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04.2
Am Kamin
Kriminalgeschichten
Elf Abenteuer des Joe Jenkins
Paul Rosenhayn
07 Proszeniumsloge I
_______________________________
Proszeniumsloge I
3.
November. Liebe Klara!
Ich
habe die Hoffnung
aufgegeben, ein
Engagement an einem Theater zu finden. Alles überfüllt . . . Wer hätte
wohl
jetzt, während des Krieges, für einen stellungslosen Schauspieler
Verwendung! Die
Agenten lachen einem ins Gesicht, wenn man von Engagement spricht.
Wer so
glücklich ist, einen Unterschlupf zu haben, spielt für die geringste
Gage.
Keine Aussicht. Alles verrammelt.
Ich
weiß nicht mehr, was ich anfangen
soll. Ich hab‘ mir einen Termin gesetzt. Wenn der vorüber ist und sich
nichts
geändert hat — dann gebe ich Dir Dein Wort zurück. Dann bist Du frei
und wirst —
das wünsche ich Dir, liebe Klara — einen besseren und glücklicheren
Mann
finden; — wie Du ihn verdienst . . . . .
. . Dein
Kurt
* *
*
6. November. Mein
liebes Mädel!
Heute war ich im letzten Theater, das ich noch
nicht
abgegrast hatte — bei Direktor Valoni vom Rembrandt-Theater. Er war
nicht
unhöflich — aber er erklärte mir mit bedauerndem Achselzucken — keine
Vakanz! Nicht
einmal als Statist kann er jemanden einstellen.
Das war das letzte . . . Ich warte bis zum fünfzehnten.
Dann . . . . . . Kurt.
9. November. Liebe
Klara!
Fast über Nacht ist eine Wendung eingetreten.
Freilich,
ich will noch nicht zu optimistisch sein . . . Denn es ist alles erst
im Werden,
und was ich vorhabe liegt fernab von meinem Beruf. Aber Not schärft die
Sinne;
der Mensch kann manches, wenn er muß.
Durch ein Inserat habe ich einen reichen Herrn kennen
gelernt. Ich habe ihm eine Idee vorgetragen, die ihm, wie es scheint,
außerordentlich eingeleuchtet hat. Die Sache ist die: Es fehlt hier
zurzeit an
einem Blatt, das sich eingehend mit den lokalen Ereignissen
beschäftigt. Die
Interessen der großen Blätter werden durch den Krieg fast völlig
absorbiert. Mir
ist nun der Gedanke gekommen, eine Zeitschrift zu gründen, die in
zwangloser
Folge die interessanten Ereignisse aus der Stadt berichtet. Mein
Geldmann ist
begeistert von der Idee. Er will mit mir die Zeitung versuchsweise auf
ein
Vierteljahr herausgeben. Schlägt sie ein, dann machen wir einen
langjährigen
Vertrag. Und dann, Schatz . . .
Die Eröffnungsnummer soll erscheinen, sobald irgend etwas
Ungewöhnliches sich ereignet, wodurch man sich geschickt einführen
könnte. Aber
— willst Du glauben? Es ist wie verhext: es passiert nichts. Es ist,
als ob die
Herren Räuber und Mörder und Diebe Rücksicht auf den Kriegszustand
nähmen.
Du wirst mir vielleicht nicht recht zutrauen, daß ich
diese Arbeit leisten kann? Sei ganz unbesorgt! Schon als ich meine paar
Semester Jura studierte, habe ich mir manche Mark Taschengeld durch
kleine
Artikel verdient. Es wird schon gehen. Nur Stoff . . . Stoff!
Kurt.
15. November. Liebe
Kleine!
Heute haben wir die erste Nummer unserer
Zeitschrift
herausgegeben. Wir haben sie „Die Sensation“ genannt. Es ist zwar noch
nichts
Besonders passiert, was diesen Titel rechtfertigen könnte. Nur ein paar
kleine
Sensatiönchen. Aber — wir hoffen auf die Zukunft. Anbei die
Eröffnungsnummer.
Ich bin unermüdlich tätig. Gestern habe ich einen exotischen Diplomaten
interviewt, heute abend war ich in einer Premiere: Gastspiel eines
berühmten
Wiender Hofburgschauspielers im Rembrandt-Theater, als Romeo.
Im Zwischenakt gelang es mir, den Sohn des Direktors in
seinem Theaterbureau aufzusuchen. Ich bat ihn, mich dem berühmten Gast
vorzustellen. Er nahm mich bereitwillig unter den Arm und führte mich
hinter
die Kulissen. Ich habe ein langes Interview aufgenommen; ich schreibe
diesen
Brief auf der Redaktion, während mein Bericht in Druck geht. Mitten in
der Nacht
. . . . . . . Dein Kurt.
