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Literatur


04.3


Am Kamin
Paul Rosenhaym

05 Ein Ruf in der Nacht

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Ein Ruf in der Nacht
(Paris)

„Nein“, erwiderte der Detektiv. „Sie und Ihre Frau kenne ich nicht, aber ich glaube, etwas anderes zu kennen, worauf es hier ankommt: das Dokument.“

„Das Dokument?“ wiederholte der Pensionatsbesitzer verständnislos.

„Sie verstehen offenbar noch immer nicht, um was es sich hier handelt, Herr Wendland“, fuhr Joe Jenkins fort. „Wissen Sie im übrigen, was dieses Dokument enthielt?“

„Nein.“

„Es stellt einen geheimen Vertrag dar, geschlossen zwischen zwei europäischen Staaten: eben dem, dessen militärischer Attaché Herr Sanno ist, und einem anderen. Und nun hören Sie, was ich Ihnen sage, Herr Wendland: Dieser Vertrag ist vor drei Tagen einer feindlichen Regierung für eine halbe Million Frank angeboten worden. Dem Angebot lag eine Abschrift der ersten drei Seiten des Vertrages bei.“

Der Pensionatsbesitzer stieß einen dumpfen Schrei des Entsetzens aus, griff mit den Armen in die Luft und fiel kraftlos in einen Sessel. Erst nach einiger Zeit kam er wieder zu sich. Er öffnete mit sichtlicher Mühe die Lider und sah den Detektiv mit glasigen Augen an. „Sind Sie der Meinung,“ fuhr dieser ruhig fort, „daß sich der Vertrag noch in Ihrem Besitze befindet?“

„Kein Zweifel“, antwortete der Gefragte mit matter Stimme. „Ich habe das Dokument noch heute gesehen. Bevor ich fortging.“
 
„Geht Ihre Frau heute aus?“

„Nein.“

„Wann pflegt sie schlafen zu gehen?“

„Um halb zwölf.“

„Ich möchte das Dokument sehen.“

Der Pensionsbesitzer zögerte einen Augenblick.

„Nehmen Sie es mir nicht übel, Mr. Jenkins. Ich weiß nicht recht, ob ich berechtigt bin, Ihnen das Schriftstück zu zeigen.“

Mr. Jenkins blickte einen Augenblick zu Boden und sagte dann leise: „Herr Wendland, ich sehe, Sie haben die Situation noch immer nicht richtig erfaßt. In dem Briefe, den ich hier in der Tasche trage, steckt ein Verhaftungsbefehl.

Wissen Sie, gegen wen er lautet? . . . Gegen Sie und Ihre Frau. Auf Ihnen beiden ruht der Verdacht, den Vertrag entwendet und dem fremden Staate angeboten zu haben. Es kostet mich ein Wort, und Sie sind verhaftet. Das Hotel ist umstellt. Wünschen Sie also, daß ich den Haftbefehl benutze — oder wollen Sie mit mir den Täter ermitteln?“

Der Pensionatsbesitzer rang eine Weile mühsam nach Atem. Schließlich sagte er mit sichtlicher Mühe: „Wenn die Sache so steht, Mr. Jenkins — dann muß ich natürlich tun, was Sie von mir verlangen. Was soll ich also tun?“

„Ihre Frau geht um halb zwölf schlafen. Sie werden solange bei mir bleiben und in der Zeit bis dahin mit mir unten im Restaurant eine Kleinigkeit essen. Dann werden wir zusammen in Ihre Wohnung fahren.“

Es mochte gegen halb zwei Uhr nachts sein, als Herr Wendland und sein Begleiter durch die stillen Straßen des Tiergartens schritten. Fern verklang dumpf das brandende Großstadtleben. Hier, kaum 200 Meter von der Peripherie, war es still und menschenleer. Ab und zu hallte die gedämpfte Hupe eines fernen Automobils herüber. Und je näher die beiden ihrem Ziele kamen, desto leiser und spärlicher klangen die Töne des Lebens zu ihnen herüber.

