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Literatur


04.3


Am Kamin
Paul Rosenhaym

Jenseits der Tür
aus:
Bibliothek der Unterhaltung
und des Wissens

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Jenseits der Tür

Die Alarmglocke schlug gellend an. Der schrille Ton bohrte sich schneidend in das schwere Dunkel. Er heulte durch die schweigenden Zimmer, er zitterte durch die Korridore und schlug schreiend an das Ohr der Schläfer. Bildandios fuhr verstört vom Diwan empor. Er tastete schlaftrunken nach dem Schalter und knipste das Licht an. Furchtsam hob er den Kopf und starrte empor auf das Läutwerk, das zu seinen Häupten unablässig hämmerte und raste. Er wandte sich mit einer scheuen Bewegung und tastete mit den Blicken die Tür ab: jene undurchdringliche Panzertür, hinter deren stählernen Riegeln die Juwelierwerkstatt lag. Er faßte nach dem Griff. Nein, nichts war verändert. Nicht um ein Millimeter wich die Tür. Im Widerschein des Glühlichts blinkten die Bänder der Marvinsperre ihm entgegen. Und dennoch heulte die Glocke wie die Stimme eines Menschen in Todesangst. Der Juwelier gab sich einen Ruck; er warf die Decke auf den Boden, zog das Schlüsselbund aus der Tasche und ging mit entschlossenem Schritt auf die Tür zu.

„Télémaque!“

Er wandte sich erschreckt um. Unter der Tür stand seine Frau; ihre Augen irrten verständnislos von ihm zur Glocke. „Télémaque, was willst du tun?“

Er machte eine ungeduldige Handbewegung. „Ich muß hinein.“

„Aber . . .“

„Hörst du die Glocke? Kein Zweifel: dort drinnen ist etwas geschehen.“

Sie legte die Hand auf das Herz. „Ja,“ sagte sie mit stockender Stimme, „es muß wohl etwas geschehen sein. Und eben darum — du solltest nicht hineingehen. Du setzt dein Leben aufs Spiel, Télémaque.“

Bilandios warf einen verzweifelten Blick auf das tönende Läutwerk. „Soll ich Melrose dort drinnen allein lassen — wie ein Schuft?“

Verstört wanderten ihre Augen über die Stahltür.

„Vielleicht sorgen wir uns unnötig,“ flüsterte sie, wie um sich selbst zu beschwichtigen. „Womöglich ein Kurzschluß oder etwas Ähnliches. Hast du einen Hammer?“

Er blickte sie verständnislos an.

„Wir werden versuchen anzuklopfen.“

Sie nahm ein Hämmerchen von einem Seitentisch. Er riß es ihr aus der Hand und schlug an die Stahltür, die dröhnend widerhallte.

„Melrose! Melrose!“

Die beiden hielten den Atem an; ihre Augen bohrten sich in die undurchdringliche Tür, in diese kalte, spiegelglatte Fläche, die in der Sauberkeit ihrer Arbeit die beiden Lauscher höhnisch anzugrinsen schien.

„Melrose!“

Nein, niemand antwortete. Kein Laut. Nur die Glocke gellte schrill und unablässig ihre eintönige Warnung: Gefahr! — Gefahr! — Gefahr!

„Glaubst du“ — ihre Stimme sank zum Flüstern herab — glaubst du wirklich, daß ein Fremder dort drinnen . . .?“

Er zuckte die Achseln. „Das Schloß ist unversehrt.“

„Bist du die ganze Nacht über hier geblieben?“

„Die ganze Nacht. Ich habe das Zimmer nicht verlassen. Mein Diwan stand quer vor der Tür. Es müßte jemand über mich hinweggestiegen sein.“

„Wer hat das Ruhebett zurückgeschoben?“

„Ich selbst.“

„War alles an seinem Platz, als du erwachtest?“

„Alles.“

Sie warf einen Blick in sein blasses Gesicht — in seine Augen, die in einem flackernden Feuer glommen.

„Ich werde zum Nachbarn laufen.“

„Zur Polizei.“

Er zuckte die Achseln. „Meinetwegen.“

Mit einer schnellen Bewegung wandte sie sich zur Tür und riß sie auf. Er sah ihr teilnahmslos nach.

„Konstanze!“

Zusammenfahrend blieb sie stehen.

In seinen Augen blitzte etwas auf wie ein erlösender Einfall. „Ich weiß etwas Besseres.“

Seine Frau blickte ihn erstaunt an.

„Joe Jenkins . . .“

Sie hob den Kopf, in ihr Gesicht trat ein Leuchten.