16. November.
Morgens früh. Liebe Klara!
Wir haben ihn, wir haben ihn!
Den Fall!
Schneller als ich es geahnt habe, ist etwas Unerhörtes
geschehen; der Direktor des Rembrandt-Theaters, Herr Valoni, ist
gestern
während der Vorstellung in seiner Direktionsloge ermordet worden . . .
Es tut mir leid — gewiß. Aber: ich habe einen fabelhaften
Stoff und, was wichtiger ist: ich bin der einzige, der in der Lage ist,
aus
eigener Anschauung Näheres über die Mordsache zu sagen und zu
schreiben. Warum
— das wirst Du aus dem beiliegenden Artikel der „Sensation“ ersehen.
Mein
Geldgeber ist mehr als zufrieden. . . . . . . . Kurt
Extraausgabe
der „Sensation“ vom 16. November.
Rätselhaftes
Verbrechen!
Direktor
Valoni vom Rembrandt-Theater in seiner Proszeniumsloge
ermordet!
Ein furchtbares Verbrechen ist gestern abend in der Zeit
zwischen zehn und elf Uhr im Rembrandt-Theater verübt worden. Man gab
vor
ausverkauftem Hause „Romeo und Julia“ mit Herrn Sch. aus Wien als Gast.
Während
das Auditorium ergriffen den Vorgängen auf der Bühne lauschte, trug
sich in
aller Heimlichkeit, unbeachtet und unbemerkt ein Drama im Zuschauerraum
zu,
grausiger und erschütternder als die Tragödie auf den Brettern.
Herr Direktor Valoni hatte um acht Uhr pünktlich seine
Loge betreten. Er hat die Gewohnheit, sich nicht vorn an die Brüstung,
sondern
ziemlich tief in den Hintergrund der Loge zu setzen. Da er sich schon
seit
mehreren Tagen nicht recht wohl fühlte, so hatte er dem Logenschließer
Befehl
gegeben, seine Anwesenheit zu verschweigen und niemanden in seine Loge
einzulassen; er selbst hat seinen Platz während des ganzen Abends, auch
im
Zwischenakt, den er sonst manchmal auf der Bühne zubrachte, nicht
verlassen.
Herr Direktor Valoni empfing etwa um zehn Uhr in seiner
Loge den Besuch seines Sohnes, des Herrn Ernst Valoni, der bis etwa
halb elf
Uhr, neben seinem Vater sitzend, dem
Spiel zugeschaut hat. Dann verließ Herr Valoni junior die Loge und das
Theater,
um nach Hause zu fahren.
Als um elf Uhr die Vorstellung zu Ende war, fiel es dem
Logenschließer auf, daß der alte Herr in der Loge keine Miene machte
sich zu
erheben. Auf sein wiederholtes Klopfen erhielt er keine Antwort. Da
entschloß
er sich endlich, die Tür zu öffnen.
Zögernd trat der Logenschließer ein. Auf einem der
rückwärtigen Stühle lag der Pelzmantel des Direktors. Der
Logenschließer nahm
ihn in die Hände und trat an seinen Herrn heran. Auch jetzt noch rührte
sich
der Direktor nicht. Der Hinzutretende sah seinem Chef näher ins Gesicht
und
fuhr mit einem Aufschrei zurück: er hatte in das glasige Antlitz eines
Toten
geblickt. Im nächsten Augenblick machte der Logenschließer eine neue
furchtbare
Entdeckung: um den Hals des Toten wand sich, fest geschnürt, eine
Schlinge, die
im Nacken zusammengedreht war. Ein ruchloser Mörder hatte den Direktor
in
seiner Loge erdrosselt. —
Der Logenschließer erklärt mit Bestimmtheit, daß niemand
die Loge betreten habe. Niemand außer Herrn Valoni junior. — Die Loge
besitzt
ein Kunstschloß, das keiner ohne den dazugearbeiteten
Präzisionsschlüssel von
außen öffnen kann. Diesen Schlüssel hat außer dem Direktor nur der
Logenschließer. Das zweite Exemplar wurde in den Taschen des Ermordeten
gefunden.
18. November. Liebe
Klare!
Deinen lieben gestrigen Brief habe ich empfangen. Dein
Interesse für den Fall Valoni ist begreiflich. Hier also das Neueste in
der
Angelegenheit.
Der Logenschließer ist verhaftet worden. Das war von
vornherein vorauszusehen. Denn schließlich ist er wohl der einzige, der
in
Betracht kommt.
