den Neugierigen und Mitleidigen und Schadenfrohen den Eintritt zu wehren. „Die ganze Tournee ist zum Teufel!“, stöhnte der Impresario. „Wo sollen wir eine neue Amati hernehmen in der kurzen Zeit . . . ein solches Instrument . . .“
 
Joe Jenkins trat auf den Aufgeregten zu. „Wann ist das nächste Konzert?“
 
„In acht Tagen, in Wien . . . und drei Tage vorher eine private Einladung zum Grafen Harrenfels in Pötzleinsdorf im Wiener Wald . . . auf die sich der Meister so gefreut hat . . . alles zum Teufel . . . ich muß sofort telegraphieren . . . den großen Musikvereinssaal in Wien abbestellen . . .“
 
Joe Jenkins legte ihm die Hand beschwichtigend auf den Arm. „Bestellen Sie vorläufig nichts ab.“
 
„Nichts?“ fragte der Impresario erstaunt.
 
„Nein. Denn vorläufig liegt kein Grund vor anzunehmen, daß Herr Karst in acht Tagen in Wien nicht spielen wird . . .“
 
„. . .  auf seiner Amati . . .?“
 
„Auf seiner Amati . . .“
 
*          *        *  

Es war am nächsten Mittag, als im Pensionat Valentin das Telephon klingelte. Die Besitzerin selbst nahm den Hörer ab. „Ich möchte mich erkundigen, wie es Herrn Karst geht?“
 
„Wie es Herrn Karst geht? Schlecht, Mr. Jenkins. Er ist völlig gebrochen; er brütet vor sich hin. Seit gestern nacht hat er das Haus nicht verlassen.“
 
„Nicht möglich. Sie irren sich, Frau Valentin.“
 
„Ich mich irren . . . Wie kommen Sie darauf?“
 
„Nun . . . ich habe Herrn Karst vor zwei Stunden frisch und munter und vergnügt auf der Tauentzienstraße gesehen . . . Ich fuhr leider in einem Auto vorüber, deshalb konnte ich ihn nicht anreden.“
 
Herr Karst . . . vor zwei Stunden . . . auf der Tauentzienstraße? Das muß eine Verwechslung gewesen sein! Ich versichre Ihnen, er hat das Haus nicht verlassen.“
 
„Nun . . . das werden wir gleich feststellen . . . ich werde in zehn Minuten dort sein.“
 
„Ich werde Herrn Karst sagen, daß er Sie in zehn Minuten hier erwarten soll.“ —
 
Das Dienstmädchen begrüßte den Detektiv respektvoll. „Bitte in diesen Salon einzutreten, Mr. Jenkins. Herr Karst wird sofort erscheinen.“ Damit schlüpfte sie geschäftig hinaus.
 
Joe Jenkins sah sich aufmerksam in dem großen, sonnigen Salon um. Die hohen, breiten Stores, die ein vornehm einfaches Muster zeigten, wallten bis auf das Parkett herab. Ein ungeheurer Perser bedeckte fast den ganzen Boden. Aus hohen Staffeleien, die in den Ecken standen, leuchteten japanische, australische und amerikanische Landschaften. Das mochten Geschenke der Gäste sein, die auf ihren bunten Irrfahrten durch die weite Welt in diesem Hause kurze Rast gemacht hatten; sie gaben diesem Raum einen Hauch von Internationalität.
 