„Joe Jenkins . . .?“ wiederholte sie aufatmend.

„Ja!“

„Weißt du, wo er wohnt?“

„Im Netherlandhotel, wie ich hörte.“

„Ich werde versuchen, ihn telephonisch zu erreichen.“

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß.

Télémaque Bildandios zuckte zusammen. Das unausgesetzt ratternde Läutwerk schien das ganze Zimmer mit seinen Schallwellen zu erfüllen. Nervös legte der Juwelier beide Hände an die Ohren. Wieder irrten seine Blicke nach der stählernen Tür. Von dort kam es — hinter dieser blanken Fläche — dort saß der Kontakt. Er sah sich ein paarmal scheu um. Dann, mit einem entschlossenen Griff, faßte er in die Tasche; enttäuscht zog er die Hand zurück.

„Suchst du die Schlüssel?“

Er wandte sich um.

„Ich habe sie an mich genommen.“ Seine Frau war es, die mit einem schwachen Lächeln in der Tür stand.

„Du sollst nicht hineingehen. Ich will es nicht.“

Dann setzte sie beruhigend hinzu: „Er ist da. Ich habe mit ihm gesprochen.“

„Mit Joe Jenkins?“

„Ja.“

„Gott sei Dank! Was hat er geantwortet?“

„Ich soll ihn sofort abholen. Mit einem Auto. In der Mietsgarage nebenan ist noch Licht.“ Nach einem Blick in sein verstörtes Gesicht setzte sie wie tröstend hinzu: „Es dauert nicht lange. Ich bin bald wieder da,“

Eine sternenlose Herbstnacht lag über dem feuchten Asphalt. Joe Jenkins hatte schweigend dem Bericht seiner Besucherin zugehört, während das Auto durch die nächtlichen Straßen des Neyorker Südwestens dahinschoß. Er hatte ihre Erzählung mit keinem Wort, mit keiner Frage unterbrochen.

„Es ist also kein Zweifel —„ begann er, lange nachdem sie geendigt hatte, „es ist also kein Zweifel, daß das Alarmsignal aus dem Werkstattzimmer kommt?“

„Es gibt keine andere Möglichkeit.“

„Ein weiterer Kontakt ist nicht vorhanden.“

„Nein, Mr. Jenkins.“

„Die Verbindungstür wurde während der ganzen Nacht nicht geöffnet?“

„Mein Mann sagt, es sei ausgeschlossen.“

„Hat das Zimmer Fenster?“

„Ja. Ein kleines Fenster, das stark vergittert ist.“

„Im Werkstattzimmer befindet sich nur ein einziger Mensch?“

„Ja. Unser Gehilfe.“

„Wie heißt er“

„Artur Melrose.“

„Wann hat er seine Arbeit begonnen?“

„Punkt acht Uhr haben wir unseren Laden zugemacht; dann ging er mit dem Platinarmband hinüber, und mein Man schloß ihn ein.“

„Wäre es denkbar, daß Ihr Gehilfe vielleicht aus Versehen den Kontakt ausgelöst hätte?“

„Es ist unmöglich.“

„Wie ist die Kontaktvorrichtung beschaffen?“

„Es ist ein doppelter Kontakt. Der eine sitzt über der Tür, der andere über dem Fenster.“

„Hm . . . wie wird die Auslösung betätigt?“

„Dadurch, daß die Tür oder das Fenster beim Auf- und Zugehen an dem Kontakt entlangstreicht.“

„Ist es in Ihrem Geschäft sonst üblich, den Gehilfen während einer derartigen Nachtarbeit einzuschließen?“

„Nein.“

„Und warum . . .?“

„Es war dies ein ganz besonderer Fall. Der Herr, der gestern abend das Armband brachte, legte uns ausdrücklich alleräußerste Vorsicht ans Herz.“

„Ein so kostbares Gut vertraut er Ihnen an?“

„Es ist ein sehr wertvolles Armband aus reinem Platin, das um einige Glieder verlängert werden soll.“

„Die Arbeit sollte in dieser einen Nacht fertig werden?“

„Ja. Der Herr will den Schmuck morgen mittag holen, um damit nach Holland zurückzufahren.“

„War diese Angst des Eigentümers nicht ein wenig auffallend — ein bißchen ungewöhnlich?“

„Gewiß, Herr Vanderstraaten war, als er zu uns kam, in heller Aufregung. Er erzählte uns, wie er auf Schritt und Tritt verfolgt werde von Leuten, die nach seinem Schatze trachteten.“