Eben war ich beim Kommissar, der ihn vernommen hat. Er
schüttelte den Kopf. Irgend etwas scheint ihm nicht recht
einzuleuchten. Er hat
festgestellt, daß der Diener keinerlei Grund zu einem derartigen
Verbrechen
gehabt hat. Er ist seit sechs Jahren in seiner Stellung. Trotz der
schlechten
Zeiten hat er, gerade weil er die vornehmsten und teuersten Plätze des
Theaters
bedient, einen Verdienst, der dem in Friedenszeiten kaum nachsteht.
Sein
Privatleben ist makellos. Nach Aussage des Sohnes pflegte der Ermordete
höchstens ein paar Mark bei sich zu führen. Eine gründliche Haussuchung
beim
Logenschließer hat nichts Verdächtiges ergeben
— vor allem kein Geld. Natürlich will das an sich nicht viel sagen. Ich
fragte den Kommissar, ob er auf irgendeinen anderen Verdacht habe. Er
machte
ein bedenkliches Gesicht, verneinte aber dann.
Und bei dieser Gelegenheit, liebe Klara, habe ich etwas
getan, worüber ich mir jetzt fast Vorwürfe mache. Es ist in
Theaterkreisen
bekannt, daß das Verhältnis zwischen Direktor Valoni und seinem Sohne
kein
besonders gutes war. Im Eifer der Unterhaltung sind mir ein paar Worte
darüber
entschlüpft. Im nächsten Moment war ich ganz erschrocken und sah ihn
an. Da
bemerkte ich, daß er stutzig geworden war. Ich habe die Übereilung nach
besten
Kräften wieder gutzumachen versucht; ich habe dem Kommissar erklärt,
daß ich
selbst den Sohn als einen friedfertigen und anständigen Menschen kenne.
Nun —
hoffentlich ist damit die Sache erledigt. Immerhin: ich werde in
Zukunft meine
Zunge im Zaum halten . . . . . . Dein
Kurt.
20. Dezember. Liebe
Klara!
Die Ereignisse überstürzen sich. Jeder Tag bringt neue
Überraschungen. Heue ist der junge Valoni unter dem dringenden
Verdacht, seinen
Vater ermordet zu haben, verhaftet worden.
Nachdem der Logenschließer immer wieder seine Unschuld
beteuerte, hat man ein paar Zeugen vernommen: seinen Kollegen von den
Ranglogen
und zwei Garderobenfrauen. Danach ist erwiesen, daß der Logenschließer
als
Täter nicht in Frage kommen kann, denn er ist während des ganzen Abends
gewissermaßen unter Aufsicht gewesen. Alle drei Zeugen sagen
übereinstimmend
aus, daß der Schließer die Proszeniumsloge I während des ganzen Abends
nicht
betreten hat. Nur ein einziger außer dem Ermordeten ist in der Loge
gewesen:
sein Sohn. Danach kann der Logenschließer als Täter nicht in Betracht
kommen
und ist auf freien Fuß gesetzt worden.
Nun hat die Behörde einige Mitglieder des Theaters
vernommen und mehrere überraschende Feststellungen gemacht. Der
Kassierer hat
bekundet, daß der junge Valoni der Kasse Summen entnommen hat, die weit
über
seine Befugnisse hinausgingen. Auch am Mordtage wurde ihm, dem
Kassierer, eine
Tratte über 15 000 Mark zur Einlösung präsentiert, die der Sohn auf
seinen
Vater gezogen hatte. Einige Stunden später haben zwei Schauspieler des
Theaters, die im Vorzimmer auf den Direktor
warteten, einen lauten Wortwechsel aus dem Direktionszimmer vernommen,
der von Sekunde zu Sekunde heftiger wurde: man hörte die Stimmen des
alten und
des jungen Valoni. Augenscheinlich machte der Vater dem Sohne heftige
Vorwürfe;
durch die Tür, die nur angelehnt war, drangen von Zeit zu Zeit Worte
und Rufe,
die besonders laut hervorgestoßen wurden.
Einer der beiden Schauspieler hörte den Sohn sagen: „Du
wirst es mit deiner Knausrigkeit noch so weit treiben, daß etwas
passiert, was
ich nachher bereue.“ Darauf ist der junge Valoni unter allen Zeichen
heftigster
Erregung durchs Vorzimmer gestürmt, um gleich darauf die Tür wütend
hinter sich
zuzuschlagen. Die Schauspieler haben angesichts der offenkundigen
Verstimmung
auf ihre Absicht, um Vorschuß zu bitten, für diesen Tag verzichtet.
Die „Sensation“ geht glänzend. Übermorgen erscheint die
neue Nummer. Übrigens ist für morgen meine Vernehmung in der Mordsache
angesetzt. Ich werde versuchen, sie in die Nummer von übermorgen noch
hineinzubringen. Gute Nacht. . . . . . . Kurt.
