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Literatur


04.3


Am Kamin
Paul Rosenhaym

Jenseits der Tür
aus:
Bibliothek der Unterhaltung
und des Wissens

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Jenseits der Tür
- Seite 2 -

„Darüber werden Sie besser Auskunft geben können als wir,“ antwortete der Detektiv lächelnd. „Wir fanden Sie bewußtlos auf dem Boden.“

Melrose faßte mit einem Wehlaut nach seiner Brust, dann warf er einen Blick auf die Stahltür.

„Ja . . . ja . . .“ begann er zögernd. „Ich entsinne mich — mir wurde plötzlich übel von einem betäubenden Geruch, von einem bittersüßen Duft  —  und dann  —  und dann weiß ich nichts mehr  — ich wurde auf einmal so entsetzlich müde . . .“

„Und das Platinarmband?“ fragte der Detektiv.

„Das Armband? Das Armband?“ Der Gehilfe stierte dem Fragenden ins Gesicht. „Ist nicht mehr da?“

„Nein. Es ist verschwunden,“ erwiderte der Juwelier. „Überzeugen Sie sich selbst.“ Er öffnete die Stahltür. Die beiden Herren geleiteten den Gehilfen, der wankend zwischen ihnen dahinschritt, in das Werkstattzimmer.

Melrose war einen Blick auf den Arbeitstisch und fuhr bebend zurück.

„Beim Himmel — und Sie haben es wirklich nicht an sich genommen?“

„Nein.“

Der Gehilfe sank auf den Boden und griff mit zitternden Fingern in die Ecken und Winkel des kleinen Zimmers; er suchte in einer Hast, die von Sekunde zu Sekunde fiebriger und irrer wurde.

„Nein,“ keuchte er endlich verzweifelt, „es ist fort.“

Der Detektiv hatte ihm schweigend zugesehen.

„Können Sie etwas angeben, Herr Melrose, was irgendwie geeignet wäre, Licht in diesen unerklärlichen Vorfall zu bringen?“

Der Gehilfe schüttelte traurig den Kopf. „Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, mein Herr, als ich gesagt habe.“

Joe Jenkins ließ seinen Blick über die Wände des Zimmer gleiten. Plötzlich ging er mit ein paar schnellen Schritten auf das kleine viereckige Fenster zu. Drei der eisernen Gitterstäbe waren oben und unter abgesägt. Die Scheibe war zertrümmert; ein Haufe Scherben blinkte unter dem Fenster auf dem Fußboden. Die beiden anderen waren dem Detektiv gefolgt und blickten schweigend auf die Trümmer.

„Herr Vanderstraaten hat also nicht zuviel gesagt,“ begann endlich der Juwelier, „als er mir erzählte, daß das Armband in Gefahr sei. Ich glaubte, alles getan zu haben, um einen Diebstahl unmöglich zu machen — und nun sehe ich: es war doch nicht genug . . .“

Joe Jenkins sah forschend auf die kleine quadratische Fensteröffnung, in der noch vereinzelte Glassplitter steckten; dann heftete er seine Augen mit ruhigem Ausdruck auf den Gehilfen. „Herr Melrose,“ sagte er leise, „Sie werden zugeben, daß ein gewisser Verdacht gegen Sie erhoben werden könnte. Sie waren der letzte, der das Armband in Händen hatte. Es wird Ihnen selbst daran liegen, Ihre Unschuld darzutun. Ich mache Ihnen deshalb den Vorschlag: lassen Sie sich durchsuchen. Verläuft diese Durchsuchung, wovon ich überzeugt bin, ergebnislos, dann scheiden Sie als unverdächtig aus.“

Der Gehilfe nickte. „Selbstverständlich  —  ich sehe es ein, mein Herr. Ich stehe Ihnen zur Verfügung.“

Joe Jenkings nickte. „Ich erwartete es nicht anders. Übrigens — dies Fenster führt, wie ich sehe auf den Hof?“

Der Juwelier schüttelte den Kopf. „Nein. Dies Werkstattzimmer war ursprünglich als eine Art Speisekammer gedacht. Jenseits der Mauer, unter diesem Fenster, läuft ein Korridor.“

„Wie gelangt man auf diesen Korridor?“

„Wir haben nur einen einzigen Eingang: die Haustür an der Vorderseite.“

„Wurde die Haustür gestern abend ordnungsmäßig verschlossen?“

Frau Bilandios, die auf der Schwelle stand, bejahte eifrig. „Ich mußte sie öffnen, als ich das Haus verließ.“

„Und sie war unberührt?“

„Vollkommen. Von außen verschloß ich sie wieder mit genau der gleichen Sorgfalt.“

Der Blick des Suchenden fiel auf einen großen Steintopf, der auf einem Gasofen stand.

