„Mr.
Joe Jenkins, der Privatdetektiv?“
„Der bin ich.“
Der Besucher trat näher. Er schien
einen eiligen Weg
hinter sich zu haben, denn er war außer Atem und vollkommen erschöpft.
— „Ich
habe von Ihren außerordentlichen Fähigkeiten gehört, Mr. Jenkins“,
begann er
mit sichtlicher Mühe. Seine Worte kamen abgerissen hervor, er zitterte
am
ganzen Körper. Der Sprechende machte den Eindruck eines Kranken, oder
eines
Menschen, dem irgend etwas eine qualvolle Angst einflößte.
„Ich muß Sie um Verzeihung bitten,
Mr. Jenkins,“ fuhr er
fort, daß ich frühmorgens um 7 Uhr bei Ihnen eindringe. Aber was ich
diese
Nacht erlebt habe, zwingt mich dazu. Es läßt mir keine Ruhe. Ich wohne
im
äußersten Osten von Paris, in der Rue St. Fargenau im 20.
Arrondissement, und
ich habe den Weg zu Ihnen in drei Stunden zu Fuß zurückgelegt. Sie
müssen mir
helfen, Mr. Jenkins, ich bitte Sie darum.“
„Warum wenden Sie sich nicht an die
Polizei?“
„Was ich erlebt habe, ist derart
beschaffen, daß jemand,
der nicht ein wenig tiefer in die Dinge zu blicken vermag, vielleicht
sich kaum
etwas dabei denken wird. Es sind keine eigentlichen Tatsachen, die ich
berichten kann. Und doch habe ich das Gefühl, daß ich in unmittelbarer
Lebensgefahr schwebe.“
„Seit wann haben Sie dies Gefühl?“
„Seit heute nacht. Und darum komme
ich zu Ihnen, Mr.
Jenkins. Vielleicht können Sie den Schleier lüften, der über den
Ereignissen
liegt, die mir widerfahren sind, und die mich nun in Angst und Unruhe
versetzen.“
„Nun,“ sagte Mr. Jenkins ermutigend,
„beruhigen Sie sich.
Vorläufig sind Sie bei mir in Sicherheit. Machen Sie es sich bequem.
Trinken
Sie eine Tasse Tee mit mir?“
Das übernächtigte Gesicht des Mannes
schien
aufzuleuchten. „Danke, ja.“
„Einen Augenblick!“ Mr. Joe Jenkins
verließ das Zimmer,
um einige Anweisungen in der Küche zu geben, kurz darauf trat der
Diener mit
dem japanischen Teeservice ein. Der Detektiv stellte die Tassen hin und
fragte,
indem er den Tee einschenkte: „Mit wem habe ich übrigens die Ehre?“
„Verzeihung,“ sagte der andere mit
einem schwachen
Lächeln, „ich habe das Nächstliegende vergessen. Mein Name ist Francois
Sabin.
Ich bin der technische Leiter einer Stuhlfabrik. Meine Wohnung in der
Rue St.
Fargeau liegt auf dem Grundstück der Fabrik. Das Haus, das ich bewohne,
liegt
unmittelbar an der Straße, dahinter, durch einen nicht großen Hof
getrennt,
befindet sich die Fabrik.“
„Sind Sie verheiratet?“
„Ja. Indessen weilt meine Frau
zurzeit mit unserem Kinde,
einem fünfjährigen Mädchen, zu Besuch bei ihren Eltern in Marseille.