Die „Sensation“ vom 22. November
Der Fall Valoni
Der
eigene Sohn unter Mordverdacht verhaftet!
Die Affäre des ermordeten Theaterdirektors Valoni
gestaltet sich immer rätselhafter. Vorgestern fand auf dem Kommissariat
die
Vernehmung einiger Personen statt, die an dem Mordabend den jungen
Valoni
gesehen und gesprochen haben. Unser Referent, Herr Kurt Harsfeld, gibt
in
nachstehendem eine lebendige Schilderung der Vernehmungen, wie sie sich
in
ihrem Gesamtbilde darstellen. Herr Harsfeld ist hierzu um so mehr in
der Lage,
als er selbst als Zeuge in dieser Tragödie vernommen worden ist und die
Ereignisse zum Teil miterlebt hat.
Als erster Zeuge war der junge Ernst Valoni geladen. Der
hochgewachsene, schlanke junge Lebemann, dessen hübsches Gesicht und
dessen
liebenswürdige Manieren schon manchem biederen Ehemann unserer Stadt
schlaflose
Nächte bereitet haben — man erinnert sich der Affäre der Frau v. R. vor
zwei
Jahren —, sah ernst und bleich aus, als er das Verhörzimmer betrat.
Der Kommissar: „Herr Valoni — ich habe Sie kommen lassen,
um von Ihnen einiges zu erfahren, was Sie an dem Mordabend gesehen und
gehört haben.“
Valoni: „Herr Kommissar, ich kann in der Sache so gut wie
nichts aussagen.“
Der Kommissar (erstaunt): „Und warum nicht?“ . . .
Valoni: Weil ich das
Theater bereits um halb zehn verlassen habe.“
Der Kommissar: „Wer ist Ihre Geliebte“
Valoni: „Fräulein M., die Soubrette vom Stadttheater.“
Der Kommissar: „Ah — Sie waren also die Zeit über mit
Ihrer Geliebten zusammen, und die Dame kann dies bezeugen?“
Valoni (zögernd): „Nein . . .“
Der Kommissar: „Geben Sie es nur zu . . . Sie können sie
nicht zu Hause angetroffen haben. Denn sie hat an diesem Abend von acht
bis elf
Uhr im Stadttheater gespielt. Sie hat das Theater während dieser Zeit
nicht
verlassen. Was haben Sie darauf zu erwidern?“
Valoni: „Es ist richtig. . . Ich habe Fräulein M. nicht
zu Hause angetroffen.“
Der Kommissar: „Und wußten Sie nicht von vornherein, daß
sie an diesem Abend zu spielen hatte?“
Valoni: „Ja, ich wußte es. Indessen . . . ich hatte
Gründe, anzunehmen, daß sie an dem betreffenden Abend absagen würde.“
Der Kommissar: „Hatte Fräulein M. eine derartige Absicht
ausgesprochen?“
Valoni: „Nein!“
Der Kommissar (lächelnd): „Dann werden Sie nicht umhin
können, mir die Gründe für Ihre Annahme, Fräulein M. würde an diesem
Abend
absagen, zu nennen.“
Valoni (stockend): „Wenn ich es denn sagen muß . . . ich
glaubte Grund zur Eifersucht zu haben. Ich habe an jenem Abend die
Villa
Fräulein M.s beobachtet.“
Der Kommissar: „Hm . . . Hat Fräulein M. je Anlaß zur
Eifersucht gegeben?“
Valoni: — „Nein, aber . . .“
Der Kommissar: „Was aber . . .?“
Valoni: „An jenem Abend wurde ich telephonisch angerufen,
und jemand teilte mir mit, daß Fräulein M. in ihrer Villa einen
Herrenbesuch
erwarte.“
Der Kommissar: „Wer hat Ihnen dies mitgeteilt?“
Valoni: „Ich weiß es nicht. Eine unbekannte männliche
Stimme.“ — Der Kommissar: „Um welche Zeit fand dieser telephonische
Anruf
statt?“
Valoni: „Kurz nach 9 Uhr.“ — Der Kommissar: „Im
Theaterbureau?“ — Valoni: „Ja!“ — Der Kommissar: „Hm . . . Eins stimmt
an Ihren
Angaben: Sie haben in der Tat das Theater um halb 10 Uhr verlassen.