Die Tür öffnete sich langsam. Holger Karst trat ein. Der Detektiv wandte den Kopf, und ein Ausdruck des Erschreckens trat auf seine Züge. Aus dem jungen, lebenssprühenden Künstler war über Nacht ein müder, hohlwangiger, scheuer Mensch geworden, der vor sich hinstierte und bei dem leisesten Geräusch zusammenzuckte. Eben öffnete Joe Jenkins den Mund zu einem Wort des Trostes, als sich zum zweitenmal die Tür öffnete. Eine schlanke, junge Dame trat eilig ein und blieb beim Anblick der beiden Herren verwirrt in der Tür stehen. „Pardon,“ wandte sie sich an Karst, „ich wollte nur ein Buch holen.“
 
Dann ging sie mit schnellen, lautlosen Schritten auf den Bücherschrank zu und musterte eifrig die darin aufgereihten Bände. Ein feiner Duft von Peau d’Espagne zittert durch das Zimmer. Sie hielt nachdenklich inne und legte die Hand auf die Stirn. „Diese  Bücher sind nach den Namen der Autoren geordnet“, sagte sie leise mit einem entschuldigenden Unterton in der Stimme. „Ich suche das Buch ‚Der weiße Elefant‘. Es ist von einem Amerikaner. Können Sie mir vielleicht sagen, wie er heißt?“
 
„Mark Twain“, antwortete Joe Jenkins an Stelle des Gefragten.
 
Die junge Dame richtete ihre dunkelblauen Augen lächelnd auf den Amerikaner und neigte dankend den Kopf. „Wie ich sehe und höre, ein Landsmann dieses wundervollen Humoristen . . .?“
 
„Ganz richtg!“ erwiderte der Detektiv, gleichfalls lächelnd.   
 
„Gestatten Sie,“ unterbrach ihn Karst mit leiser Stimme: „Mr. Joe Jenkins — Fräulein Helene Jungmann, Studentin der Medizin.“ Die junge Dame reichte  dem Amerikaner mit einer freimütigen Bewegung die Rechte. „Es freut mich, einen so berühmten Mann kennenzulernen, Mr. Jenkins“, sagte sie, indem sie seine Hand kräftig schüttelte. „Ich vermute, Sie sind gekommen, um Herrn Karst zu seinem gestohlenen Schatz wiederzuverhelfen. Sie tun ein gutes Werk; denn Herr Karst ist auf dem besten Wege, schwermütig zu werden!“ Und indem ein schelmisches Licht in ihre Augen trat, setzte sie hinzu: „Ein Glück nur, daß Herr Karst in seiner Betrübnis noch die Zeit gefunden hat, heute vormittag ein Stündchen auf der Tauentzienstraße zu flanieren!“
 
„Ich . . .?“ fragte Karst erstaunt. „Ich habe dieses Haus seit gestern nacht nicht verlassen!“
 
„Da sehen Sie den Heuchler“, lachte Joe Jenkins. „Und dabei habe ich ihn mit meinen eigenen Augen gesehen . . . Ja . . . hier kann ich es ja sagen: er war nicht allein . . . nein! Arm in Arm mit einer schönen, blonden, jungen Dame!“ Lachend, scheinbar gelassen wandte Jenkins sein Gesicht zu dem Virtuosen herum. Im gleichen Moment streifte sein blitzschneller, forschender Blick das Antlitz der Studentin. Aus ihren Zügen war der letzte Blutstropfen gewichen, und ihre erweiterten Pupillen schienen starr ins Leere zu schweifen.
 
Als die beiden draußen auf dem Korridor standen, flüsterte der Virtuose aufgeregt: „Noch etwas hat sich ereignet: das Bild . . .“ – „Das Bild?“
 
„Ja . . . meine Photographie . . . sie ist seit gestern nacht verschwunden.“
 
Jenkins sah einen Augenblick zu Boden und reichte dann seinem Mandanten die Hand. „Sie müssen allein auf Ihr Zimmer gehen“, sagte er leise. „Verlassen Sie es vorläufig nicht wieder. Ich habe sehr Dringendes außerhalb dieses Hauses zu erledigen.“ Und schon war er verschwunden. —
 
Zehn Minuten später stieß Joe Jenkins, der hinter einer Anschlagsäule gegenüber dem Pensionat Valentin stand, einen leisen Pfiff der Befriedigung aus. Mit eiligen Schritten kam Helene Jungmann aus dem Hause und rief ein vorüberfahrendes Automobil an. Jenkins nahm ein zweites, geschlossenes , und bedeutete dem Chauffeur, jenem zu folgen.
 