Daher
schlafe ich momentan in meinem Hause allein.“
„Wie groß ist Ihr Haus?“
„Es besteht aus dem Erdgeschoß und
einer Etage. Das
Parterre hat drei, der erste Stock vier Zimmer. Mein Schlafzimmer liegt
zu
ebener Erde, daneben mein Arbeitszimmer mit dem Telephon. Dies Telephon
ist
eine Nebenstelle unserer Fabriktelephonleitung. Wenn ich abends um 7
Uhr die
Fabrik verlasse, schalte ich das Telephon nach meiner Wohnung um; es
kommt
gelegentlich vor, daß noch nach Feierabend irgendein Kunde anruft, um
eine
eilige Bestellung aufzugeben.“
„Geschieht dies oft?“ fragte der
Detektiv. — Letzte Nacht
nun hat sich etwas ereignet, was mich um so mehr mit Schrecken, ich
kann wohl
geradezu sagen, mit Grauen erfüllt, als ich den Zusammenhang der Dinge
nicht
begreife.“
„Hängt dies Erlebnis mit dem
Telephon zusammen?“
„Ja. Wie gewöhnlich ging ich gestern
abend um ½ 12 Uhr
schlafen. Ein paar Freunde hatten mich besucht und ein Gläschen Wein
bei mir
getrunken. Etwa um 11 Uhr hatte ich noch einen Rundgang durch die
Fabrik
gemacht und alles in Ordnung gefunden. Das Telephon war, wovon ich mich
noch
besonders überzeugt hatte, ordnungsmäßig nach meiner Wohnung
umgestellt.“
„Wo waren Ihre Freunde, während Sie
die Fabrik
inspizierten?“ — „Sie blieben im Eßzimmer einen Augenblick allein. Es
sind
alterprobte, gute Freunde, übrigens wohlhabende Leute.“
„Gut, weiter.“
„Nachdem ich zurückgekehrt war,
verabschiedeten sich
meine Freunde bald. Ich schloß das Haus ab und ging schlafen. Ich habe
die
Angewohnheit, eine Nachtlampe zu brennen. Eine einfache Öllampe, die
ein
schwaches Licht gibt, gerade hell genug, um das Zimmer notdürftig zu
beleuchten. Damit mir das Licht der Lampe nicht direkt ins Gesicht
fällt und
mich dadurch am Schlafen hindert, pflege ich einen Gegenstand
davorzustellen,
und zwar benutze ich dazu meine Wasserkaraffe mit dem darübergestülpten
Glas.
Hinter diese Karaffe stelle ich, wie gesagt, die Öllampe. Ich erzähle
Ihnen dies
absichtlich ganz ausführlich. Warum, werden Sie nachher sehen.
Es war ungefähr zehn Minuten nach 3
Uhr in der Nacht, als
ich davon aufwachte, daß in meinem Arbeitszimmer nebenan laut und
schrill das
Telephon klingelte. In meiner Schlaftrunkenheit begriff ich zunächst
nicht,
woher der Klang kam. Ich richtete mich im Bette auf, das Klingeln
wiederholte
sich. Vollkommen munter geworden, sprang ich aus dem Bett und lief ins
Nebenzimmer, hob den Hörer ab und nannte meinen Namen. Unmittelbar
darauf
antwortete eine hohe, anscheinend weibliche Stimme, augenscheinlich in
furchtbarer Angst, denn die Stimme klang schrill, und die Worte
überstürzten
sich.
‚Fliehen Sie, um Gottes willen!
Man
will . . .‘
Und hier brach die Stimme ab. Ich
versuchte sofort, eine
neue Verbindung herzustellen; es gelang nicht. Das Amt meldete sich
überhaupt
nicht. Etwa fünf Minuten lang versuchte ich alles mögliche, klingelte,
schrie
in den Apparat hinein. Vergebens. Die Resonanz des Telephons war, wie
ich bald
feststellte, vollkommen aufgehoben, das Telephon sozusagen taub. Daraus
ersah
ich . . .“
„Was ersahen Sie daraus?“ fragte der
Detektiv langsam.
„Daraus ersah ich, daß jemand das
Telephon umgeschaltet
haben mußte. Und dies konnte nur von der Zentrale in der Fabrik aus
geschehen
sein.“
„Was taten Sie darauf?“
„Einen Augenblick stand ich wie
betäubt. Was konnte
dieser Ruf in der Nacht zu bedeuten haben? Wer hatte ein Interesse
daran, mich
zu warnen? Ich beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich bin ein
Mann,
der sich nicht leicht fürchtet, Mr. Jenkins. Das Telephon war
abgestellt
worden. das konnte nur vom Fabrikkontor aus geschehen. Folglich mußte
jemand in
der Fabrik gewesen sein.