Herr
Harsfeld, der Referent von der ‚Sensation‘, hat es bezeugt. Er hat Sie
im
Theaterbureau aufgesucht und einige Worte mit Ihnen gesprochen. Dann
hat Herr
Harsfeld in Ihrer Gegenwart den Gast aus Wien interviewt. Darauf
erklärten Sie,
etwa um halb 10, Sie hätten keine Zeit mehr. Herr Harsfeld hat Sie
darauf vor
die Tür begleitet und Sie haben Ihr Auto bestiegen, um in der Richtung
nach dem
Westen abzufahren.“
Valoni: „Ja, Das stimmt.“
Der Kommissar: „Wo liegt die Villa Ihrer Geliebten?“
Valoni: „In der Kirschenallee.“
Der Kommissar: „Kann Ihr Chauffeur bezeugen, daß Sie
dorthin gefahren sind?“
Valoni: „Ich habe selbst gesteuert.“
Der Kommissar: „Hm. Sie sind also nach der Kirschenallee
gefahren. Was hat sich weiter ereignet?“
Valoni: „Ich habe das Auto in dem kleinen Wäldchen hinter
der Kirschenallee verlassen, bin die kurze Straße zu Fuß
hinuntergegangen und
habe mich in den Schatten der Häuser gestellt, die dem Hause meiner
Geliebten
gegenüberliegen. Dort habe ich etwa zwei Stunden gestanden.“
Der Kommissar: „Haben Sie irgend etwas entdeckt, was
Ihren Verdacht rechtfertigte?“
Valoni: „Nein. Nicht das geringste.“
Der Kommissar: „Sie sagen, Sie haben dort zwei Stunden
lang auf Ihrem Posten gestanden. Was taten Sie dann?“
Valoni: „Dann bin ich zum Auto zurückgekehrt und bin in
meine Wohnung gefahren.“
Der Kommissar: „Das Auto hat also zwei Stunden lang auf
der Straße gestanden. Es ist ein wenig auffallend, daß niemand dieses
Auto
gesehen hat!“
Valoni: „Das Wädchen, in dessen Schatten ich das Auto gesteuert
habe, ist nur von zwei Villen flankiert. Es ist kein Wunder, wenn
mich niemand gesehen hat, ja —
es war meine Absicht, nicht gesehen zu werden. Darum habe ich auch die
Laternen
gelöscht.“
Der Kommissar: „In der Tat, sehr vorsichtig! . . . . Wann
sind Sie in Ihrer Wohnung angelangt?“
Valoni: „Es mag Mitternacht gewesen sein. Mein Diener
empfing mich mit der furchtbaren Nachricht, mein Vater sei ermordet
worden.“
Der Kommissar stand auf. „Herr Valoni,“ sagte er ernst,
„Ihren Angaben stehen die Aussagen von sechs einwandfreien Zeugen
gegenüber,
die das Entgegengesetzte bekundeten . . . Um halb 10 Uhr haben Sie das
Theater
verlassen. Das stimmt. Was Sie uns weiter gesagt haben, ist durch
Zeugenaussagen widerlegt. Denn — um 10 Uhr haben Sie das Theater wieder
betreten.“
In diesem Augenblick sprang Valoni auf, totenbleich und
zitternd. „Herr Kommissar,“ stieß er mühsam hervor, „das ist nicht
wahr. Ich
habe das Theater um halb zehn verlassen und bin nicht mehr
zurückgekehrt.“
— „Sie sind im übrigen auch von sämtlichen Schauspielern
auf der Bühne gesehen worden, als Sie, neben Ihrem Vater, im
Hintergrund der
Loge saßen und dem Spiele folgten.“
„Ich war es nicht.“
„Endlich muß ich Sie noch auf einen besonders
gravierenden Punkt aufmerksam machen. Der Ermordete saß noch nach
seinem Tode
in friedlicher Haltung in seinem Sessel, das Gesicht der Bühne
zugewandt. Ein
Beweis, daß der Eingetretene, der etwa eine halbe Stunde neben ihm
gesessen
hat, ihm genau bekannt gewesen ist. Daß aber dieser zugleich der Mörder
ist,
unterliegt keinem Zweifel.“
„Ich war es nicht.“
„Herr Valoni — ich verhafte Sie unter dem dringenden
Verdacht, Ihren Vater ermordet zu haben.“
Die Kunde von der Verhaftung verbreitete sich wie ein
Lauffeuer durch die Stadt. Das Publikum, dessen Erregung täglich
wächst, hat
sich in zwei _Gruppen gespaltet: die eine schwört darauf, daß Ernst
Valoni der
Mörder sei, die andere ist überzeugt, daß Valoni unter keinen Umständen
die Tat
begangen haben könne. Wir werden unparteiisch und objektiv über den
weiteren
Verlauf dieser sensationellen Affäre berichten.
* *
*
24. November.
Liebe Klara!
Die „Sensation“ geht glänzend. Heute haben wir allein im
Straßenverkauf 1000 Exemplare abgesetzt.