„Was ist hier drin?“ fragte er.

„Das ist meine Teekanne,“ erläuterte der Gehilfe.

Der Detektiv nickte. „Sie erlauben wohl.“ Damit goß er den Inhalt der Kanne in eine gläserne Schale, die daneben stand.

„Tee,“ nickte Jenkins und schüttete den Inhalt in die Teekanne zurück. „Und nun kommen Sie.“ Und mit einer Handbewegung gegen das Ehepaar fuhr er fort: „Entschuldigen Sie uns für einige Minuten. Herr Melrose wird die Freundlichkeit haben, sich von mir untersuchen zu lassen. Eine kleine Formalität — nichts weiter.“

Die stählerne Tür schloß sich. Die beiden Zurückgebliebenen blickten einander schweigend an. Erregt ging der Juwelier ein paarmal im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er stehen. „Glaubst du im Ernst — „

begann er zögernd.

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich halte Melrose für ehrlich. Ein Mann, der sich zweiundeinhalbes Jahr — nein — ich glaube es nicht.“

Bilandios blickte nachdenklich zu Boden. „Aber wie um Gottes willen, erklärst du dir diese Geschichte?“ brach er abermals das Schweigen. „Die Haustür unversehrt und trotzdem das Armband fort.“ Er legte die Hand auf die Stirn. „Und morgen kommt Herr Vanderstraaten, und ich muß ihm sagen, daß sein Platinarmband fort ist. Um Gottes willen, was wird das werden!“

Die junge Frau warf einen fast mütterlichen Blick in das kummervolle Antlitz ihres Mannes. „Herr Vanderstraaten hat sich selbst überzeugt, daß du alle Vorsicht aufgewendet hast, die nur erdenklich war. Du hast in seiner Gegenwart Melrose in das Zimmer eingeschlossen. Er weiß genau, daß niemand an den Schmuck herangekommen ist als Melrose und — und du . . .“ Sie warf einen schnellen Blick auf ihren Mann. „Weißt du, Télémaque, daß der Verdacht auf dich ebensogut fallen könnte wie auf Melrose?“

Der Juwelier schreckte auf. „Glaubst du wirklich . . .?“

Sie zuckte bekümmert die Achseln. „Ich glaube gar nichts. Überhaupt, ich kann kaum mehr denken. Ich weiß nur das eine: zwei Menschen haben das Armband in der Hand gehabt . . .“

Die Tür öffnete sich. „Es ist, wie ich vermutet habe,“ nickte der eintretende Detektiv. „Herr Melrose hat den Schmuck nicht.“

Bilandios schüttelte den Kopf. „Aber wie um Gottes willen, Mr. Jenkins . . . „

„Noch eines könnte ich ebenfalls tun,“ unterbrach ihn Jenkins, „man könnte Ihren Gehilfen mit Röntgenstrahlen durchleuchten. Wir werden zu einem mir befreundeten Professor fahren. Besteht er auch diese Probe — und das erscheint mir sicher —, so werde ich meine Nachforschungen ausdehnen müssen.“

Bilandios blickte zu Boden. „Und ich — in dieser Ungewißheit, in dieser Unruhe soll ich hier allein in meinen vier Wänden bleiben?“

„Nun — ich will Ihnen einen Vorschlag machen: Kommen Sie mit! Dann erfahren Sie das Ergebnis der Untersuchung auf der Stelle.“

„Ja, Mr. Jenkins,“ sagte der Juwelier aufatmend, „das will ich tun.“

Einige Minuten später stiegen die drei Herren in den Kraftwagen.

* * *

Der Professor nahm die Negative aus dem Entwicklungsbad und hielt sie gegen das Licht, das durch die hohen Fensterscheiben hereinflutete. Seine Augen glitten ruhig prüfend über die verschwimmenden Linien, die sich auf den Glasplatten abzeichneten. Dann reichte er die Aufnahmen dem Detektiv, der sie genau betrachtete.

„Normal,“ sagte der Professor.

„Es ist also ausgeschlossen,“ begann der Juwelier leise, „daß . . . daß . . .“

„Ganz unmöglich; auch das kleinst Stückchen Metall würde sich mit deutlicher Schärfe abzeichnen.“

Joe Jenkins drückte dem Professor die Hand. „Ich danke Ihnen.“

Schweigend gingen die drei Männer die Treppe hinunter.

„Was soll nun geschehen, Mr. Jenkins?“ begann der Juwelier zögernd.

