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04.3
Am Kamin
Paul Rosenhaym
05 Ein Ruf in der Nacht
______________________________
Das Haus im Schatten
(Paris)
„Endlich!“
Der Mann, der seit nahezu zwei Stunden vor der Tür des
Hauses der Avenue Wagram gestanden hatte, atmete auf und trat auf den
Herrn zu,
der aus dem Dunkel der Nacht sich losgelöst und das Haus betreten
hatte.
„Ich habe wohl die Ehre, Mr. Joe Jenkins vor mir zu
sehen?“
Der Angeredete drückte auf den Knopf einer Taschenlaterne
und ein greller Lichtschein flutete über die Erscheinung des Wartenden.
Der
Detektiv schien von der Prüfung befriedigt zu sein, denn er fragte:
„Was steht
zu Diensten?“
„Etwas sehr Wichtiges, Mr. Jenkins! Wollen Sie mir gestatten,
einen Augenblick mit in Ihre Wohnung zu kommen?“
„Kommen Sie!“
Der Detektiv öffnete den Lift, drückte auf den Knopf und
nach einer Minute betraten die beiden die Wohnung im zweiten Stock.
„Ich bin glücklich, Sie noch getroffen zu haben, Mr.
Jenkins“, begann der nächtliche Besucher. „Und wenn ich von zwei bis
vier Uhr
nachts vor Ihrer Tür gewartet habe, so wird Ihnen dies allein schon
genug
sagen. Es ist in der Tat ein rätselhafter Anlaß, der mich zu Ihnen
geführt, und
wenn ich daran denke, so zittern mir noch jetzt alle Glieder.“
„Einen Augenblick“, unterbrach ihn der Detektiv. „Wie ich
sehe, sind Sie seit heute nachmittag — richtiger gesagt seit gestern
nachmittag
vier Uhr unterwegs. Sie haben seit dieser Zeit nur auf einen Augenblick
Ihre
Wohnung wieder aufgesucht, haben kein Licht gemacht und sind nach etwa
fünf
Minuten wieder fortgegangen.“
Der Besucher sprang mit einem Satz auf die Füße und
starrte den Detektiv an, der ihn mit ruhigem Lächeln betrachtete.
„Keine Ursache sich aufzuregen“, fuhr dieser fort. „Die
Sache ist höchst einfach. Die Spritzer, die Ihre Beinkleider bis zu den
Knien
hinauf bedecken, beweisen mir, daß Sie bei Regenwetter unterwegs waren.
Nun,
der Regen hat heute um vier Uhr aufgehört. Ihre Schuhe dagegen sind
sauber, ein
Zeichen, daß Sie inzwischen zu Hause waren und Ihr Fußzeug gewechselt
haben.
Auch sehe ich, daß an Ihrem linken Beinkleid die Flecke zum Teil
abgebürstet
sind, während das rechte Bein voller Spritzer ist. Ein Beweis, daß Sie
in Ihrem
Zimmer nicht erst Licht gemacht haben, sich in höchster Eile
abgebürstet und
die Wohnung sofort wieder verlassen haben.“
„In der Tat Mr. Jenkins“, antwortete der Besucher. „Es
ist wörtlich so wie Sie sagen. Und da Sie, wie ich sehe, tiefer blicken
als die
meisten Menschen, so werden Sie mir vielleicht auch Aufschluß in der
merkwürdigen Sache geben können, in der ich zu Ihnen komme.“
Er setzte sich wieder in seinen Sessel und fuhr fort:
„Ich bin der Besitzer des Hauses Rue Miramare 84. Es ist ein altes
Haus, das
sich seit etwa hundert Jahren in unserer Familie vererbt hat. Bis vor
einem
Jahre hatte ich es an einen Lumpenhändler vermietet, der das Parterre
und die
beiden Stockwerke als Bureau und Lager benutzte. Seitdem er fortgezogen
ist, um
sich zu vergrößern, habe ich das Haus nicht wieder vermieten können.