In der Sache Valoni nichts Neues. Höchstens wäre zu
vermelden, daß die Stimmen, die für seine Unschuld eintreten, sich
stark
mehren. Selbst auf der Polizei hörte ich vor einigen Tagen die Ansicht
vertreten, daß Valoni junior unschuldig sei. Übrigens soll Valoni den
bekannten
Detektiv Mr. Joe Jenkins, der zurzeit in Deutschland weilt, mit seiner
Sache
betraut haben.
Viele Grüße Kurt.
30. November.
Liebe Klara!
Gestern habe ich eine interessante Bekanntschaft gemacht.
Nach längerer Zeit war ich zum erstenmal wieder im Rembrandt-Theater,
das unter
neuer Direktion wieder eröffnet worden ist. Im Foyer fiel mir ein
hochgewachsener, breitschultriger Herr auf, in dem glattrasierten
Gesicht mit
dem breiten Kinn ein Paar kühle, graue Augen, die ruhig forschend die
Menschen
und die Dinge zu durchdringen schienen. Ich erkundigte mich nach ihm,
und man
sagte mir, es sei Mr. Joe Jenkins, der berühmte amerikanische Detektiv.
Durch
den Dramaturgen des Theaters wurde ich ihm nachher vorgestellt. Er
kannte
meinen Namen; er hatte meine Berichte in der „Sensation“ gelesen, und
er
beglückwünschte mich zu meinen, wie er sagte, scharfsinnigen und
sachverständigen Beobachtungen, die ihn sehr gefesselt hätten. Er ist
ein
höflicher und angenehmer Mensch mit den Allüren eines Mannes, der die
ganze
Welt gesehen hat. Er hat mich übrigens aufgefordert, ihn in seinen
Recherchen
zu unterstützen. Natürlich habe ich zugesagt. In der nächsten Nummer
der
„Sensation“ werden wir das Bild von Mr. Joe Jenkins bringen. . .
. . . Dein
Kurt.
5.
Dezember.
Liebe Klare!
Mit Joe Jenkins habe ich mich fast angefreundet. Gestern
hat er mir einen Beweis gegeben, wie er arbeitet. Er holte mich um 10
Uhr früh
aus der Redaktion ab, um mit mir aufs Hauptpostamt zu fahren. Denke
Dir, hier
hat er folgendes festgestellt: der junge Valoni ist in der Tat am
Mordabend
antelephoniert worden, in seinem Bureau im Theater, und zwar im 9 Uhr
zehn
Minuten. Der Anruf ist von einer öffentlichen Fernsprechstelle aus
erfolgt —
die Gespräche werden bekanntlich registriert wegen der Kontrolle über
die
Gebühren. Und nun kommt das Merkwürdige. Weißt Du, von wo der Anruf
erfolgt
ist? Aus dem Foyer des Rembrandt-Theaters. Ist das nicht unglaublich?
Und
nebenbei furchtbar unvorsichtig. Diese Entdeckung kann übrigens zu zwei
verschiedenen Schlüssen führen: entweder, Valoni ist unschuldig und es
handelt
sich in der Tat um einen anderen, der telephoniert hat, um Valoni aus
dem
Theater fortzulocken — oder aber dieser Anruf war bestellte Arbeit;
Valoni hat
die Recherchen nach diesem Anruf vorausgesehen, und der Anrufende war
ein
Helfershelfer Valonis. Jenkins ist fieberhaft damit beschäftigt, den
Betreffenden, der vom Theater ins Theaterbureau telephoniert hat, zu
ermittel, . . . . . . Gruß
Kurt
* *
*
8.
Dezember.
Liebe Klara!
Joe Jenkins hat eine neue Entdeckung gemacht. Sie sieht
unwichtig aus, kann aber unter Umständen der ganzen Angelegenheit eine
entscheidende Wendung geben. Valoni junior hat das Theater im
Pelzmantel
verlassen und ist im Ulster zurückgekehrt. Das Merkwürdigste daran ist:
dieser
Ulster, ein hellgelber, langer Raglan, ist nach Aussage Valonis seit
der
Mordnacht unauffindbar verschwunden. Der Logenschließer, die
Garderobenfrauen
und auch der Portier erinnern sich ganz genau, daß Ernst Valoni im
Ulster war,
als er zurückkehrte. Die hellgelbe Farbe mußte jedem auffallen. Der
Logenschließer weiß es speziell um so genauer, als der Ulster das
charakteristische Parfüm ausströmte, das der junge Valoni benutzte—
Orchidee. Und — die Proszeniumsloge Nr. 1
weist noch heute einen leisen Duft von Orchidee auf . . . Merkwürdig,
nicht?
. . . . . . Kurt.