Die Fahrt ging durch den Berliner Westen und das Zentrum. Eine endlose Wagenreihe schien einem Zentralpunkt zuzustreben. Hier klingelten die Straßenbahnen in endloser Kette, donnerte die Stadtbahn über eine lange Brücke, tuteten unaufhörlich die Hupen der Automobile, dann ratterte das Auto der Studentin an der Berolina vorüber und bog in eine Seitenstraße ein. Endlich hielt es vor einer großen Mietskaserne. Joe Jenkins drückte auf den Gummiball und ließ ebenfalls halten.
 
Helene Jungmann sprang aus dem Wagen, warf einen schnellen Blick über die Fensterfronten des Gebäudes und stürzte ins Haus. Es mochte kaum mehr als eine Minute vergangen sein, als sie schon wieder auf der Straße erschien. In ihrem Gang, in ihrem hastigen Gebaren drückte sich eine fiebernde Unruhe aus; sie stieg wieder in das Auto und sauste von dannen.
 
Einen Augenblick später betrat Joe Jenkins das Haus, aus dem sie gekommen war. Ein kaum wahrnehmbarer Duft von Peau d’Espagne erfüllte noch das Treppenhaus.
 
Der Detektiv machte im ersten Stockwerk halt. Auch hier wogte noch der leise Duft. Jenkins stieg die Treppe zum zweiten Stock empor.
 
Auch hier zitterte noch das süßlich-herbe Parfum – seltsam – stärker als unten; hier mochte sie Rast gemacht haben. Der Detektiv wandte sich zur dritten Treppe: nein . . . hier versiegte die Duftwelle . . . er trat auf den zweiten Treppenflur zurück.
 
Drei Wohungstüren flankierten den Korridor. Drei Messingklingelzüge glitzerten neben zahlreichen Namensschildern. Der Detektiv zog den Handschuh aus und tastete leise und vorsichtig auf den ersten der Messingknöpfe. Das Metall lag kalt und unberührt in seiner Hand. Er legte die Hand auf den zweiten Knopf — auch er war glatt und kühl. Er faßte den  dritten an und nickte. Von dieser kleinen, gelben Kugel strömte eine leichte, kaum merkliche Wärme aus. Kein Zweifel — eine menschliche Hand hatte  eben diese Klingel gezogen. Jenkins läutete: einmal . . . zeternd und lärmend schlug die Zugklingel an, niemand kam. Er zog zum zweitenmal . . . zum drittenmal . . . hier war niemand zu Hause.
 
Auf dem kleinen, sauberen Porzellanschild stand:
 
                           „Frau Anna Schmidt“.
 
 
In der Mitte der Tür war mit zwei Reißnägeln eine Visitenkarte angeheftet, die die Worte trug:
 
                            „Ralph Walden
                               Violinist.“
 
 
Neben der Türverschalung hingen eine kleine Schiefertafel und ein Griffel, und auf der Tafel stand:
 
                          „Bitte Amt Zentrum 23645!
                                                Ralph.“
 
 
Joe Jenkins zog seinen Taschenblock und notierte die Nummer. Dann eilte er die Treppe hinunter.
 