Nun — ein
Wunder ist es nicht, denn es ist ein baufälliger Kasten und es liegt in
einer
ziemlich verrufenen Straße. Und dann hat es noch einen Fehler: die
Fenster
liegen nach Norden und das Haus hat daher überhaupt keine Sonne. Es
wird, wie
mir zufällig zu Ohren kam in der Nachbarschaft nicht anders genannt
als: ‚Das
Haus im Schatten‘, und man knüpft sogar allerhand sagenhafte Gerüchte
aus alter
Zeit an das Gebäude, die indessen unbegründet sind, wie ich als
Besitzer wohl
am besten wissen muß. Nun, wie ich Ihnen sagte, Mr. Jenkins: das Haus
steht
seit einem Jahre leer. Die Schilder an den Fenstern mit der Aufschrift:
Zu
vermieten oder zu verkaufen, sind allmählich verwittert und unleserlich
geworden, und ich dachte schon darüber nach, ob es überhaupt noch Zweck
hätte,
sie durch neue zu ersetzen, als etwas Unerwartetes geschah. Eines
Abends kam
ein Mann zu mir und fragte mich, ob ich ihm das Haus vermieten wolle
und was
ich dafür haben wolle. Ich nannte ihm einen bescheidenen Preis: 3000
Franken
pro Jahr, und er akzeptierte ohne weiteres. Er wolle vorläufig auf ein
Jahr
mieten, erklärte er mir, habe aber die Absicht, das Haus später zu
kaufen. Daher müsse er zur Bedingung machen, daß ich
mich von heute ab mit keinem andern auf eine Unterhaltung wegen meines
Hauses
einlasse und vor allem von heute ab niemandem das Haus zeigen werde.
Nun, ich
war zwar ein wenig erstaunt über die Bedingungen, aber ich akzeptierte
sie mit
Freuden, denn das verflossene Jahr hatte mir gezeigt, wie wenig
Aussicht
vorhanden war, für das Haus überhaupt einen Interessenten zu finden.
Der Mieter
zahlte auf der Stelle für den ersten Monat 250 Franken an und erhielt
die
Schlüssel.“
„Wann war dies?“ fragte Mr. Jenkins.
„Am 1. Februar, also vor einem Monat und drei Tagen.“
„Wie hieß der Mieter?“
„Er nannte sich Aristide Granard. Ich erbot mich, das
Haus von Grund auf reinigen zu lassen, was Herr Granard ablehnte. Er
erklärte
mir, dies sei überflüssug, denn er habe genügend Personal, um es selbst
besorgen zu können. Nun, ich hatte keinen Grund, ihn von diesem
Vorhaben
abzubringen.“
„Zu welchem Zweck mietete Herr Granard das Haus?“ fragte
Mr. Jenkins. „Hat er sich darüber ausgesprochen?“
„Ja. Er erklärte mir, er wolle eine galvanoplastische
Anstalt errichten. Wie Sie sich denken können, war ich froh, das Haus
vermietet
zu haben. Ich ging in den nächsten Tagen ein paarmal durch die Rue
Miramare an
meinem Hause vorbei und sah einmal einen großen Wagen, aus dem
verschiedene
Gegenstände abgeladen und ins Haus gebracht wurden. Sie waren in Tücher
eingehüllt und eingenäht, nach den Umrissen mochten es Maschinen sein.
Ich
konnte mich nicht enthalten, einen Augenblick in das Haus zu treten:
auf mein
Klingeln öffnete Herr Granard persönlich. Er schien über mein Kommen
ziemlich
erstaunt, ich möchte fast sagen bestürzt zu sein, denn er fragte mich
mit
hastigen Worten, was ich wünschte. ‚Nichts Besonders‘ erwiderte ich,
‚ich
möchte nur fragen, wie Sie mit dem Hause zufrieden sind.‘ ‚Ganz gut,
ganz gut‘,
rief er und drängte mich fast zur Tür hinaus. Ich war über sein
Verhalten
ziemlich verwundert, wie Sie sich denken können. Aber schließlich
konnte er in
seinem Hause machen was er wollte.