* *
*
12. Dezember.
Liebe Klara!
Joe Jenkins verwöhnt mich ein bißchen mit seiner
Freundschaft — ja, um die Wahrheit zu sagen, er fällt mir manchmal ein
wenig
auf die Nerven. Der berühmte Detektiv scheint mich außerordentlich ins
Herz
geschlossen zu haben — was ja an sich sehr schmeichelhaft ist —, leider
aber
drückt er diese Freundschaftsgefühle dadurch aus, daß er mich zu allem
möglichen und unmöglichen Tageszeiten förmlich überfällt. Neulich kommt
er um 7
Uhr früh bei mir an. Ich denke wunder, was geschehen ist — und was will
er
schließlich? Er fragt mich nur, ob ich die Entgleisung bemerkt hätte,
die dem
berühmten Gast aus Wien neulich in der „Romeo und Julia“-Vorstellung
passiert
wäre. Weißt Du, am Mordabend!
„Haben Sie bemerkt,“ fragte er, „wie anscheinend die
Mordstimmung schon in der Luft gelegen haben muß?“ Als ich ihn erstaunt
ansah,
fuhr er fort: „Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß der Gast aus Wien in
der
Kapellenszene im letzten Akt seinen Auftritt versäumt hat? Die Bühne
ist etwa
eine halbe Minute leer geblieben, dann ist der Gast eilends
hervorgestürzt.
Haben Sie das nicht bemerkt?“ „Selbstverständlich,“ sagte ich, „wie
sollte ich
das nicht bemerkt haben.“ Da fing Jenkins plötzlich aus vollen Halse an
zu
lachen und sagte: „Etsch — hereingefallen! . . . Ist ja alles nicht
wahr!“ . .
. Für einen Detektiv ein etwas kindlicher Scherz, nicht?
Ein weiterer Scherz von Jenkins. Vor einigen Tagen komme
ich abends um zwölf nach Hause. Meine Wirtin ist noch wach. Sie
berichtet mir,
um 10 Uhr sei Mr. Jenkins dagewesen und hätte behauptet, ich habe ihm
meinen
Frack versprochen. Nun muß ich hierzu bemerken: ich besitze gar keinen
Frack.
Meine Wirtin teilt ihm dies mit — aber er läßt sich nicht abschrecken.
Er ruhte
nicht eher, bis meine Wirtin in seiner Gegenwart meinen Schrank öffnete
und ihm
die vorhandenen Kleidungsstücke zeigte. Da war er beruhigt. Als ich
Jenkins am
anderen Morgen darüber zur Rede stelle, will er sich halb totlachen und
erklärte, das Ganze sei nichts als ein Scherz gewesen. Sonderbare
Scherze!
Manchmal ist er wieder sehr liebenswürdig und angenehm.
Gestern abend kommt er um 9 Uhr mit einer Flasche Punsch bei mir an und
lädt
mich ein, mit ihm ein Gläschen zu trinken. Darauf geht er an den Ofen,
kratzt
sachkundig die Asche heraus, macht ein Feuer an, und bald sitzen wir
bei einem
Glas Burgunderpunsch. Nach langer Zeit habe ich zum erstenmal wieder
richtig
gekneipt. Jenkins ist ein entzückender Zechkumpan, und wir haben über
alles
Mögliche geplaudert. An das meiste kann ich mich nicht mehr so recht
erinnern —
Du begreifst, warum — ich weiß nur noch, daß wir von Dir gesprochen
haben. Ich
habe ihm auch Dein Bild gezeigt, und er läßt Dich herzlich grüßen.
Wir mochten etwa beim fünften Glas angelangt sein, da
lehnte sich Jenkins plötzlich in seinem Stuhl zurück, blickte
nachdenklich zur
Decke und sagte:
„Wir werden einige Überraschungen erleben. Mr. Harsfeld.
In den nächsten Tagen!“ Ich sah ihn lächelnd an. „Sprechen Sie von der
Mordsache?“ Er nickt. „So halten Sie Valoni nicht für den Täter?“
fragte ich.
„Nein“, sagt er. „Und sind Sie dem wirklichen Mörder auf der Spur?“
„Ja!“
Du kannst Dir denken, wie neugierig ich war; aber ich
hielt es für taktlos zu fragen — was übrigens bei Joe Jenkins auch
keinen Zweck
haben würde.
Herzlichen
Gruß
Kurt.
*
* *
Heute
kam Jenkins zu mir auf die Redaktion. „Halten Sie
sich bereit,“ sagte er, „morgen werden wir ihn haben.“ „Wen?“ fragte
ich.