Die beiden Herren schritten langsam dahin. Beide in tiefen Gedanken. Die Häuser dieses vornehmen Stadtviertels lagen schon in tiefem Schweigen. Über den Straßen hing ein regenschwerer Himmel, und seufzender Nachtwind strich durch die alten Eschen.

„Hier ist die Viktoriastraße“, sagte Wendland und zog seinen Begleiter auf die andere Seite. Im nächsten Augenblick deutete der Pensionatsbesitzer mit der zitternden Hand auf ein Haus, das aus der dunklen Häuserreihe grell hervorstach. Der Detektiv folgte der Richtung des ausgestreckten Armes und zog die Brauen zusammen: die zwei Eckfenster des gegenüberliegenden Hauses erstrahlten in smaragdgrünem Lichte. „Das grüne Licht“, sagte der Pensionatsinhaber mit zitternder Stimme.

„Haben Sie den Schlüssel bereit?“ fragte Joe Jenkins. „Dann kommen Sie schnell.“ Damit stürzten die beiden ins Haus und eilten die Stufen empor.

Wendland schloß die Haustür auf und stürzte voran, ins Arbeitszimmer. Er stieß die Tür auf und sah sich mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck um: das Zimmer lag in tiefem Dunkel.

Mr. Joe Jenkins trat langsam ein, den Strahl einer Taschenlampe auf den Teppich gerichtet. „Bitte, schalten Sie das Licht ein.“ Wendland tat es, und das Zimmer erstrahlte in mildem, gelbem Glühlicht.
„Hat dieses Zimmer einen zweiten Ausgang?“

„Ja, in unser Wohnzimmer.“
 
„Führen Sie mich hinein.“ Auch dies Zimmer war leer.
„Wohin führt diese Tür?“

„Ins Schlafzimmer meiner Frau.“

„Versuchen Sie zu erfahren, ob sie schon schläft.“

 Der Pensionatsbesitzer klopfte an die Tür. Keine Antwort. „Meine Frau schläft schon“, sagte er in bitterem Ton. „Oder sie stellt sich schlafend. Ich habe einen Schlüssel zu dieser Tür. Wünschen Sie, daß ich öffne?“

Der Detektiv blickte einen Augenblick nachdenklich auf die Tür, sah dann dem Pensionatsbesitzer ins Gesicht und sagte mit hartem Gesichtsausdruck:

„Nein.“

Die beiden Herren gingen schweigend über den Korridor und — wie auf Verabredung — wieder ins Arbeitszimmer zurück. „Und nun“, begann Mr. Jenkins, „möchte ich den Vertrag sehen.“

Herr Wendland schloß den Geldschrank auf und entnahm ihm eine Aktentasche. Er öffnete sie; ein großes Kuvert lag darin. Mr. Jenkins riß es mit einem Ruck auf. Der Pensionatsbesitzer warf einen Blick auf den Inhalt und fuhr mit einem Schrei der Überraschung zurück. In dem Kuvert lag eine Zeitung. — — —

„Was wir eben hier festgestellt haben,“ begann Mr. Jenkins nach einer Pause, „hat mich nicht überrascht. Ich war von vornherein überzeugt, daß wir das Dokument nicht mehr vorfinden würden. Ich möchte nun noch einiges von Ihnen wissen. Sie begleiten mich wohl die Treppe hinunter und gehen mit mir bis zu meinem Hotel. Wir können den kurzen Weg ganz gut zu Fuß zurücklegen.—

Ich möchte gern einiges über Ihre Frau wissen, Herr Wendland“, begann Mr. Jenkins, als die beiden Herren durch die nächtlichen Straßen gingen. „Sie sind jetzt 43 Jahre alt, sagten Sie?“

— „Ja.“

„Wie lange sind Sie verheiratet?“

„Seit fünf Jahren.“

„Sie war also 38, als Sie sie heirateten. Ein ziemlich spätes Alter.“

„Sie war Witwe.“

„Wie lange ist der erste Mann tot?“

„Seit neun Jahren.“

„Haben Sie seinen Totenschein gesehen?“

„Ich habe ihn in meinem Besitz“, antwortete der Pensionatsbesitzer, einigermaßen verwundert. „Wie hieß er?“— „Kurt Kramer.“ — „Wie heißt Ihre Frau mit Vornamen?“ — „Margarete.“