Es mochten etwa vierzehn Tage vergangen sein, als ich
eines Nachts etwa ½ 3 Uhr an meinem Hause in der Rue Miramare
vorüberkam. Ich
hatte mit einem Freunde Karten gespielt und es war darüber ein wenig
spät
geworden. Gerade als ich an meinem Hause vorüberschritt, überholte mich
ein
Automobil und hielt plötzlich vor Nummer 84. Neugierig blieb ich stehen
und sah,
daß aus dem Wagen zwei Herren stiegen, die die Tür des Hauses
aufschlossen und
eintraten. In dem Moment, als das Auto abfahren wollte, kam von der
entgegengesetzten Seite ein anderes Automobil an, dem ebenfalls ein
Herr
entstieg; wie ich gleich darauf erkannte, war es Herr Granard. Er
schloß
eiligst auf und kam zu meinem Erstaunen nach etwa einer Minute mit
einem der
vorher angekommenen Herren zurück. Die beiden bestiegen das noch
wartende Auto
und fuhren in der Richtung nach dem Boulevard Montmartre wieder davon.
Eben
wollte ich fortgehen, als ein drittes Auto angefahren kam, aus dem
wieder zwei
Herren stiegen. Sie klopften in einer eigentümlichen Weise an die Tür,
als
diese mit einem Ruck aufflog, und zwar ohne daß jemand dastand, der sie
geöffnet haben konnte.“
„Woraus schließen Sie dies?“ fragte der Detektiv.
„Die Tür drehte sich schnell um ihre Achse und stieß
krachend gegen die Wand, ein Beweis, daß niemand dahinter stand. Aber
auch
davor stand niemand, denn sonst hätte ich ihn sehen müssen.“
„Was geschah dann?“
„Kopfschüttelnd ging ich weiter, als plötzlich in
rasendem Lauf von links ein Mann auftauchte. Er rannte, wie jemand
rennt, der
um sein Leben rennt, und er hätte mich fast umgerissen. Anscheinend
wurde er
verfolgt. Bei mir angelangt, bog der Fliehende quer über die Straße,
blieb mit
einem Ruck vor meinem Hause stehen und zog einen Schlüssel aus der
Tasche.
Neugierig ging ich ihm nach und erkannte zu meinem Erstaunen meinen
Mieter,
Herrn Granard. Im gleichen Moment erkannte auch er mich. Nie, Mr.,
Jenkins,
habe ich im Gesicht eines Menschen solche Bestürzung gesehen. Er sah
mich an,
als ob er einen Geist vor sich sähe und fand erst nach einigen
Augenblicken die
Sprache wieder. ‚Was wollen Sie?‘ schrie er. ‚Was wollen Sie von mir?
Was
spionieren Sie hier herum?‘ Ich suchte ihn zu besänftigen und erklärte
ihm, ich
käme hier zufällig vorbei. Aber er hörte nicht darauf. ‚Was spionieren
Sie
hier?‘ schrie er noch lauter. ‚Bin ich Ihnen etwas schuldig?‘ ‚Sie
haben doch
Ihre Miete bekommen!‘ In diesem Moment drehte er den Schlüssel herum
und war
mit einem Satz im Hause, das er von innen wieder abschloß. Im gleichen
Augenblick waren seine Verfolger angelangt. Sie sahen mich einen
Augenblick
prüfend an und stürmten weiter.“
„Was taten Sie darauf?“ fragte M. Jenkins.
„Ich ging kopfschüttelnd nach Hause. Das Geschehene und
Gehörte hatte mich, wie ich offen gestehen muß, nachdenklich gemacht.
Ich
beschloß, auf alle Fälle das Haus in der Rue Miramare ein wenig zu
beobachten.
Einige Male ging ich abends daran vorbei. Die Laden waren fest
geschlossen,
indessen sah ich durch die Spalten Licht schimmer.
Es war einen Monat nach dem Vermietungstage, also am 1.
März, als Herr Granard mich morgens aufsuchte. Er erklärte mir, er habe
sich
entschossen das Haus zu kaufen, wenn ich ihm einen annehmbaren Preis
dafür
machen würde, und wir einigten uns schließlich auf 96000 Franken. Herr
Granard
bemerkte, er erledige grundsätzlich alles auf der Stelle und zahlte mir
den
Kaufpreis von 96000 Franken sofort aus. Und nun kommt das
Unbegreifliche. Heute
früh, also drei Tage später erschien Herr Granard abermals bei mir und
teilte
mir mit, daß er in einer Erbschaftsangelegenheit nach Kanada reisen
müsse.