„Vorläufig nichts. Gehen Sie ruhig nach Hause und erledigen Sie Ihre Geschäfte!“

„Und Herr Vanderstraaten? Soll ich ihn benachrichtigen?“

„Vorläufig nicht. Wann wollte er kommen?“

„Morgen mittag. Oder vielmehr: heute mittag.“

„Sie werden bis dahin von mir hören. Noch eines: Verändern Sie nichts im Werkstattzimmer; lassen Sie alle Gegenstände an ihrem Platz. Und nun muß ich mich von Ihnen verabschieden. — Übrigens muß ich Sie um eine Gefälligkeit bitten, Herr Bilandios: überlassen Sie mir das Auto. Ich habe einige Wege zu besorgen. Sie werden im Lauf des Vormittags von mir hören. Auf Wiedersehen!“

Eben ging ratternd der Motor an, als Joe Jenkins sich nochmals aus dem Wagen beugte. „Eine Frage noch. War die Scheibe im Werkzeugzimmer gestern abend, als Herr Melrose an die Arbeit ging, heil — oder hatte sie ein Loch?“

Der Juwelier schüttelte fast entrüstet den Kopf. „Wo denken Sie hin, Mr. Jenkins! Natürlich war die Scheibe heil!“

„So, das wollte ich bloß wissen.“

Noch eine grüßende Handbewegung aus dem Wagen, dann bog das Auto knatternd um die Ecke.

Es mochte drei Viertelstunden später sein, als der Juwelier und sein Gehilfe in dem Laden am Tompkins Square anlangten. Frau Konstanze empfind die beiden schon in der Tür.

„Die Untersuchung hat leider nichts ergeben,“ begann Bilandios kleinlaut.

„Ich weiß.“

„Du weißt?“

„Nun ja.“

„Woher?“

„Von Mr. Jenkins.“

„Was sagst du? Mr. Jenkins war hier?“

„Vor einer halben Stunde.“

„Und was wollte er?“

„Nichts von Bedeutung. Er hat gefrühstückt.“

„Als ich ihn verließ, äußerte er nichts von einer Absicht, hierher zurückzukehren.“

„Er war in großer Eile. Er erklärte, er sei plötzlich von einem kräftigen Appetit befallen worden, und bat mich um ein Brötchen und eine Tasse Tee.“

Bilandios nickte. „Du hast ihn hoffentlich ins Eßzimmer geführt?“

„Er wollte durchaus nicht. ‚Das wäre eine Rücksichtslosigkeit,‘ erklärte er, ‚wenn ich Sie jetzt Ihrem Haushalt entziehen wollte.“

„Wo hat er dann gefrühstückt?“

„Im Werkstattzimmer“

* * *

Um halb elf Uhr vormittags ging rasselnd die Türglocke in dem Juwelierladen am Tompkins Square. Bilandios öffnete. Auf der Schwelle stand Joe Jenkins, frisch und rosig wie ein Sportsmann, der vom Morgentraining kommt — mit einem Gesicht, dem man nichts anmerkte von den Aufregungen der verflossenen Nacht.

„Etwas Neues?

„Nichts, Mr. Jenkins. Was bringen Sie?“

Der Besucher lächelte. „Nichts. Im Gegenteil, ich möchte etwas holen.“

„Und was sollte das sein?“ fragte der Juwelier zögernd.

„Nur eine Kleinigkeit. Haben Sie die Güte, mir die Teekanne zu geben — die Kanne, die auf dem kleinen Gasofen in der Werkstatt steht.“

„Die Teekanne?“ wiederholte verwirrt der Grieche.

„Ja!

„Die Teekanne — die ist Eigentum meines Gehilfen. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie Wert darauf legen . . .“

„Was soll das heißen . . .?“

Der Juwelier fuhr stockend fort: „Melrose hat mich vorhin gebeten, sie ihm herauszuholen.“

„Und Sie haben es getan?“

„Ich sah keinen Grund, mich zu weigern.“

„Herr Bilandios,“ das Gesichts des Detektiv wurde ernst, „Sie handelten gegen meine Anordnung.“

„Wieso?“

„Ich habe Sie ausdrücklich gebeten, alle Gegenstände des Zimmers so zu belassen, wie sie bei meinem Fortgang waren.“

„Nun ja. Aber ich dachte, ein bißchen Te . . .“

Der Detektiv blickte sich um. „Wo ist Herr Melrose?“

„Er ging nach Hause, um nach der durchwachten Nacht sich auszuschlafen.“

„So ungefähr hatte ich mir’s gedacht. Und seine Tekanne? . . . Die nahm er wohl mit?“

„Allerdings. Um sich zu Hause ein Frühstück zu machen.“

„Sehr einleuchtend. Haben Sie übrigens mal gesehen, wie sich Platin verhält, wenn man Tee daraufgießt?“

„Platin —? Tee —?“ wiederholte der Juwelier verständnislos.