Jenkins nickte. „Da mag solche Vorsicht einigermaßen verständlich sein.“

„Herr Vanderstraaten erzählte, man habe sogar ein Attentat auf ihn versucht.“

„Ihr Gehilfe ging also an eine Arbeit, die ihn voraussichtlich die Nacht über im Anspruch nehmen würde.“

„Ja.“

„Und Ihr Gatte nahm zur selben Zeit in einem Zimmer Platz, das den Zugang zu dieser Werkstatt bildet?“

„Ganz richtig.“

„Pflegt Ihr Herr Gemahl jede Nacht in diesem Vorzimmer zu schlafen?“

„Nein. Er schläft sonst in unserem gemeinschaftlichen Schlafzimmer. Aber Herr Vanderstraaten hatte meinen Mann mit seiner Furcht angesteckt. Daher entschloß er sich, die Nacht auf dem Diwan zuzubringen, den er vor die Tür des Werkstattzimmers gerückt hatte.“

„Das Alarmsignal setzte plötzlich ein? Sie sagen, es wird dadurch ausgelöst, daß die Tür oder das Fenster an dem Kontakt entlangstreicht. Müßte demnach die Glocke nicht von Rechts wegen nach einigen Sekunden wieder verstummen?“

„Die Glocke läutet so lange, bis man sie abstellt.“

„Wo befindet sich die Abstellvorrichtung?“

„Ebenfalls im Werkstattzimmer.“

„Ihr Gatte klopfte nun und erhielt keine Antwort; wäre es möglich, daß Herr Melrose, etwa von Hunger und Durst oder von Müdigkeit überwältigt, im Laufe der Nacht eingeschlafen wäre?“

„Dergleichen ist ihm bisher nie geschehen.“

„Er hat demnach schon mehrfach solche Nachtarbeiten ausgeführt?“

„Einige Male, ja. Er hat dann stets eine Kanne mit Tee, den er sich in der Werkstatt auf einer Gasflamme kocht, und einige Butterbrote zur Arbeit mitgenommen. Überdies ist der Glockenlärm so furchtbar, daß er einen Toten erwecken könnte. Ich schlafe im zweiten Stock und erwachte augenblicklich.“

Das Straßenbild erweiterte sich. Fern im Osten dämmerte ein blasser Schein empor, der zitternde Lichter über die dunklen Dächer warf. Das schimmernde Kreuz der St.-Marks-Kirche tauchte aus den Morgennebeln auf.

„Hoffentlich war Ihr Gatte“, begann Joe Jenkins nach einer Pause, „nicht so unvorsichtig, in unserer Abwesenheit das Werkstattzimmer zu öffnen.“

Das Auto bog eben hart vor der Eisenbahnbrücke links ab und schoß in der Richtung nach der Zweiten Avenue vorwärts.

Die Dame schüttelte den Kopf. „Das hätte er sicher getan, wenn ich es ihm nicht unmöglich gemacht hätte.“

Damit öffnete sie ihr Täschchen und zog triumphierend ein klirrendes Bund Präzisionsschlüssel hervor.

Über das Gesicht ihres Nachbars ging ein Lächeln. „Sehr gut,“ sagte er anerkennend.

Er deutete mit der Hand nach vorn. Mitten unter den dunklen Häusermassen erkannte man eine Reihe von erleuchteten Fenstern durch den dampfenden Nebel.

„Ist das Ihr Haus?“

Sie wandte sich zur Seite. !Jawohl, Mr. Jenkins.“

Das Auto hielt. Der Detektiv sprang auf den Steig und half seiner Klientin aus dem Wagen.

Er ließ einen forschenden Blick über das weiß schimmernde Haus gleiten. Die beiden großen Schaufenster des Erdgeschosses waren durch eiserne Rolljalousien abgesperrt. Während die Dame das Torgitter aufschloß, richtete er den Strahl seiner Taschenlaterne auf das bronzene Schild, das die Aufschrift trug:

Télemaque Bilandios, Juwelier.

„Ihr Gatte ist Grieche?“

„Ja. Er ist in Athen geboren, lebt aber schon seit vielen Jahren in Amerika.“

Der Schlüssel knarrte im Schloß. Die beiden traten ein. Eine Tür öffnete sich. Ein Lichtstrom flutete auf den Flur heraus, und auf der Schwelle erschien ein mittelgroßer Herr.