Daher sei er gezwungen, sein Vermögen zu liquidieren und auch sein Haus
wieder
zu verkaufen. Ob ich es zurückkaufen wolle?“
„Ich antwortete Herrn Granard natürlich, ich könne mich
hierzu nicht entschließen. Ich gestand ihm, ich sei sehr froh gewesen
einen
Käufer gefunden zu haben und ein Haus losgeworden zu sein, das nur noch
den
Grundwert habe. ‚Nun,‘ erwiderte Herr Granard drauf, ‚ich will Sie
nicht
übervorteilen. Wieviel beträgt nach Ihrer Meinung der Grundwert?‘
‚38.000 Franken,‘ sagte ich aufs Geratewohl.
‚Gut,‘ sagte Herr Granard, ‚ich bin damit zufrieden.‘“Was
sollte ich tun? Das Haus hat einen Grundwert von mindestens 50 000
Franken,
dafür kann ich es jeden Tag an die Stadt Paris verkaufen. Es wunderte
mich,
offen gestanden, daß Herr Granard, der einen sehr geschäftsstüchtigen
Eindruck
macht, hieran nicht gedacht hatte. Nun, mir konnte es schließlich recht
sein.
Ich zahlte also Herrn Granard seine 38000 Franken aus und das Haus
gehörte
wieder mir.“
„Zahlten Sie Herrn Granard das Geld auf der Stelle aus?“
„Ja. Dann sagte Herr Granard:
‚Noch eins. Ich lasse in Ihrem Hause eine Anzahl Teppiche
zurück, die ich bei der Kürze der Zeit zu einem regulären Preise nicht
mehr
verkaufen kann. Wollen Sie sie mir abnehmen?‘ Ich lasse sie Ihnen
billig, für
500 Franken.‘ Ich wollte erst nicht recht darauf eingehen, entschloß
mich
indessen auf sein Zureden, die Teppiche zu kaufen und gab Herrn Granard
einen
Scheck über 38 500 Franken auf mein Konto bei der Crédit Lyonnais. Dann
ging
ich in mein Haus hinüber um mir mein wiedererlangtes Eigentum
anzusehen. Und da
sah ich etwas, was mich in ratloses Erstaunen versetzte. Wie mir Herr
Granard
richtig gesagt hatte, war das ganze Haus von oben bis unten mit
Teppichen
ausgelegt. Wie ich nun auf den ersten Blick erkannte, waren es echte
Perserteppiche, deren Wert in gar keinem Verhältnis zu dem geforderten
Preise
von 500 Franken stand. Ich traute meinen Augen kaum. Schließlich kam
ich zu der
Überzeugung, es müßten doch wohl geschickte Imitationen sein, bis ich
irgendwo,
wo wohl zuvor ein Papierkorb gestanden hatte, ein zerknittertes Papier
fand. Ich
faltete es auseinander und erkannte, daß es eine Rechung der
Teppichfirma
Montholen frères war. Sie lautete über neun Perserteppiche im
Gesamtwert von 25
000 Franken und war ordnungsgemäß quittiert. Nachdenklich schritt ich
durch die
Zimmer und trat ans Fenster. Und da entdeckte ich etwas, was mich
vollends in
Bestürzung versetzte. Die Hülle des Heizkörpers hatte sich etwas
verschoben.
Ich wollte sie zurechtrücken. Es gab einen Widerstand. Irgendein
Gegenstand
mußte dazwischen sein. Ich nahm die Hülle ab, um das Hindernis zu
entfernen und
fand eine Frieftasche mit 33 000 Franken, dem Kaufpreise, den ich Herrn
Granard
für das Haus bezahlt hatte. Und nach dieser Entdeckung war es mir klar:
hier
geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Die Sache stimmt nicht; irgend
etwas
ist geschehen oder wird geschehen; wahrscheinlich ein Verbrechen. Und
darum
komme ich zu Ihnen, Mr. Jenkins. Ich habe viel von Ihnen gehört; man
hat mir
gesagt, Sie wären der scharfsinnigste Mann in Europa. Sagen Sie mir,
Mr.