„Hat Ihre Frau jemals Kinder gehabt?“

„Nie.“

Dann schritten die beiden wieder schweigend nebeneinander her, jeder seinen Gedanken nachhängend. Das Lichtmeer der Linden tauchte auf, und kurz darauf standen sie vor dem Hotel. „Sie werden morgen von mir hören“, sagte Mr. Jenkins zum Abschied und reichte dem Pensionatsbesitzer die Hand. „Gute Nacht.“

Eben wollte der Detektiv den Hoteleingang betreten, als ihn jemand am Arm berührte. Als er sich umwandte, blickte er in das totenbleiche Gesicht Wendlands, der ihn mit angstvollen Augen ansah. „Noch eins“, sagte er mit zitternder Stimme. „Ich sehe, alles spricht gegen meine Frau. Die Verdachtsmomente häufen sich von Stunde zu Stunde. Ich selbst werde ja irre an ihr. Und darum bitte ich Sie, Mr. Jenkins — Sie, der Sie tiefer sehen als gewöhnliche Sterbliche, sagen Sie mir das eine: halten Sie meine Frau für schuldig?“

Der Detektiv wandte sich langsam nach dem Fragenden um, blickte einen Augenblick vor sich hin und sagte, indem er dem Pensionatsbesitzer voll ins Gesicht sah: „Nein!“

* * *

Am nächsten Morgen empfing Herr Wendland ein Telegramm:
„Erwarte Sie elf Uhr abends Hotel. J. J.“ —

Mr. Jenkins war schon fertig zum Ausgehen gerüstet, als Wendland den Vorraum um 11 Uhr abends betrat.

„Sie werden heute abend,“ begann der Detektiv, als die beiden auf die Linden hinaustraten, „wahrscheinlich einiges zu sehen und zu hören bekommen, was Sie in Bestürzung versetzen wird.

Darum möchte ich Sie daran erinnern:

die Dinge sehen oft schlimmer aus, als sie sind. Denken Sie daran, bevor Sie etwas unternehmen. Und nun, Kopf hoch! Und hoffen wir auf einen guten Ausgang.“

„Wohin fahren wir?“ fragte der Pensionatsbesitzer. Statt aller Antwort winkte der Detektiv einem Chauffeur. „Manhattan-Bar.“

Das Auto sauste durch die nächtlichen Straßen des Berliner Westens. Hier pulsierte das heiße Leben der Großstadt. Mächtige Transparente leuchteten verführerisch durch die Nacht.

Das Auto der beiden Herren stoppte mit knirschendem Ruck. Joe Jenkins zahlte und zog seinen Begleiter in das Dunkel eines Hauses. Gegenüber leuchtete ein Transparent: „Manhattan-Bar“.

Das Nachtleben dieser Bar schien um diese Zeit noch im Anfangsstadium zu sein. Der Nigger, der den Dreheingang zu bedienen hatte, räkelte sich gähnend an der Mauer und kam nur von Zeit zu Zeit gelangweilt herbei, um einen einzelnen Gast einzulassen. Von innen drangen die weichen Klänge der Zigeunermusik.

Joe Jenkins ging langsam über die Straße, nachdem er seinem Begleiter ein Zeichen gegeben hatte, zurückzubleiben. Er trat auf den Nigger zu und wechselte ein paar Worte mit ihm. Der Angeredete machte eine bejahende Kopfbewegung. Jenkins drückte ihm ein Geldstück in die Hand und kam langsam zurück. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln der Befriedigung. „Wir müssen warten,“ sagte er, „aber ich denke nicht allzulange.“