„Gott sei Dank: Konstanze!“ sagte er aufatmend. „Und dies ist, wenn ich recht vermute, Mr. Joe Jenkins?“ Er ging auf den Ankömmling zu und reichte ihm, sichtlich erfreut, die Hand. „Wie froh bin ich, daß Sie da sind, Mr. Jenkins!“

Die drei traten ins Zimmer. Der Detektiv blickte sich um. „Sprachen Sie nicht von einem Alarmsignal, Mrs. Bilandios?“

Der Juwelier warf einen scheuen Blick auf die Glocke.

„Ich habe den Draht durchschnitten, Mr. Jenkins. Dieser unaufhörliche heulende Ton machte mich halb irrsinnig.“

„Erhielten Sie inzwischen ein Lebenszeichen von Ihrem Gehilfen?“

„Nein.“

„Versuchten Sie, mit ihm in Verbindung zu kommen?“

„Ich habe wohl zwanzigmal geklopft.“

Joe Jenkins deutete auf das Schlüsselbund, das Frau Bilandios eben hervorzog.

„Wir wollen also öffnen.“

Er zog aus der Tasche seines Überziehers einen Browning, den er entsicherte. „Gnädige Frau,“ — er ließ den schußbereiten Revolver in die Tasche seines Jacketts gleiten — „es wird besser sein, wenn Sie uns Männer nun allein lassen.“

„Sie meinen?“ fragte sie mit zitternder Stimme.

Er zuckte die Achseln. „Man kann nicht wissen. Ich werde Sie holen, Mrs Bilandios, sobald es möglich ist.“

Frau Konstanze warf einen ängstlichen Blick auf ihren Mann und entfernte sich mit leisen Schritten.

Der Detektiv deutete mit einer kurzen Handbewegung auf die Tür. Der Juwelier nestelte an dem Ring und löste einen kleinen Protektorschlüssel ab, den er in den schmalen Spalt des Verbindungsschlosses drückte. Leise klirrte es auf; eine Feder ging schnappend zurück. Ein Druck auf eine Rosette, abermals eine Drehung des Schlüssels an einer zweiten Stelle des Schlosses: lautlos glitten drei mächtige stählerne Riegel zur Seite.

„Lassen Sie mich vorangehen.“

Der Juwelier nickte; er bog den Griff herum und zog langsam die Tür auf, die wuchtig und schwer sich in ihren Angeln drehte.

„Kommen Sie!“

Die beide traten ein. Ein betäubender bittersüßlicher Geruch, der das ganze Zimmer erfüllte, schlug ihnen entgegen.

„Machen Sie Licht.“

Der Schalter schnappte ein; blendende Lichtfülle schoß durch das Zimmer. Der Juwelier stieß einen Schrei aus und deutete mit zitternder Hand nach einem kleinen Arbeitstischchen.

„Das Platinarmband! Das Platinarmband! . . . Es ist gestohlen!“

Der Detektiv nickte. „Also doch!“ Er wandte suchend den Kopf und sagte plötzlich mit leiser Stimme: „Dort liegt ein Mensch.“

Der Juwelier folgte dem Blicke des anderen und taumelte zurück. „Melrose, mein Gehilfe!“ keuchte er.

Joe Jenkins beugte sich über den Regungslosen.

„Er ist nicht tot,“ sagte er, indem er das Ohr auf die Brust des jungen Mannes legte. „Das Herz schlägt schwach, aber regelmäßig. Er ist betäubt. Helfen Sie mir; wir wollen ihn hinaustragen.“

Die beiden hoben den Körper empor und betteten ihn auf den Diwan des Nebenzimmers. Der Detektiv schloß sorgsam die Stahltüre hinter sich. „Damit der Geruch sich nicht verzieht,“ fügte er erklärend hinzu. Dann öffnete er die Fenster. „Wasser!“ Er riß die Tür nach dem Korridor auf und rief: „Bitte, Mrs. Bilandios, es gibt hier für Sie zu tun!“

Frau Konstanz trat ängstlich ein. Sie warf einen entsetzten Blick auf den regungslos Daliegenden.

„Er ist nicht tot. Besorgen Sie, bitte, etwas Essig und ein Handtuch.“

Das Gewünschte war bald zur Stelle. Joe Jenkins rieb das Gesicht des Gehilfen; dann öffnete er die Weste und rieb seine Brust. Die Atemzüge des Betäubten wurden allmählich kräftiger; endlich schlug er die Augen auf. Er starrte die beiden Männer verständnislos an. Mühsam hob er den Kopf; er warf verstörte Blicke um sich und sprang mit einem Satz auf die Füße.

„Was ist geschehen?“ stammelte er.

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