Jenkins, was hat das Ganze zu bedeuten?“
Der Detektiv sah eine Zeitlang vor sich nieder; seine
Brauen waren gerunzelt, die Augen halb geschlossen. „Zunächst eine
Frage,“
begann er endlich, „hat Herr Granard Ihren Scheck schon präsentiert?“
„Nein. Er verließ mich um 4 Uhr, und um diese Zeit
schließt meine Bank:“
„Gut! Er wird also morgen früh um 9 Uhr da sein. Oder
vielmehr, er wird einen Boten schicken und in der Nähe warten. Sie
sprachen von
einer gefundenen Brieftasche. Haben Sie sie bei sich?“
„Hier ist sie.“ Der Besucher zog ein altes schwarzes
Portefeuille aus der Tasche, das er dem Detektiv übergab.
„Sie haben an dem Inhalt nichts geändert? Nichts
fortgenommen, nichts hinzugelegt?“
„Nichts.“
„Sie haben Ihre Sache gut gemacht.“ Der Detektiv öffnete
die Brieftasche und überzählte flüchtig den Inhalt, der aus
Tausendfrankbillets
bestand. „Und nun die Hauptsache. Herr Granard hat Ihnen vor drei Tagen
96 000
Franken bezahlt. Wo haben Sie das Geld? Haben Sie es schon zur Bank
gebracht?“
„Nein! Ich pflege jeden Sonnabend auf meine Bank zu
gehen. Wir haben heute Freitag; morgen wollte ich das Geld zur Bank
bringen.“
„Sie haben es also noch im Hause?“
„Ja!“
„Fühlen Sie sich frisch genug, um mich nach Ihrem Hause
in der Rue Miramare zu begleiten?“
„Noch jetzt? In der Nacht ?“
“Auf der Stelle. Die Sache duldet keinen Aufschub.“
„Und was versprechen Sie sich von dem nächtlichen
Besuch?“
„Nun,“ sagte Mr. Jenkins lächelnd, „ich denke, Herr
Granard wird in diesem Moment in jenem Hause sein. Es dürfte ihm daran
liegen,
die verlorene Brieftasche zu holen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich
ein
Wörtchen mit ihm reden. Kommen Sie mit?“
„Ich bin vollständig munter.“
Mr. Jenkins entnahm seinem Schreibtisch einen Browning,
und der Besucher sah, daß er das Magazin neu füllte. Hierauf rief er
telephonisch eine Nummer an und unterhielt sich mit jemandem in
englischer
Sprache, die der Besucher nicht verstand.
„Wir
nehmen jetzt ein Auto“, sagte Mr. Jenkins, als die
beiden unten angelangt waren. Er rief ein vorüberfahrendes Automobil an
und ließ an der Rue Miramartre halten. Er setzte mit seinem Begleiter
den Rest des
Weges zu Fuß fort. An der Ecke der Rue Miramare bemerkte der
Hausbesitzer, als
er sich zufällig umdrehte, daß in einer Entfernung von zwanzig Schritt
ihnen zwei
Gestalten folgten.
Ein wenig ängstlich, machte er den Detektiv
darauf aufmerksam. „Keine Sorge,“ sagte dieser lächelnd, „es sind meine
Assistenten. Ich habe sie telephonisch bestellt. Wenn nicht alles
täuscht,
werden wir heute nacht noch Arbeit bekommen. Welche Nummer hat Ihr Haus
in der
Rue Miramare?“
„Nr.
84.“
„Hier ist 72. Liegt es auf dieser Seite?“
„Ja!“
„Gehen wir also auf die andere Seite.“
Das Haus Nr. 84 lag im tiefsten Dunkel. Die verwitterte
Fassade hatte in der Tat etwas Unheimliches und mochte den Beinamen:
„Das Haus
im Schatten“ wohl rechtfertigen. Die Fenster waren halb erblindet, man
sah dem
Gebäude an, daß es unbewohnt war. Die beiden blieben stehen.
„Sehen Sie etwas?“ flüsterte der Detektiv.
„Nein!“
„Betrachten Sie
die Fenster der zweiten Etage!“
Der Hausbesitzer sah angestrengt hinauf. Plötzlich stieß
er einen Ruf der Überraschung aus. „Ich sehe Licht am Mittelfenster.“
„Ist es das Treppenhaus?“
„Ja!“
„Also kommen Sie!“
Der Detektiv packte seinen Klienten am Arm und zog ihn in
das Dunkel des gegenüberliegenden Hauseinganges zurück. Der
Hausbesitzer
starrte hinüber und bemerkte einen Lichtschein, der nacheinander im
ersten Stockwerk
und im Parterre aufleuchtete. Auf einmal war alles dunkel. Ein
knackendes
Geräusch ließ ihn sich zur Seite wenden. Neben ihm stand Joe Jenkins,
in der
Hand den schußbereiten Revolver.