Ich zog mich notdürftig an, nahm
meinen Revolver in die
Hand und ging zur Fabrik hinüber. Es war eine kühle, etwas trübe
Sommernacht.
Der Mond hatte sich hinter den Wolken verkrochen, und die Gegenstände
auf dem
Hof waren nur undeutlich zu erkennen. Die Fabriktür war verschlossen,
wie
immer. Ich schloß auf und trat ein. Das Fabrikkontor lag ebenfalls
genau so,
wie ich es verlassen hatte. Ich ging langsam in den Hintergrund des
Zimmers, in
dem das Telephon hängt: es war umgestellt worden. Die Verbindung mit
meiner
Wohnung war unterbrochen.“
„Wissen Sie genau, daß Sie es an
jenem Abend nach Ihrer
Wohnung umgeschaltet hatten?“
„Ganz genau. Schon deshalb, weil
einer meiner Freunde von
meiner Wohnung aus seine Frau an telephoniert hatte.“
„Was fanden Sie weiter?“
„Zunächst nichts. Ich rief sofort
das Amt an. Wie Sie
wissen, Mr. Jenkins, werden alle Nachtgespräche genau registriert wegen
der
Gebühren. Ich fragte also beim Amt an, von welcher Nummer aus ich vor
einer
Viertelstunde angerufen sei. Das Amt erklärte mir hierauf mit
Bestimmheit,
niemand habe meine Nummer angerufen. Ich stand zunächst vor einem
Rätsel.“
„Können“, fragte Mr. Jenkins,
„Wohnung und Fabrik
untereinander telephonieren?“
„Ja.“
„Der Ruf kam also“, sagte Mr.
Jenkins ruhig, „aus dem
Fabrikkontor?“
„Es kann nicht ander sein“, erklärte
Herr Sabin.
„Nachdenklich ging ich in meine
Wohnung zurück, immer den
Revolver im Anschlag. Nichts Verdächtiges war zu entdecken, fast hätte
man
alles für einen Traum halten können, wenn nicht . . .“
„Geschah noch etwas in dieser Nacht?“
„Ja. Ich leuchtete in meinem Hause
alle Ecken ab, nichts
regte sich. Dann legte ich mich wieder ins Bett, mehr um mich zu
wärmen, als um
zu schlafen — denn der Schlaf war mir vorläufig vergangen. Als ich eben
im Bett
lag, bemerkte ich plötzlich einen Umstand, der mir den sicheren Beweis
gab — so
unbedeutend es an sich erschien — daß jemand dagewesen sein mußte.“
„Was bemerkten Sie?“ fragte Mr.
Jenkins mit unverhohlenem
Interesse.
„Wie ich Ihnen schon sagte, Mr.
Jenkins, pflege ich über
Nacht eine Öllampe zu brennen und vor diese eine Karaffe mit
darübergestülptem
Glas zu stellen. Die Karaffe stellte ich derart, daß sie das Licht
auffängt,
also zwischen mir und der Lampe steht. Ich kann anders nicht
einschlafen. Als
ich wieder im Bett lag, traf mich plötzlich der volle Lichtschein. Kein
Zweifel: die Karaffe stand etwa vier bis fünf Zentimeter weiter nach
links als
zuvor. Sie war verschoben worden. Irgend jemand mußte entweder die
Karaffe oder
die Öllampe in der Hand gehabt haben.