„Den Mörder.“
„Wirklich?“
„Morgen mittag um 12 Uhr.“
„Wo?“
„Im Cafe Sirius. Kommen Sie mit!“
„So soll ich dabei sein?“
„Ja. Sie haben mich bisher unterstützt; Sie sollen auch
das mit erleben. Überdies gibt das einen vortrefflichen Artikel für die
‚Sensation‘. Also halten Sie sich bereit. Ich hole Sie morgen mittag
dreiviertel zwölf aus Ihrer Wohnung ab.“
Du kannst Dir denken, wie ich gespannt bin. Ich schreibe
Dir morgen ausführlich.
Gruß Kurt.
18. Dezember. Liebe Klara!
Es ist Vormittag. Ich bin in einer ungeheuren Erregung.
Um dreiviertel zwölf will Jenkins kommen und mich an die Stelle führen,
wo er
den Mörder festnehmen wird. Was werde ich sehen? Wer wird es sein? Um
meine
Erregung ein wenig abzuleiten — eben höre ich Jenkins kommen,
(Eine Stunde später.)
Mein lieber Schatz . . . es heißt, Abschied nehmen. Ich
hab‘ das Spiel verloren. Verzeih‘ mir, wenn Du kannst, und denke: ich
habe es
Deinetwegen getan.
Draußen vor meiner Tür geht Joe Jenkins auf und ab. Ich
höre seine regelmäßigen Schritte wie die eines Gefangenenwärters. Er
hat sein
Versprechen erfüllt . . .
Er hat mir den Mörder gezeigt. Die Uhr schlug Zwölf. Ich
sah Jenkins verwundert an — hatte er mir nicht gesagt . . .
„Sie wollten mir um 12 Uhr den Mörder zeigen, Mr.
Jenkins, begann ich.
„Ich bin eben im Begriff, es zu tun“, erwidert er.
„Also — wer ist
es?“ fragte ich beklommen. Da tritt Jenkins einen Schritt auf mich zu,
legt mir
die Hand auf die Schulter und sagt:
„Sie, Herr Harsfeld!“
Und — er hat recht. Ich bin es gewesen.
Ich habe vom Foyer aus an den jungen Valoni telephoniert,
um ihn aus dem Hause zu locken. Als er fort war, bin ich durch den
Hofeingang
zu seiner Garderobe gegangen, habe mir seine Maske angeschminkt und
habe seinen
Ulster angezogen, der im Kleiderschrank hing. Nachdem ich mich so in
den jungen
Valoni verwandelt hatte, bin ich durch das Theater gegangen und habe
mich in
die Loge gesetzt, neben den alten Valoni. Auch er hielt mich für seinen
Sohn.
Er hat nicht ein einziges Mal mit mir gesprochen — dank dem Zerwürfnis,
das
zwischen Vater und Sohn bestand. Dann habe ich den Alten erdrosselt. Es
ging
schnell . . .
Du wirst Dich entsetzt fragen, warum? Ich kann Dir nur
die eine Antwort geben: aus Ehrgeiz, aus alles verzehrendem,
wahnwitzigem
Ehrgeiz. Ich suchte den großen Stoff, die große Sensation, die mich und
meine
Zeitung mit einem Schlage in den Brennpunkt des allgemeinen Interesses
werfen
sollte.
Jenkins, der Menschenkenner, hat von vornherein Verdacht
auf mich gehabt. Jetzt verstehe ich auch seine Scherze: der leise
Orchideenduft,
den er in meinem Kleiderschrank gesucht und gefunden hat, mag seinen
Verdacht
bestätigt haben. Gewiß, der Ulster selbst war nicht mehr da; Jenkins
hat in
meinem Ofen nach seinen Resten gesucht, und er hat zwei Knöpfe
gefunden, die
ihm seinen Weg weiter gewiesen haben.
Es war ein Experiment. Es ist gelungen — aber ich — ich
zahle dafür einen hohen Preis: mein Leben. Trotz alledem: Jenkins ist
ein
Gentleman. Er hat mir großmütig freigestellt, Dir diese Zeilen zu
schreiben.
Und er hat mir meinen Revolver gelassen . . .
Punkt halb zwei wird Mr. Jenkins hereinkommen. Eben holt
die Kirchturmuhr zum Schlage aus.
Lebe wohl. Verzeihe
Deinem Kurt.
Nachschrift.
Eben ist der Schuß gefallen . . .
Ich übermittle Ihnen den Brief des Toten, seine Uhr und
sein Bild. Ich will dafür sorgen, daß sein Andenken ohne Schatten
bleibt.
Niemand soll erfahren, warum er starb. — Verzeihen Sie auch mir. Aber
ich tat
meine Pflicht. — Gott weiß es, wie schwer sie mir geworden ist.
Joe Jenkins.
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