Nach einer Weile ging langsam die Tür des
gegenüberliegenden Hauses auf und heraus trat ein alter Mann mit weißem
Bart in
gebückter Haltung. Er schaute aufmerksam nach links und recht und
wollte eben
den Weg in der Richtung nach der Rue Montmartre einschlagen, als
plötzlich ein
Pfiff ertönte. Joe Jenkins hatte ihn ausgestoßen. Im gleichen Moment
sprangen
von rechts und links zwei Männer - es
waren die Assistenten des Detektivs — auf den Mann zu und packten ihn
am Arm.
„Kommen Sie“, sagte Mr. Jenkins halblaut. „Es war die
höchste Zeit.“
Er lief mit einigen Sätzen über die Straße und fragte den
Hausbesitzer, der ihm unmittelbar gefolgt war:
„Erkennen Sie diesen Mann?“
Der Angeredete sah den weißbärtigen Mann verwundert an
und sagte dann:
„Nein!“
„Einen Augenblick.“ Der Detektiv drückte auf den Knopf
seiner Taschenlaterne, leuchtete dem Mann ins Gesicht und riß ihm mit
einem
einzigen Ruck den Bart herunter.
„Kennen Sie ihn jetzt?“
Der Hausbesitzer stand einen Augenblick wie erstarrt. Er
sah dem Mann ins Gesicht und sagte dann mit zitternder Stimme: „Ja, ich
erkenne
ihn. Es ist mein Mieter, Herr Granard.“
„Guten Abend, Herr Michalowski“, ertönte in diesem Moment
die Stimme des Detektivs. „Es tut mir leid, Sie so unvermittelt stören
zu
müssen. Allein: es ist mein Geschäft, wie Sie wissen. Dieser brave
Herr, den
Sie so elegant mit 38 500 Franken hineingelegt haben, hat mich
beauftragt,
seine Interessen zu vertreten. Und da konnte ich natürlich nichts
anderes tun,
als seinen Auftrag auszuführen.“
Der Angeredete sah dem Detektiv ins Gesicht, stieß einen
Wutschrei aus und wollte in die Tasche fassen. „Hände hoch“, schrie Mr.
Jenkins. Im gleichen Moment zog er seinen Revolver und legte ihn auf
Herrn
Granard an, der dem Befehl augenblicklich nachkam.
„Sie müssen nämlich wissen,“ fuhr Mr. Jenkins fort, „daß
Herr Michalowski und ich alte Bekannte sind. Wir haben uns dreimal
getroffen:
einmal vor sechs Jahren in Marseille, einmal vor zwei Jahren bei dem
großen
Prozeß im Pondicherry, und zum drittenmal heute in Paris. Ich war von
vornherein überzeugt, es mit Herrn Michalowski zu tun zu haben. Es gibt
nämlich
keinen Menschen in Europa, der so geschickt wie er in seinem Fache ist.
Nämlich, Herr Michalowski ist von Beruf Falschmünzer. Spezialität:
Tausendfrankennoten. Sie haben wohl die Güte, Herr Michalowski, meinem
Klienten, den Sie in so geschickter Weise hineingelegt haben, sein
Eigentum
zurückzugeben. Sie haben ihm 96 000 Franken ausgezahlt, und haben
dagegen 38
500 Franken erhalten. Das wäre soweit ganz schön, aber leider sind die
96 000
Franken falsch. Ja,“ fuhr er fort, zu dem Hausbesitzer gewendet, der
zitternd
daneben stand, „leider kann ich es Ihnen nicht verhehlen: das Geld, das
Ihnen
dieser Herr gegeben hat — dies Geld hat er selbst gemacht. Ebenso wie
die 38
000 Franken, die in der Brieftasche stecken, die Sie gefunden haben und
die
zufällig den gleichen Betrag aufweisen, den Sie Herrn Granard für den
Rückkauf
Ihres Hauses bezahlt haben. Falsch waren auch die 25 000 Franken, die
Herr
Michalowski alias Granard der Teppichfirma Montholon frères bezahlt
hat.“
Der Hausbesitzer blickte abwechselnd auf den Detektiv und
auf seinen Mieter. „Aber wozu das alles?“ fragte er schließlich.
