Die Alarmglocke schlug gellend an.
Der schrille Ton
bohrte sich schneidend in das schwere Dunkel. Er heulte durch die
schweigenden
Zimmer, er zitterte durch die Korridore und schlug schreiend an das Ohr
der
Schläfer. Bildandios fuhr verstört vom Diwan empor. Er tastete
schlaftrunken
nach dem Schalter und knipste das Licht an. Furchtsam hob er den Kopf
und
starrte empor auf das Läutwerk, das zu seinen Häupten unablässig
hämmerte und
raste. Er wandte sich mit einer scheuen Bewegung und tastete mit den
Blicken
die Tür ab: jene undurchdringliche Panzertür, hinter deren stählernen
Riegeln
die Juwelierwerkstatt lag. Er faßte nach dem Griff. Nein, nichts war
verändert.
Nicht um ein Millimeter wich die Tür. Im Widerschein des Glühlichts
blinkten
die Bänder der Marvinsperre ihm entgegen. Und dennoch heulte die Glocke
wie die
Stimme eines Menschen in Todesangst. Der Juwelier gab sich einen Ruck;
er warf
die Decke auf den Boden, zog das Schlüsselbund aus der Tasche und ging
mit
entschlossenem Schritt auf die Tür zu.
„Télémaque!“
Er wandte sich erschreckt um. Unter
der Tür stand seine
Frau; ihre Augen irrten verständnislos von ihm zur Glocke. „Télémaque,
was
willst du tun?“
Er machte eine ungeduldige
Handbewegung. „Ich muß
hinein.“
„Aber . . .“
„Hörst du die Glocke? Kein Zweifel:
dort drinnen ist
etwas geschehen.“
Sie legte die Hand auf das Herz.
„Ja,“ sagte sie mit
stockender Stimme, „es muß wohl etwas geschehen sein. Und eben darum —
du
solltest nicht hineingehen. Du setzt dein Leben aufs Spiel, Télémaque.“
Bilandios warf einen verzweifelten
Blick auf das tönende
Läutwerk. „Soll ich Melrose dort drinnen allein lassen — wie ein
Schuft?“
Verstört wanderten ihre Augen über
die Stahltür.
„Vielleicht sorgen wir uns unnötig,“
flüsterte sie, wie
um sich selbst zu beschwichtigen. „Womöglich ein Kurzschluß oder etwas
Ähnliches. Hast du einen Hammer?“
Er blickte sie verständnislos an.
„Wir werden versuchen anzuklopfen.“
Sie nahm ein Hämmerchen von einem
Seitentisch. Er riß es
ihr aus der Hand und schlug an die Stahltür, die dröhnend widerhallte.
„Melrose! Melrose!“
Die beiden hielten den Atem an; ihre
Augen bohrten sich
in die undurchdringliche Tür, in diese kalte, spiegelglatte Fläche, die
in der
Sauberkeit ihrer Arbeit die beiden Lauscher höhnisch anzugrinsen schien.
„Melrose!“
Nein, niemand antwortete. Kein Laut.
Nur die Glocke
gellte schrill und unablässig ihre eintönige Warnung: Gefahr! — Gefahr!
—
Gefahr!
„Glaubst du“ — ihre Stimme sank zum
Flüstern herab —
glaubst du wirklich, daß ein Fremder dort drinnen . . .?“
Er zuckte die Achseln. „Das Schloß
ist unversehrt.“
„Bist du die ganze Nacht über hier
geblieben?“
„Die ganze Nacht. Ich habe das
Zimmer nicht verlassen.
Mein Diwan stand quer vor der Tür. Es müßte jemand über mich
hinweggestiegen
sein.“
„Wer hat das Ruhebett
zurückgeschoben?“
„Ich selbst.“
„War alles an seinem Platz, als du
erwachtest?“
„Alles.“
Sie warf einen Blick in sein blasses
Gesicht — in seine
Augen, die in einem flackernden Feuer glommen.
„Ich werde zum Nachbarn laufen.“
„Zur Polizei.“
Er zuckte die Achseln. „Meinetwegen.“
Mit einer schnellen Bewegung wandte
sie sich zur Tür und
riß sie auf. Er sah ihr teilnahmslos nach.
„Konstanze!“
Zusammenfahrend blieb sie stehen.
In seinen Augen blitzte etwas auf
wie ein erlösender
Einfall. „Ich weiß etwas Besseres.“
Seine Frau blickte ihn erstaunt an.
„Joe Jenkins . . .“
Sie hob den Kopf, in ihr Gesicht
trat ein Leuchten.
„Joe Jenkins . . .?“ wiederholte sie
aufatmend.