Als ich dies sah, stand ich wieder
auf, denn nun war ich
unruhig geworden. Ich blickte aufmerksam im Zimmer umher und ging
darauf ins
Nebenzimmer. Da fiel mein Blick auf etwas Weißes, daß ich zuvor nicht
bemerkt
hatte. Offenbar hatte es vorher noch nicht dagelegen. Ich hob es auf;
es war
ein Zettel mit einem unverständlichen Inhalt. Hier ist er: Ich weiß
zwar nicht,
ob er in irgendeiner Beziehung zu dem nächtlichen Vorfall steht, gewiß
ist
aber, daß ich ihn nicht geschrieben habe. Von dem Zettel ist, wie Sie
sehen,
eine Ecke abgerissen.“
Der Detektiv nahm aus seinem
Schreibtisch eine Linse und
betrachtete aufmerksam den Zettel mit den seltsamen Worten, die wie
folgt
lauteten:
Tfk . ifvuf . obd
2 . Vis. avs
Hfme . mkfhu
Pgfo . Mbo
Der Detektiv war bald in den Inhalt
der Botschaft vertieft
und schüttelte mehrmals den Kopf.
„Es ist nicht zu verstehen“ erklärte
der Besucher.
„Ich habe mir schon alle erdenkliche
Mühe gegen.“
„Was taten Sie, als Sie diesen
Zettel gefunden hatten?“
„Ich kleidete mich in aller Hast an
und verließ das Haus.
Zu Fuß bin ich dann durch ganz Paris gewandert, um schließlich um 7 Uhr
hier
bei Ihnen anzulangen. Was halten Sie von der Sache, und was raten Sie
mir zu
tun, Mr. Jenkins?“
Der Detektiv hatte die letzten Worte
seines Gastes kaum
mehr gehört. Er hatte sich über das Stück Papier mit dem seltsamen Text
gebeugt
und machte allerhand Aufzeichnungen in sein Buch, die er von Zeit zu
Zeit mit
dem Inhalt des Zettels verglich. Eine längere Pause entstand, während
der Mr.
Joe Jenkins ununterbrochen schrieb, wobei er mehrere mal den Kopf
schüttelte.
Endlich blickte er auf.
„Ist Ihr Haus am Tage bewacht, Herr
Sabin?“
„Ja. Meine Haushälterin kommt
frühmorgens und geht abends
um 8 Uhr wieder fort.“
„Gut. Der Brief, den Sie mir hier
gebracht haben, ist
offenbar von größter Wichtigkeit. Wahrscheinlich wird er die Lösung des
Rätsels
enthalten. Leider habe ich die chiffrierte Schrift bis zu dieser Minute
nicht
enträtseln können. Sie müssen mir den Brief dalassen. Ich denke, in
einigen
Stunden werde ich ihn lesen können. Gehen Sie jetzt ruhig nach Hause,
Herr
Sabin. Am Tage wird nichts passieren. Dagegen kann ich Ihnen für die
Nacht mit
ziemlicher Bestimmtheit neue Ereignisse in Aussicht stellen. Bewahren
sie während
der Nachtzeit Geschäftsgeld oder private Summen im Hause oder in der
Fabrik
auf?“
„Nein. Höchstens ganz unbedeutende
Beträge. Die
eingegangenen Gelder bringe ich jeden Nachmittag zur Bank. Dieser Modus
besteht
allerdings erst seit drei Wochen. Früher war es anders, da hatten wir
ständig
große Summen im Hause. Bis eines Tages mein Kollege, der kaufmännische
Leiter
unserer Fabrik, bei einer Revision einen Fehlbetrag von 35 000 Franken
in
seiner Kasse hatte. Das Geld müsse ihm gestohlen sein, erklärte er; er
habe
keine Ahnung, wie das Defizit zustande gekommen sei.“ — „Wurde er zur
Verantwortung gezogen?“
„Nein. Herr Lancon wurde entlassen,
von einer Anzeige
nahm man Abstand.“
„Haben Sie Ihren Kollegen nach der
Entlassung
wiedergesehen?“
„Ja. Einmal. Vor etwa drei Tagen
besuchte er mich; es war
am 21. August, kurz nach 7 Uhr abends. Er erklärte, er habe in einer
Ofenfabrik
eine gute Stellung gefunden, er interessierte sich augenscheinlich sehr
für
seine neue Tätigkeit. Er erklärte mir mit großem Eifer verschiedene
patentierte
Ofenkonstruktionen seiner neuen Firma.“
Der Detektiv sah Herr Sabin
aufmerksam an. „In welcher
Weise erläuterte Ihnen Herr Lancon die Konstruktionen?“
„Er öffnete die Türen des
Kachelofens, der in meinem
Schlafzimmer steht, ließ mich hineinblicken, und zeigte mir die
Abweichungen
seiner Öfen von der Einrichtung des meinigen: den Bau der Züge und den
Weg der
Heizgase.“
Der Detektiv erhob sich. „Ich werde
im Laufe des Abends
bei Ihnen sein. Wann, kann ich Ihnen noch nicht genau sagen. Jedenfalls
seien
Sie ganz unbesorgt: im Augenblick der Gefahr bin ich zur Stelle. Welche
Nummer
wohnen Sie?“
„Rue St, Farbenau Nr. 176“
„Sollte sich im Laufe des Tages
irgend etwas ereignen, so
geben Sie mir telephonisch Nachricht. Seit wann sind Sie übrigens aus
den
Tropen zurückgekehrt?“
Der Direktor starrte den Detektiv
sprachlos an.