„Wozu?“ antwortete Mr. Jenkins, „die Sache ist einfach
genug. Es war diesem Herrn von vornherein nur darum zu tun, von Ihnen
die 385
000 Franken in gutem Gelde zu erhalten. Daher der ganze Schwindel mit
dem
Hauskauf. Er traute sich mit seinen Tausendfrankennoten nicht so recht
an die
Öffentlichkeit, weil er wußte, daß man ihm auf der Spur war. Daher
dieser Umweg
mit dem Hauskauf. Dann: die Erwerbung der Teppiche. Herr Michalowski
hat sie
gekauft und mit fünfundzwanzig falschen Tausenfrankenscheinen bezahlt,
offenbar
in der Absicht, sie nach einiger Zeit der Teppichfirma zum Rückkauf
wieder
anzubieten. Inzwischen wird er vermutlich erfahren haben, daß man das
gefälschte Geld erkannt hatte. Stimmt es, Herr Michalowski?“
„Ja!“ sage dieser kleinlaut.
„Nun sehen Sie wohl. Also man hatte die Fälschung erkannt
und Herrn Michalowski mochte fürchten, daß man ihm auf der Spur war.
Daher
überließ er Ihnen die Teppiche für ein paar hundert Franken. Auch aus
sonstigen
Gründen mag ihm der Boden hier zu heiß geworden sein. Er beabsichtigte
deshalb,
sich morgen früh auf Ihren Scheck 38 500 Franken zu holen und damit in
die
weite Welt zu gehen. Die Firma Montholon frères würde wahrscheinlich in
einigen
Tagen den Verbleib ihrer Teppiche aufgefunden haben, und Sie hätten
alsdann das
Vergnügen gehabt, diese wieder herauszugeben.“
„Es ist unglaublich“, murmelte der Hausbesitzer.
„Leider muß ich Ihnen Ihre Kreise stören, Herr
Michalowski“, fuhr Mr.Jenkins fort. „Sie haben wohl die Güte, den
Scheck auf 38
500 Franken, den Ihnen dieser Herr gegeben hat, augenblicklich
herauszugeben,
falls Sie nicht auf der Stelle verhaftet werden wollen.“
Der Falschmünzer murmele ein paar unverständliche Worte,
faßte dann in die Brusttasche und brachte ein zusammengefaltetes Stück
Papier
zum Vorschein, das er dem Detektiv übergab.
„Ist dies Ihr Scheck?“ fragte dieser den Hausbesitzer.
„Ja!“ antwortete der Gefragte.
„Hier gebe ich Ihnen Ihr Eigentum zurück“, fuhr Mr.
Jenkins fort. „Und nun zu Ihnen, Herr Michalowski. Ich denke, Sie haben
einige
Ursache, den kommenden Morgen nicht in Paris zu verleben. An der Ecke
steht ein
Auto. Meine beiden Assistenten werden sich ein Vergnügen daraus machen,
Sie
ohne Aufenthalt an die Gare du Nord zu begleiten. Dort wollen Sie
freundlichst
ein Billett lösen, das Sie auf direktem Wege nach Rußland befördert,
woher Sie
gekommen sind. Was Ihre Teppiche betrifft, so werden wir Sie morgen der
Firma
Montholon frères wieder zustellen. Und nun gute Nacht, Herr
Michalowski. Es ist
½ 6. Um 6.15 geht ein sehr guter Zug nach Deutschland, der direkten
Anschluß an
den Zug nach St. Petersburg hat. Meine Assistenten werden dafür sorgen,
daß Sie
diesen Zug noch rechtzeitig erreichen. Ich selbst werde die Ehre haben,
Sie zum
Auto zu führen.“
Der Schlag des Automobils flog krachend zu und Mr.
Jenkins wandte sich an seinen Klienten, der neben ihm stand und kein
Wort
hervorbrachte. „Ich erwarte Sie morgen früh um 10 Uhr in meiner
Wohnung, damit
wir den kleinen Rest der Angelegenheit in Ruhe besprechen können.“
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