„Ja!“
„Weißt du, wo er wohnt?“
„Im Netherlandhotel, wie ich hörte.“
„Ich werde versuchen, ihn
telephonisch zu erreichen.“
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß.
Télémaque Bildandios zuckte
zusammen. Das unausgesetzt
ratternde Läutwerk schien das ganze Zimmer mit seinen Schallwellen zu
erfüllen.
Nervös legte der Juwelier beide Hände an die Ohren. Wieder irrten seine
Blicke
nach der stählernen Tür. Von dort kam es — hinter dieser blanken Fläche
— dort
saß der Kontakt. Er sah sich ein paarmal scheu um. Dann, mit einem
entschlossenen Griff, faßte er in die Tasche; enttäuscht zog er die
Hand
zurück.
„Suchst du die Schlüssel?“
Er wandte sich um.
„Ich habe sie an mich genommen.“
Seine Frau war es, die
mit einem schwachen Lächeln in der Tür stand.
„Du sollst nicht hineingehen. Ich
will es nicht.“
Dann setzte sie beruhigend hinzu:
„Er ist da. Ich habe
mit ihm gesprochen.“
„Mit Joe Jenkins?“
„Ja.“
„Gott sei Dank! Was hat er
geantwortet?“
„Ich soll ihn sofort abholen. Mit
einem Auto. In der
Mietsgarage nebenan ist noch Licht.“ Nach einem Blick in sein
verstörtes
Gesicht setzte sie wie tröstend hinzu: „Es dauert nicht lange. Ich bin
bald
wieder da,“
Eine sternenlose Herbstnacht lag
über dem feuchten
Asphalt. Joe Jenkins hatte schweigend dem Bericht seiner Besucherin
zugehört,
während das Auto durch die nächtlichen Straßen des Neyorker Südwestens
dahinschoß. Er hatte ihre Erzählung mit keinem Wort, mit keiner Frage
unterbrochen.
„Es ist also kein Zweifel —„ begann
er, lange nachdem sie
geendigt hatte, „es ist also kein Zweifel, daß das Alarmsignal aus dem
Werkstattzimmer
kommt?“
„Es gibt keine andere Möglichkeit.“
„Ein weiterer Kontakt ist nicht
vorhanden.“
„Nein, Mr. Jenkins.“
„Die Verbindungstür wurde während
der ganzen Nacht nicht
geöffnet?“
„Mein Mann sagt, es sei
ausgeschlossen.“
„Hat das Zimmer Fenster?“
„Ja. Ein kleines Fenster, das stark
vergittert ist.“
„Im Werkstattzimmer befindet sich
nur ein einziger
Mensch?“
„Ja. Unser Gehilfe.“
„Wie heißt er“
„Artur Melrose.“
„Wann hat er seine Arbeit begonnen?“
„Punkt acht Uhr haben wir unseren
Laden zugemacht; dann
ging er mit dem Platinarmband hinüber, und mein Man schloß ihn ein.“
„Wäre es denkbar, daß Ihr Gehilfe
vielleicht aus Versehen
den Kontakt ausgelöst hätte?“
„Es ist unmöglich.“
„Wie ist die Kontaktvorrichtung
beschaffen?“
„Es ist ein doppelter Kontakt. Der
eine sitzt über der
Tür, der andere über dem Fenster.“
„Hm . . . wie wird die Auslösung
betätigt?“
„Dadurch, daß die Tür oder das
Fenster beim Auf- und
Zugehen an dem Kontakt entlangstreicht.“
„Ist es in Ihrem Geschäft sonst
üblich, den Gehilfen
während einer derartigen Nachtarbeit einzuschließen?“
„Nein.“
„Und warum . . .?“
„Es war dies ein ganz besonderer
Fall. Der Herr, der
gestern abend das Armband brachte, legte uns ausdrücklich alleräußerste
Vorsicht ans Herz.“
„Ein so kostbares Gut vertraut er
Ihnen an?“
„Es ist ein sehr wertvolles Armband
aus reinem Platin,
das um einige Glieder verlängert werden soll.“
„Die Arbeit sollte in dieser einen
Nacht fertig werden?“
„Ja. Der Herr will den Schmuck
morgen mittag holen, um
damit nach Holland zurückzufahren.“
„War diese Angst des Eigentümers
nicht ein wenig
auffallend — ein bißchen ungewöhnlich?“
„Gewiß, Herr Vanderstraaten war, als
er zu uns kam, in
heller Aufregung. Er erzählte uns, wie er auf Schritt und Tritt
verfolgt werde
von Leuten, die nach seinem Schatze trachteten.“
Jenkins nickte. „Da mag solche
Vorsicht einigermaßen
verständlich sein.“
„Herr Vanderstraaten erzählte, man
habe sogar ein
Attentat auf ihn versucht.“
„Ihr Gehilfe ging also an eine
Arbeit, die ihn
voraussichtlich die Nacht über im Anspruch nehmen würde.“
„Ja.“
„Und Ihr Gatte nahm zur selben Zeit
in einem Zimmer
Platz, das den Zugang zu dieser Werkstatt bildet?“
„Ganz richtig.“
„Pflegt Ihr Herr Gemahl jede Nacht
in diesem Vorzimmer zu
schlafen?“
„Nein. Er schläft sonst in unserem
gemeinschaftlichen
Schlafzimmer. Aber Herr Vanderstraaten hatte meinen Mann mit seiner
Furcht
angesteckt. Daher entschloß er sich, die Nacht auf dem Diwan
zuzubringen, den
er vor die Tür des Werkstattzimmers gerückt hatte.“
„Das Alarmsignal setzte plötzlich
ein? Sie sagen, es wird
dadurch ausgelöst, daß die Tür oder das Fenster an dem Kontakt
entlangstreicht.