Auf dem nächsten Postamt rief Joe Jenkins die Direktion des Amts Zentrum an und erfuhr, daß die Nummer 23645 der Grammophonfabrik Urania gehöre. —
 
Der Direktor der großen Sprechmaschinenfabrik empfing den Detektiv höflich erstaunt. „Was verschafft mir die Ehre, Mr. Jenkins?“
 
Der Amerikaner ließ einen Blick über die Erscheinung seines Gegenübers gleiten. „Ist Ihnen der Name Helene Jungmann bekannt?“
 
„Helene Jungmann . . .?“ wiederholte der Direktor erstaunt, „ja . . . seltsam . . . vor zwei Minuten hörte ich diesen Namen zum erstenmal in meinem Leben, und nun fragt man mich schon nach ihm . . . ein Fräulein Helene Jungmann war vor zwei Minuten hier in meinem Bureau, und ich persönlich habe ihr tausend Mark ausgezahlt, die für sie hier hinterlegt waren.“
 
„Wer hat dieses Geld für sie deponiert?“
 
„Ein berühmter Violinenvirtuose. Er hat heute Morgen bei uns für eine Grammophonaufnahme konzertiert. Von seinem Honorar haben wir auf seinen Wunsch den Betrag von tausend Mark für Fräulein Jungmann zurückbehalten und ihn ihr ausgezahlt. Er selbst ist gleich darauf abgereist.“
 
Der Detektiv musterte die Reihe der Registratoren in den Regalen und fragte leise:
 
„Und wie ist der Name dieses Virtuosen?“
 
„Es ist ein berühmter Mann, auf dessen Gewinnung wir stolz sind: Holger Karst.“
 
*         *       *
 
Die beiden Herren hatten den Zug auf der Station Pötzleinsdorf verlassen und waren zu Fuß die Landstraße heruntergewandert, die unter hohen Buchen gegen den Wald zuführte. Hinter dem kleinen Weiher öffnete sich ein Kiesweg, darüber stand: „Privatstraße zum Schlosse Harrenfels.“
 
Die bläulichen Schatten der ersten Dämmerung legten sich schwer und drohend über das weite Land. Hinter den bewaldeten Hügeln schossen die letzten Feuergarben violett empor. Der Detektiv deutete mit der Hand geradeaus. Dort lag , wie in Flammen eingehüllt, ein weißes Schloß. In seinen hohen Fenstern sprühte der Widerschein der zuckenden Flammen, und dieses ganze Gebäude schien eine Sekunde lang von einer ungeheuren Feuersbrunst zu lohen. „Ein beneidenswerter Sitz!“ sagte Joe Jenkins nickend. „Kommen Sie, wir nehmen diesen Feldweg!“ —
 
Eine Viertelstunde später standen die beiden an der Hinterfront des großen Jagdschlosses, aus dessen Innern Stimmengewirr und fröhliches Lachen tönten. Ein paar buntbemalte Fenster standen offen. Jenkins deutete darauf und zog seinen Begleiter mit sich fort.
 
Das Lachen verstummte plötzlich. Ein leises Präludium auf einem Flügel begann tastend. Dann setzte leise und süß der zitternde Ton einer Geige ein, der allmählich anschwoll zu einem jubelnden Krescendo.
 
Der Detektiv wandte langsam den Kopf und blickte dem Virtuosen ins Gesicht.
 
Mit einem Antlitz, das weiß war wie das eines Toten, stand Holger Karst unbeweglich, die starren Augen emporgerichtet, als ob er die Töne tränke, die aus diesen wuchtigen Fenstern auf ihn herabrieselten. Seine keuchenden Atemzüge gingen schwer und stöhnend durch den dunklen Sommerabend.
 
„Nun . . .?“ fragte Joe Jenkins leise.
 
Der Virtuose öffnete den Mund und schloß ihn lautlos wieder. Seine zitternden Arme breiteten sich plötzlich aus, als wollten sie nach diesen Tönen haschen, die durch die düfteschwere Luft herniederzitterten, und bebend sagte er:
 
„Meine Amati!“
 
Das Wort klang durch die Nacht wie der halb schmerzensvolle, halb jubelnde Ruf eines Menschen, der nach langem, trostlosem Suchen in tiefer Waldesnacht vor seinem verlorenen Kinde steht. Und ehe noch Jenkins es hindern konnte, stürzte er unter den Fenstern entlang und stürmte durch die offene Tür ins Haus. —
 
Die Zuhörer im Musiksaal wandten sich erschreckt und unwillig um, als die Tür krachend aufflog. Auch der Spielende auf dem Podium blickte erstaunt auf. Im nächsten Moment fiel seine Hand schlaff herab. Das Spiel brach ab.
 