„Sie waren doch augenscheinlich
längere Zeit im fernen
Osten? Ich vermute, in Indien?“
„Ich war in der Tat in Tongking . .
.“ stammelte der
Besucher, „ . . . aber . . .woher. . .“
„Nun, ich sehe an Ihren Händen
Flecke, die offenbar die
Merkmale einer überstandenen schweren Malaria sind. Sind Sie geheilt?
Nehmen
Sie Chinin?“
Der Techniker sah Mr. Jenkins mit
einem fast
ehrfürchtigen Lächeln an. „Das ist großartig“, murmelte er. „Ich bin so
gut wie
geheilt. Zur Vorsicht nehme ich noch hin und wieder etwas Chinin . . .
Also bis
auf heute abend . . . Adieu.“
* *
*
Als Herr Sabin im 8 Uhr desselben
Tages beim Abendessen
saß, ertönte die Entreeglocke. Er öffnete, und auf der Schwelle stand
Mr. Joe
Jenkins, der mit ruhigem Lächeln eintrat.
„Haben Sie etwas entdeckt, Mr.
Jenkins?“
„Wo ist Ihr Schlafzimmer, Herr
Sabin?“ war die schnelle Gegenfrage
des Detektivs, der eilig den Korridor durchschritt. „Ich möchte den
Ofen sehen,
an dem Ihr früherer Kollege, Lancon, Ihnen die Konstructionen
demonstrierte.“
Sehr erstaunt schritt ihm der
Direktor voran und öffnete
die Tür, nahm den Rost heraus und untersuchte sorgfältig den verkohlten
Inhalt,
der sich während des Sommers ziemlich angehäuft hatte. Das untersuchte
Material
schüttetete er auf den Fußboden, worüber sich Herr Sabin nicht wenig
wunderte.
Plötzlich kam ein kleines Kästchen zum Vorschein, das Mr. Jenkins mit
einem
Ausruf der Befriedigung von seiner Umschnürung befreite und öffnete.
„Und hier,
Herr Sabin, übergebe ich Ihnen die fünfunddreißigausend Franken, die
Ihr
Kollege, Herr Lancon vor drei Wochen unterschlagen hat!“
Der Techniker sah mit weitgeöffneten
Augen bald auf das
Geld, bald auf den Detektiv. „Und wie kommt dieses Geld in meinen
Ofen?“ fragte
er schließlich mit vor Erregung heiserer Stimme.