„Haben Sie ein Körnchen Platin bei der Hand?“

„Gewiß. Kommen Sie in meine Werkstatt.“

Der Detektiv nahm das kleine Blättchen des weißschimmernden Metalls und legte es in einen Napf. Dann zog er eine Flasche aus dem Jackett und goß eine bräunliche Flüssigkeit darauf.

„Tee!“ sagte er mit seinem trockenen Lächeln.

Die Flüssigkeit wirbelte schäumend und zischend empor. Blasen brodelten an die Oberfläche; beißender Dunst stieg auf.

„Ein sonderbarer Tee, nicht wahr? Melroscher Tee!“

„Was soll das sein?“ flüsterte der Juwelier atemlos.

„Das bedeutet, daß dieser Tee . . .“ Er nahm das Gefäß und goß es in eine Schale um; das Platin war verschwunden. „Das Platin löste sich in dem Tee,“ erklärte Joe Jenkins. „Sie ahnen wohl, daß dieser Tee eigentlich kein Tee war, sondern eine Mischung von Salzpeter- und Salzsäure . . .“

„Königswasser,“ flüsterte der Juwelier.

„Ganz richtig! Königswasser, in dem sich bekanntlich Platin löst. Ich habe allen Grund, zu vermuten, daß der Tee, der sich in der Kanne des Herrn Melrose fand, in Wirklichkeit kein Tee war, sondern . . .“

„Königswasser?“

„Ja.“

„Demnach war das aufgelöste Platin die ganze Zeit über in der Teekanne gewesen?“

„Alles spricht dafür.“

„Aber . . .“

„Nun?“

„Der Geruch — Sie selbst haben den Inhalt der Kanne umgegossen — wir beide hätten doch am Geruch wahrnehmen müssen, daß . . .“

„Das wußte Herr Melrose sehr geschickt zu verhindern durch den bittersüßen Geruch des Betäubungsmittels, das im Zimmer zerstäubt war und das jeden anderen Geruch sozusagen ausschaltete.“

Der Juwelier griff sich verzweifelt an den Kopf. „Und ich — ich habe dem Menschen selbst das kostbare Platin ausgeliefert!“

„Ja, Herr Bilandios. So geht es, wenn man seine Instruktionen mißachtet!“

„Es ist zum Verrücktwerden?“

„Nun, lassen Sie vorläufig den Kopf nicht hängen. Ich rechne, offen gestanden, damit, daß Sie irgend eine Dummheit machen würden.“

„Dadurch wird die Sache nicht besser,“ antwortete kleinlaut der Grieche.

„Nun — vielleicht doch . . .“

„Artur Melrose wohnt in der Siebenundachtzigsten Straße, Ost, Nummer einunddreißig,“ sagte der Juwelier leise.

„Diese Adresse habe ich schon heute früh aus Ihren Büchern ersehen,“ nickte der Detektiv. „Nur würde ich mich sehr wundern, wenn Herr Melrose, der mir ein heller Kopf zu sein scheint, nicht längst aus seinem Nest ausgeflogen wäre. Nun, wir werden ja sehen.“

Während die beiden in das Menschengewimmel des Broadways tauchten, wurde die Miene des Juweliers immer nachdenklicher; mehr und mehr verlangsamten sich seine Schritte. Ein paarmal ließ der Detektiv einen verstohlenen Blick über das Gesicht seines Nachbars gleiten. Plötzlich blieb der Grieche stehen. „Nein, Mr. Jenkins,“ stieß er hervor, „diese Geschichte will mir nicht in den Kopf.“

„Was für eine Geschichte?“

„Nun, die Erklärung, die Sie mir gaben — daß Artur Melrose der Schuldige sein soll.“

„Was gefällt Ihnen daran nicht?“

„Es scheint mir unglaubwürdig, daß Melrose das Platin gestohlen hat. Warum gerade Melrose? Sie wissen so gut wie ich, daß der Schmuck in den Händen des Herrn Vanderstraaten schon das Ziel eines Attentats gewesen war. Mit andern Worten: man stellte dem Armband nach. Nun hat man es richtig gestohlen; warum soll es gerade mein Gehilfe sein, der das getan hat? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß es dieselben Leute waren, die Herrn Vanderstraaten schon verfolgt haben, ehe er daran dachte, mein Geschäft zu betreten?“

In die Züge des Detektivs trat ein Lächeln. „Warum kommen Ihnen erst jetzt diese Zweifel?“

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