Mit drei Sätzen stürzte Holger Karst auf die kleine Bühne. Die Zuhörer sprangen von ihren Sitzen empor und starrten verständnislos auf das Bild: zwei Männer standen dort, die sich völlig glichen . . .
 
Der Neuangekommene riß dem anderen Geige und Bogen aus der Hand.
 
„Wer sind Sie?“ Der Herr des Hauses war mit drei Schritten an das Podium herangetreten.
 
„Herr Graf . . . kennen Sie mich nicht mehr?“
 
Der Gefragte blickte bestürzt von dem einen auf den anderen.
 
Da setzte Karst den Bogen an.
 
Und nun sprühte es aus der Amati wie jubelnde Sphärenmusik. Wie in der seligen Liebeswonne des Wiederfindens jauchzte es durch den Raum . . . Durch den kleinen Kreis dieser Musikkundigen ging ein Raunen. „Der Meister!“ schwirrte es von Mund zu Mund. Die Gräfin erhob sich und ging mit ausgestreckten Armen auf den Spielenden zu. „Holger Karst . . . ich erkenne Sie!“ sagte sie leise.
 
„Und wer ist dieser Mann hier?“ wandte sich der Graf an den anderen.
 
„Ein kleiner Spitzbube“, antwortete statt seiner Joe Jenkins. „Einer, dem eben sein Streich mißlungen ist. Jawohl, Herr Ralph Walden . . . Sie sind erkannt! Ihr Plan war nicht übel: Fräulein Jungmann, Ihre Braut, war töricht genug, auf Ihre Bitten einzugehen, als sie in jener Nacht die Geige für Sie stahl . . . Sie mag Ihren Beteuerungen geglaubt haben: daß Ihnen nur eine Künstlergeige fehle, um Sie mit einem Schlage zu einem der ersten Virtuosen der Welt zu machen. Auch die Photographie, die sie Ihnen noch nachträglich beschaffen mußte, haben Sie nicht ohne Talent kopiert —, Ihre Maske ist in  der Tat frappierend. Dieser Herr war nichts anderes“, so wandte er sich an Karst, „als die nächtliche Erscheinung, die Sie in jener Nacht in Angst und Schrecken versetzt hat. Denn Herr Walden war zu ungeduldig; er wartete auf das Lichtsignal aus dem Fenster seiner Braut und zeigte sich in seiner nervösen Spannung am offenen Fenster. Daß Fräulein Jungmann unbedachterweise bei ihrem Eindringen in Herrn Karsts Schlafzimmer in jener Nacht den Hauptschalter drehte, machte Herrn Karst völlig konfus —  was vielleicht ein Glück war, denn dieser Vorfall gab den Ausschlag: er ist am nächsten Tage zu mir gekommen. So habt ihr beide selbst die Glieder der Kette aneinandergeschmiedet, mit der ihr euch fesseltet.
 
Offenbar hat Herr Walden damit gerechnet, Herr Karst werde, seiner Amati beraubt, hoffnungslos und resigniert seine Tournee abbrechen und ihn an seiner Stelle Ruhm und Schätze ernten lassen. Und nun, Herr Walden . . .,“ er zog die Uhr, „nehmen Sie den Zug, der in dreiviertel Stunden von der Station geht, und gehen Sie in die weite Welt, um vielleicht noch auf ehrliche Weise die Karriere zu machen, die auf unehrliche Art mißlungen ist. Und wenn es Ihnen recht ist, Herr Graf, so wird unser Herr Karst — der wirkliche  Holger Karst — nunmehr das unterbrochene Konzert fortsetzen.“


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