Etwa eine halbe Stunde später fuhr vor der Bar ein Automobil vor, dem eine Dame in mittleren Jahren entstieg. Sie ging auf den schwarzen Portier zu und sprach mit ihm. Der Nigger verschwand ins Innere der Bar. Die Angekommene ging wartend draußen auf und ab. „Kennen Sie diese Dame?“ fragte Jenkins seinen Begleiter halblaut. Wendland, der erst jetzt auf die Angekommene aufmerksam geworden war, sah scharf hinüber und sagte plötzlich mit zitternder Stimme: „Meine Frau!“ Im nächsten Augenblick wollte er über die Straße stürzen, als er sich von Jenkins mit festem Griff gepackt sah. „Denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe,“flüsterte der Detektiv,“ und warten Sie!“

Ein paar Minuten waren vergangen, da kam aus der Bar ein junger Herr in Theatermantel und Frack und ging auf Frau Wendland zu, die er mit ziemlich verdrießlicher Miene begrüßte. Sie schien eifrig auf ihn einzureden; er nahm schließlich ihren Arm und die beiden gingen davon.

„Kommen Sie“, flüsterte Jenkins. Langsam folgten die beiden dem Paar. Der Weg führte durch mehrere Querstraßen des Westens. Der Herr blieb plötzlich vor einem Hause stehen, zog einen Schlüssel aus der Tasche und verschwand mit seiner Begleiterin im Hause.

Mit erdfahlem Gesicht starrte Wendland auf das Schauspiel. Endlich zischte er mit wutbebenden Lippen: „Das hätte ich nie gedacht, Mr. Jenkins! Daß meine Frau mich betrügt! Diese schamlose Dirne! Und noch dazu mit einem so jungen Menschen! Ein unzweifelhafter, glatter Ehebruch! . . . Lassen Sie mich,“ rief er, als Jenkins sich seines Armes bemächtigte, „ich muß die beiden überraschen! Lassen Sie mich los!“ Der Detektiv war dem andern an Kräften weit überlegen. „Sie kommen nicht von der Stelle, Herr Wendland“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Denn Sie würden alles verderben. Warten Sie ab. Morgen früh werden Sie anders über diese Dinge denken!“

Es waren nicht mehr als zehn Minuten vergangen, als die Tür krachend aufflog und eine Dame aus dem Hause stürzte. In der Hand trug sie ein längliches Paket. Am nächsten Hause fiel der volle Lichtschein der Straßenlaterne über ihre Gestalt. Es war Frau Wendland. Gleich hinter ihr erschien der junge Herr in der Tür. Schon wollte er sich auf die Dame stürzen; jetzt hatte er sie erreicht und an der Schulter gepackt. In diesem Augenblick stieß Jenkins seinen Begleiter an: „Kommen Sie“ Die beiden rannten über die Straße, und im nächsten Moment hatte der Detektiv den jungen Herrn mit eisernem Griff gepackt. Eben wollte Wendland seinen Stock auf dessen Kopf niedersausen lassen, als Jenkins ihm in den Arm fiel.

„Schlagen Sie ihn nicht!“ rief er dem Verdutzten zu. „Es ist Ihr Stiefsohn!“ . . .

Der Pensionatsbesitzer prallte zurück und blickte bald auf seine Frau, bald auf den jungen Herrn, bald auf Jenkins. Frau Wendland stand einen Augenblick wie erstarrt, dann brach sie in bitterliches Weinen aus.

Mr. Jenkins nahm der Dame das längliche Paket aus der Hand, öffnete es und nickte. „Ich sehe, Frau Wendland,“ sagte er mit leiser Stimme, „Sie haben alles Menschenmögliche getan, um das begangene Unrecht wieder gutzumachen. Und ich will versuchen, Ihnen weiterzuhelfen, damit diese Sache, wenn möglich, zu einem guten Ende geführt wird. Ich habe hier wohl das Vergnügen mit Ihrem Sohn aus erster Ehe, Herrn Fritz Kramer?“

Frau Wendland nickte schluchzend; der junge Mann sah den Detektiv finster an.