Müßte demnach die Glocke nicht von Rechts wegen nach einigen Sekunden
wieder
verstummen?“
„Die Glocke läutet so lange, bis man
sie abstellt.“
„Wo befindet sich die
Abstellvorrichtung?“
„Ebenfalls im Werkstattzimmer.“
„Ihr Gatte klopfte nun und erhielt
keine Antwort; wäre es
möglich, daß Herr Melrose, etwa von Hunger und Durst oder von Müdigkeit
überwältigt, im Laufe der Nacht eingeschlafen wäre?“
„Dergleichen ist ihm bisher nie
geschehen.“
„Er hat demnach schon mehrfach
solche Nachtarbeiten
ausgeführt?“
„Einige Male, ja. Er hat dann stets
eine Kanne mit Tee,
den er sich in der Werkstatt auf einer Gasflamme kocht, und einige
Butterbrote
zur Arbeit mitgenommen. Überdies ist der Glockenlärm so furchtbar, daß
er einen
Toten erwecken könnte. Ich schlafe im zweiten Stock und erwachte
augenblicklich.“
Das Straßenbild erweiterte sich.
Fern im Osten dämmerte
ein blasser Schein empor, der zitternde Lichter über die dunklen Dächer
warf.
Das schimmernde Kreuz der St.-Marks-Kirche tauchte aus den Morgennebeln
auf.
„Hoffentlich war Ihr Gatte“, begann
Joe Jenkins nach
einer Pause, „nicht so unvorsichtig, in unserer Abwesenheit das
Werkstattzimmer
zu öffnen.“
Das Auto bog eben hart vor der
Eisenbahnbrücke links ab
und schoß in der Richtung nach der Zweiten Avenue vorwärts.
Die Dame schüttelte den Kopf. „Das
hätte er sicher getan,
wenn ich es ihm nicht unmöglich gemacht hätte.“
Damit öffnete sie ihr Täschchen und
zog triumphierend ein
klirrendes Bund Präzisionsschlüssel hervor.
Über das Gesicht ihres Nachbars ging
ein Lächeln. „Sehr
gut,“ sagte er anerkennend.
Er deutete mit der Hand nach vorn.
Mitten unter den
dunklen Häusermassen erkannte man eine Reihe von erleuchteten Fenstern
durch
den dampfenden Nebel.
„Ist das Ihr Haus?“
Sie wandte sich zur Seite. !Jawohl,
Mr. Jenkins.“
Das Auto hielt. Der Detektiv sprang
auf den Steig und
half seiner Klientin aus dem Wagen.
Er ließ einen forschenden Blick über
das weiß schimmernde
Haus gleiten. Die beiden großen Schaufenster des Erdgeschosses waren
durch
eiserne Rolljalousien abgesperrt. Während die Dame das Torgitter
aufschloß,
richtete er den Strahl seiner Taschenlaterne auf das bronzene Schild,
das die
Aufschrift trug:
Télemaque Bilandios, Juwelier.
„Ihr Gatte ist Grieche?“
„Ja. Er ist in Athen geboren, lebt
aber schon seit vielen
Jahren in Amerika.“
Der Schlüssel knarrte im Schloß. Die
beiden traten ein.
Eine Tür öffnete sich. Ein Lichtstrom flutete auf den Flur heraus, und
auf der
Schwelle erschien ein mittelgroßer Herr.