„Nun,“ sagte Mr. Jenkins ruhig, „das
ist ziemlich
einfach. Als Herr Lancon das Geld an sich nahm, war er sich keineswegs
sicher,
ob man ihn nicht verhaften lassen würde. Dann hätte man eine
Haussuchung bei
ihm vorgenommen, und seine Behauptung, er wisse nicht, wohin das Geld
gekommen
sei, wäre natürlich in sich zusammengefallen — denn man hätte das Geld
wahrscheinlich bei ihm gefunden. Um dies zu vermeiden, wählte er ein
Versteck
für das Geld. Daß Ihre Öfen im Sommer nicht geheizt werden, war ihm
natürlich
bekannt. Vielleicht haben Sie sogar die Gewohnheit, in Ihrem
Schlafzimmer
überhaupt nicht, auch nicht im Winter zu heizen?“
„Allerdings. Ich halte es für
besser, kalt zu schlafen.“
„Nun, das wußte Ihr Kollege, und
darum wählte er den Ofen
Ihres Schlafzimmers. Vermutlich hatte er ungehinderten Zutritt zu Ihrer
Wohnung?“
„Als Kollege, natürlich. Er war
häufig bei mir.“
„Eines schönen Tages versteckte er
also das Geld bei
Ihnen, um dann bei der Revision zu erklären, er wisse nicht, wohin es
gekommen
sei. Wahrscheinlich hat er die Absicht gehabt, einen Moment abzuwarten,
in dem
Sie das Haus allein lassen würden, um alsdann das Geld zu holen.
Durch diese Rechnung haben Sie ihm
offenbar einen Strich
gemacht, indem Sie wahrscheinlich die Wohnung überhaupt nicht
unbeaufsichtigt
gelassen haben.“
„In der Tat. Ich bin in letzter Zeit
überhaupt nicht
ausgegangen, und am Tage war meine Wirtschafterin da.“
„Hierdurch nervös gemacht, hat sich
Ihr ehemaliger
Kollege entschlossen, Ihnen eine Besuch abzustatten. Dabei hat er sich
unter
einem recht geschickten Vorwand am Ofen zu schaffen gemacht. Offenbar
immer in der
Hoffnung, Sie würden ihn einen Augenblick allein lassen. Diese Hoffnung
hat ihm
betrogen, und nun hat er sich zum Äußersten entschlossen: er hat in
letzter
Nacht bei Ihnen eingebrochen.“
„Warum aber“, fragte Herr Sabin,
„hat er den
umständlichen und zeitraubenden Umweg über das Fabrikkontor gewählt?
Dort war
doch das Geld nicht!“
„Nein. Aber etwas anderes war dort:
die Telephonzentrale.
Herr Lancon mußte damit rechnen, daß Sie telephonisch Hilfe herbeirufen
würden,
sobald Sie etwas Verdächtiges hören oder wahrnehmen würden. Das mußte
er
verhüten. Darum drang er zunächst in das Fabrikkontor ein und stellte
das
Telephon um. Dadurch waren Sie von der Außenwelt abgeschnitten.“
„Aber“, sagte der Direktor leise und
faßte sich mit der
Hand an den Kopf, „woher wissen Sie das alles? Den Schatz im Ofen? Herr
Lancon
der Täter?“
„Nun!, entgegnete Mr. Jenkins, „der
Zettel!“
„Der Zettel in Chiffreschrift? Den
ich Ihnen übergeben
habe?“
„Nun ja. Sehen Sie sich ihn nochmals
genau an. Hier ist
er:
Tfk . ifvuf . obd
3.
Vis. avs
Hfme
. mkfhu
Pgfo
. Mbo
Was fällt Ihnen an diesem Zettel
auf?”
Herr Sabin sah den Zettel sinnend an
und sagte schließlich:
„Nichts. Ich verstehe den Inhalt absolut nicht.“
„Nun, es gibt ein Zeichen auf diesem
Zettel, das
verständlich ist. Das ist die Zahl ‚3‘. Hiervon ging ich aus. Sie
werden sich
erinnern: Sie sagten mir, das Telephon habe in der Nacht um zehn
Minuten nach 3
Uhr geklingelt. Die Vermutung lag also nahe, daß die Zahl ‚3‘ auf dem
Zettel
sich auf die Tageszeit bezog. Dann bedeutete das Wort dahinter
wahrscheinlich
‚Uhr‘, und dies um so wahrscheinlicher, als das betreffende Wort in der
Tat aus
drei Buchstaben besteht. Das Wort hinter der Zahl ‚3‘ aber lautet
‚Vis‘.