„Ich setze voraus,“ fuhr Joe Jenkins fort, „daß Ihr Sohn offen und ehrlich gegen mich ist und mit der Wahrheit nicht hinterm Berge hält. — Wollen Sie mir wahrheitsgemäß antworten?“ Er wandte sich an den jungen Mann. „Natürlich nicht hier. Gehen wir in Ihre Wohnung.“

Der so in die Enge Getriebene wollte Einwendungen machen, als ihm Mr. Jenkins zuvorkam. „Sehen Sie dort drüben die Männer?“ fragte er. „Die warten darauf, daß ich pfeife.“
Der junge Mann wandte sich zur Tür: „Kommen Sie!“

Sie traten in das Haus und schritten die Treppe hinauf. In der zweiten Etage öffnete Fritz Kramer eine Wohnungstür und trat mit seinen Begleitern ein. —

„Zunächst,“ begann Mr. Jenkins, „will ich Ihnen erklären, auf welche Weise ich von Ihrer Existenz erfahren habe. Heute morgen habe ich mich vor allen Dingen bei der Behörde über die Personalien der Frau Wendland erkundigt. Da fiel mir eine Unstimmigkeit auf: Herr Wendland hat mir erzählt, seine Frau sei kinderlos. Aus den Akten geht aber hervor, daß sie einen Sohn aus erster Ehe hat. Welchen Grund konnte sie haben, die Existenz dieses Sohnes zu leugnen, der jetzt 24 Jahre alt ist? Es gab nur eine Erklärung: dieser Sohn war — Sie entschuldigen wohl, Herr Kramer — ein Taugenichts. Diese Annahme ist mir durch meine Nachforschungen bei den Behörden nun allerdings in ungeahntem Maße bestätigt worden. Dieser hoffnungsvolle junge Mann ist nacheinander Ingenieur, Kaufmann, Steward, Schreiber gewesen. — Dann ist er ins Ausland gegangen und hat eineinhalb Jahr in der französischen Fremdenlegion gedient. Dort ist er desertiert und vor zwei Monaten nach Berlin zurückgekommen. Hier haben ihn seine Wirtsleute ordnungsmäßig gemeldet: Paulanerstraße 25.

Die Vermutung lag gewiß nahe, daß zwischen den nächtlichen Ausflügen der Frau Wendland und der Anwesenheit dieses verheimlichten Sohnes ein Zusammenhang bestand. Offenbar wußte ihn die Mutter in schlechter Gesellschaft — ich höre, er ist Stammgast der Manhattan-Bar — und versuchte, wenig erfolgreich, ihn zu einem arbeitsamen Leben zurückzuführen. Dann kam die Krankheit des Militärattachés, und der Sohn hörte wahrscheinlich durch seine Mutter von dem zurückgelassenen Dokument. In ihm tauchte der Gedanke auf: wenn du den Inhalt erführst! Dann könntest du mit einem Schlage ein reicher Mann sein, und alles Arbeiten hätte ein Ende! Wie er daran ging, diesen Plan auszuführen, werden Sie gleich hören.

Eine der prominentesten Erscheinungen dieser Affäre ist das grüne Licht, von dem wiederholt die Rede war. Nun, ich habe mich heute abend, in Abwesenheit dieses jungen Herrn, ein wenig in seiner Wohnung umgesehen. Und da habe ich mit einiger Mühe eine erschöpfende Erklärung für das nächtliche grüne Licht gefunden. Kommen Sie mit.“ Mr. Jenkins führte seine Zuhörer ins Nebenzimmer, wo er auf einen Schrank zuging. Diesem entnahm er einen größeren Apparat, den man im dunklen Raum nicht erkennen konnte. Ein schnappendes Geräusch wie vom Anknipsen eines Schalters — und eine längliche Röhre erstrahlte in magisch grünem Lichte.
 