„Gott sei Dank: Konstanze!“ sagte er
aufatmend. „Und dies
ist, wenn ich recht vermute, Mr. Joe Jenkins?“ Er ging auf den
Ankömmling zu
und reichte ihm, sichtlich erfreut, die Hand. „Wie froh bin ich, daß
Sie da
sind, Mr. Jenkins!“
Die drei traten ins Zimmer. Der
Detektiv blickte sich um.
„Sprachen Sie nicht von einem Alarmsignal, Mrs. Bilandios?“
Der Juwelier warf einen scheuen
Blick auf die Glocke.
„Ich habe den Draht durchschnitten,
Mr. Jenkins. Dieser
unaufhörliche heulende Ton machte mich halb irrsinnig.“
„Erhielten Sie inzwischen ein
Lebenszeichen von Ihrem
Gehilfen?“
„Nein.“
„Versuchten Sie, mit ihm in
Verbindung zu kommen?“
„Ich habe wohl zwanzigmal geklopft.“
Joe Jenkins deutete auf das
Schlüsselbund, das Frau
Bilandios eben hervorzog.
„Wir wollen also öffnen.“
Er zog aus der Tasche seines
Überziehers einen Browning,
den er entsicherte. „Gnädige Frau,“ — er ließ den schußbereiten
Revolver in die
Tasche seines Jacketts gleiten — „es wird besser sein, wenn Sie uns
Männer nun
allein lassen.“
„Sie meinen?“ fragte sie mit
zitternder Stimme.
Er zuckte die Achseln. „Man kann
nicht wissen. Ich werde
Sie holen, Mrs Bilandios, sobald es möglich ist.“
Frau Konstanze warf einen
ängstlichen Blick auf ihren
Mann und entfernte sich mit leisen Schritten.
Der Detektiv deutete mit einer
kurzen Handbewegung auf
die Tür. Der Juwelier nestelte an dem Ring und löste einen kleinen
Protektorschlüssel ab, den er in den schmalen Spalt des
Verbindungsschlosses
drückte. Leise klirrte es auf; eine Feder ging schnappend zurück. Ein
Druck auf
eine Rosette, abermals eine Drehung des Schlüssels an einer zweiten
Stelle des
Schlosses: lautlos glitten drei mächtige stählerne Riegel zur Seite.
„Lassen Sie mich vorangehen.“
Der Juwelier nickte; er bog den
Griff herum und zog
langsam die Tür auf, die wuchtig und schwer sich in ihren Angeln drehte.
„Kommen Sie!“
Die beide traten ein. Ein
betäubender bittersüßlicher
Geruch, der das ganze Zimmer erfüllte, schlug ihnen entgegen.
„Machen Sie Licht.“
Der Schalter schnappte ein;
blendende Lichtfülle schoß
durch das Zimmer. Der Juwelier stieß einen Schrei aus und deutete mit
zitternder Hand nach einem kleinen Arbeitstischchen.
„Das Platinarmband! Das
Platinarmband! . . . Es ist
gestohlen!“
Der Detektiv nickte. „Also doch!“ Er
wandte suchend den
Kopf und sagte plötzlich mit leiser Stimme: „Dort liegt ein Mensch.“
Der Juwelier folgte dem Blicke des
anderen und taumelte
zurück. „Melrose, mein Gehilfe!“ keuchte er.
Joe Jenkins beugte sich über den
Regungslosen.
„Er ist nicht tot,“ sagte er, indem
er das Ohr auf die
Brust des jungen Mannes legte. „Das Herz schlägt schwach, aber
regelmäßig. Er
ist betäubt. Helfen Sie mir; wir wollen ihn hinaustragen.“
Die beiden hoben den Körper empor
und betteten ihn auf
den Diwan des Nebenzimmers. Der Detektiv schloß sorgsam die Stahltüre
hinter
sich. „Damit der Geruch sich nicht verzieht,“ fügte er erklärend hinzu.
Dann
öffnete er die Fenster. „Wasser!“ Er riß die Tür nach dem Korridor auf
und
rief: „Bitte, Mrs. Bilandios, es gibt hier für Sie zu tun!“
Frau Konstanz trat ängstlich ein.
Sie warf einen
entsetzten Blick auf den regungslos Daliegenden.
„Er ist nicht tot. Besorgen Sie,
bitte, etwas Essig und
ein Handtuch.“
Das Gewünschte war bald zur Stelle.
Joe Jenkins rieb das
Gesicht des Gehilfen; dann öffnete er die Weste und rieb seine Brust.
Die
Atemzüge des Betäubten wurden allmählich kräftiger; endlich schlug er
die Augen
auf. Er starrte die beiden Männer verständnislos an. Mühsam hob er den
Kopf; er
warf verstörte Blicke um sich und sprang mit einem Satz auf die Füße.
„Was
ist geschehen?“ stammelte er.