Vergleichen Sie es mit dem Worte ‚Uhr‘. Was fällt Ihnen daran auf?“
„Ich bin zu erregt, Mr. Jenkins, um
nachdenken zu
können.“ — „Also, sehen Sie her:
Uhr gleich Vis, das heißt:
U gleich V
H gleich I
R gleich S
Mit anderen Worten, der
Briefschreiber hat jedesmal für
den betreffenden Buchstaben den im Alphabet darauffolgenden gesetzt.
Ich stelle
also den Buchstaben jedesmal um einen zurück — ‚A‘ bedeutet offenbar
‚Z‘ — und
gelangte so zu folgender Übersetzung:
Tfl . ifvuf . obd
Sei heute nac. .
3 Vis . avs
3 Uhr zur. . . .. .
Hfme . mkfhu
Geld liegt . . . .
Pgfo . Mbo
Ofen. Lan . . .
Die Botschaft lautet also:
‚Sei heute nach . .
3 Uhr . . . Stelle. Geld liegt . . . Ofen. Lan.‘
Die Unterschrift kann man wohl ohne
weiteres in ‚Lancon‘
ergänzen und auch die durch das Abreißen der Ecke abgetrennten Silben
sich
leicht hinzudenken. Der Brief war offenbar von dem Defraudanten an
einen Komplicen
gerichtet und lautete:
‚Sei heute nacht 3 Uhr zur Stelle.
Das Geld liegt im
Ofen.‘
Und nun, Herr Sabin, denke ich, Sie
bringen diese Nacht
bei mir zu. Denn es dürfte ein wenig aufregend werden, und viel Schlaf
würden
Sie wohl nicht bekommen. Meine Leute sind an mehreren Stellen der
Straße
verteilt und werden die Herren Einbrecher im Laufe der Nacht liebevoll
in
Empfang nehmen, das Geld nehmen wir mit uns und liefern es morgen früh
Ihrem
Chef ab. Also kommen Sie.“
Der Direktor legte Hut und Mantel
an, als ihm plötzlich
etwas einfiel.
„Aber, der Warnruf?“ fragte er. „Der
Ruf in der Nacht . .
.“
„Der Ruf in der Nacht . . .,“
wiederholte Mr. Jenkins, .
. . das ist eigentlich das einzige bei der Sache, was ich im Augenblick
nicht
völlig erklären kann. Es sind zwei Versionen, die mir durch den Kopf
gegangen
sind. Herr Lancon hat, wie wir wissen, einen Komplicen gehabt. Möglich,
daß
dieser andere einen Moment allein im Fabrikkontor blieb und in der Tat
Sie
warnen wollte. Warnen vor einem Feind, der zum Äußersten,
gegebenenfalls zu
einem Mord, entschlossen war. Wahrscheinlicher scheint mir jedoch, daß
dieser
Ruf in der Nacht eine Finte war.“
„Eine Finte? Und was hätte die
bezwecken sollen?“
— „Sie aus Ihrer Wohnung
fortzulocken.“
„Trotzdem aber hat man das Geld
nicht genommen!“
— Weil Sie zu schnell zurückgekommen
sind. Offenbar haben
sich die Einbrecher eben an die Arbeit begeben wollen und zu diesem
Zwecke Ihre
Öllampe in die Hand genommen, als sie Sie zurückkehren hörten und
schleunigst
fliehen mußten. Vermutlich haben sie sogar gesehen, daß Sie einen
Revolver in
der Hand trugen und haben deshalb das Spiel — vorläufig — aufgegeben,
mit der
Absicht, heute nacht wiederzukommen.“
Die beiden Herren traten auf die
Straße. „Und Ihr
Honorar?“ fragte der Direktor, noch fast betäubt.
„Nun“,
sagte Mr. Jenkins und lachte, „ich denke, Ihr Chef
wird mit Vergnügen einen guten Finderlohn zahlen, wenn ihm morgen 35000
Franken
vom Himmel fallen!“