„Erkennen Sie, was es ist?“ fragte Jenkins nach einer Pause den Pensionatsbesitzer, der mit großen Augen auf die Erscheinung starrte. „Es ist eine Quecksilberdampflampe in Verbindung mit einem photographischen Apparat. Damit hat Herr Kramer, Ihr Stiefsohn, in den Nächten, in denen Sie abwesend waren, Blatt für Blatt des geheimen Dokuments photographiert. Das Licht des Quecksilberdampfes hat bekanntlich eine starke chemische Wirkung, die es besonders zum Photographieren geeignet macht. Der junge Mann hatte — das muß ich zu seiner Ehre sagen — ursprünglich nicht die Absicht, den Vertrag zu stehlen. Er wollte ihn nur abschreiben, oder richtiger gesagt, photographieren. Da Sie ihn aber mehrere Male gestört haben, so hat er sich gestern abend entschlossen, den Vertrag einfach mitzunehmen. Denn nachdem er die ersten Seiten photographiert und seinem Angebot an die fremde Regierung als Beleg beigegeben hatte, mußte er mit der Möglichkeit rechnen, daß man ihm den Vertrag tatsächlich abkaufen würde. Um zu dem Geldschrank zu gelangen, bedurfte es eines Nachschlüssels. Diesen hat er sich wahrscheinlich anfertigen lassen mit Hilfe Ihres eigenen Schlüssels, den Sie wohl von Zeit zu Zeit Ihrer Frau zurücklassen. Ob mit Wissen der Mutter oder ohne ihre Einwilligung, will ich nicht untersuchen.“

„Es war ohne mein Wissen“, sagte Frau Wendland und warf einen traurigen Blick auf ihren Sohn.
 
„Herr Kramer ist jedesmal, wenn er Sie kommen hörte, mit seinen Apparaten in das Zimmer seiner Mutter geflüchtet und hat dort vermutlich die Nacht unter ihrem Bett zugebracht. Sie sind dadurch, wenn auch wider Willen, zu seiner Mitschuldigen geworden, gnädige Frau. Und ich gestehe Ihnen: ich weiß selbst noch nicht recht, was ich tun werde.“

Frau Wendland starrte schweigend vor sich hin.

„Die Hauptsache, das Verbrechen selbst, ist glücklicherweise unterblieben. Auch dürfte die Kenntnis vom Inhalt des Dokuments Ihren Sohn wahrscheinlich nicht viel klüger gemacht haben. Denn ich vermute, daß er die betreffende Sprache gar nicht versteht. Darum wohl hat er den Inhalt auch nicht abgeschrieben, sondern photographiert. Stimmt es, Herr Kramer?“

„Ja“, antwortete dieser finster.

„Schließlich,“ fuhr Jenkins fort, „ist es nicht meine Aufgabe, diesen jungen Mann ins Unglück zu bringen, sondern lediglich, das Dokument wieder herbeizuschaffen . . . Ich will Ihnen einen Vorschlag machen“, er wandte sich an Fritz Kramer.“Sie sind Seemann gewesen?“ — „Jawohl, Mr. Jenkins.“

„Haben Sie Lust, als Matrose in die amerikanische Handelsmarine einzutreten?“

Der junge Mann sah einen Augenblick zu Boden, richtete dann einen leuchtenden Blick auf den Detektiv und sagte: „Das möchte ich gern. Leider ist das Angebot sehr groß.“

„Nun,“ sagte Mr. Jenkins, „ich denke, ich kann Ihnen die Gelegenheit, sich zu rehabilitieren, verschaffen. Und nun gestatten Sie, gnädige Frau, daß ich dieses Dokument an mich nehme. Denn Sie haben es doch wohl Ihrem Sohn eben abgenommen, ums es in den Geldschrank zurückzulegen.“

Frau Wendland nickte und gab Mr. Jenkins das Paket.

„Ich werde es also morgen früh der rechtmäßigen Besitzerin, nämlich der Gesandtschaft, zurückerstsatten“, fuhr Jenkins fort. „Und nun zu Ihnen, Herr Wendland. Ich denke, Sie haben keine Ursache, Ihrer Frau zu grollen. Im Gegenteil, ich hoffe, Sie werden sie mit offenen Armen wieder aufnehmen und ihr nicht zürnen, daß sie, als ein schwacher Mensch, einen Augenblick zwischen den beiden heiligsten Empfindungen des Menschenherzens geschwankt hat: zwischen der Liebe zu ihrem Sohn und der Treue zu ihrem Gatten.“

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