|
|
|
|
|
lifedays-seite
moment
in time
|
|
|
04.3
Am Kamin
Paul Rosenhaym
Die Stunde des Erkennens
aus: Bibliothek der Unterhaltung
und des Wissens
______________________________
Die Stunde des Erkennens
Als
Doktor Carraveau das graue Gebäude verließ, gingen
schon die ersten Schatten über die Dächer. Der Kutscher grüßte höflich;
aber
nur mit zerstreutem Nicken dankte der Verteidiger und stieg in den
Wagen.
Morgen war das Urteil zu erwarten.
Doktor Carraveau schloß die Augen und lehnte sich mit
einem nervösen Seufzer in das Polster zurück. Die Sache stand schlecht.
Eine
junge Frau hatte ihren Mann getötet, aus einem Grund, den menschlicher
Verstand
kaum ergründen konnte; beide jung, reich, kinderlos und in den
glücklichsten Verhältnissen.
Die ersten Juweliere der Stadt sprachen beinahe mit Andacht von diesem
Manne,
als sie Zeugnis ablegten von den Geschenken, mit denen er seine Frau
überschüttet hatte. Kein Grund – weiß Gott. Und dennoch:
unzweifelhafter,
eindeutiger Mord.
Gegen acht Uhr abends hatte der Diener eine erregte
Unterhaltung zwischen den Eheleuten gehört. Eine Tür war krachend
zugeschlagen
worden: der Herr hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Gleich
darauf
war der Diener aus dem Haus gegangen. Als er an der Villa vorüberging,
flammte
das Licht auf; er sah noch, wie sein Herr am Schreibtisch in Papieren
kramte.
Fünf Minuten nach Mitternacht war der Diener
zurückgekehrt; das Haus in der schweigenden Villenstraße war völlig
dunkel. Eben
schloß er die Gittertür auf, als ein Schrei aufgellte. Diese Stimme
kannte er.
Der Herr lag regungslos auf dem hellen Perserteppich aus
der Brust floß dunkles Blut. Neben dem starren Körper blitzte eine
dolchartige
Waffe im Scheine des Glühlichts: der Brieföffner vom Schreibtisch. Zu
Häupten
des Toten aber kauerte mit irren Augen die junge Frau. . . .
Der Wagen fuhr langsam; ein paar Menschen blickten durch
das offene Fenster. Jemand grüßte. Der Verteidiger sah es deutlich: in
diesem
Gruße lag ein gewisses Bedauern, fast Mitleid. Mitleid mit dem
Erfolglosen. Er
lächelte bitter. Ja, ja – die Dinge standen schlecht. Alle Spuren,
denen die
Untersuchung nachging – zögernd zuerst – widerstrebend – ungläubig –
alle
Spuren liefen irgendwo zusammen in einem einzigen Punkt, in dem sie
sich
verknoteten wie zu einem Netz. Hinter diesen Fäden, die sich mehr und
mehr
verdichteten, tauchte, schemenhaft zuerst, wie die schweigende Nacht
selbst,
die diese dunkle Tat in ihre schweren Schatten hüllte, dann aufdämmernd
wie
durch graue Nebel, der blonde Kopf einer jungen Frau empor.
Der Wagen hielt vor dem nüchternen Bürohaus. Schwerfällig
erhob sich der Rechtsanwalt und ging mit gesenktem Kopf über das
Trottoir.
Die junge Frau leugnete. Sie war die einzige, die man der
Tat bezichtigen konnte. Niemand hatte das Haus betreten, niemand es
verlassen –
so lautete die Aussage der Mädchen. Dann sagte die junge Frau, das sei
ein
Irrtum. Kurz nach neun Uhr sei jemand gekommen – ein Fremder, den ihr
Mann
offenbar erwartet hatte, denn er selbst hatte ihn hereingelassen. Sie
konnte
nicht sagen, wie der Besucher ausgesehen haben mochte; sie hatte einen
belanglosen Zank mit ihrem Manne gehabt und sich schmollend in ihr
Zimmer
zurückgezogen. Die Unterhaltung zwischen den beiden Männern war
ziemlich
lebhaft gewesen – fast, als ob der Fremde eine Forderung gestellt habe,
die ihr
Gatte ablehnte. Eine halbe Stunde später habe der Besucher das Haus in
polternder Erregung wieder verlassen.
Der Besuch konnte zeitlich für den Mord nicht in Frage
kommen. Und doch – hier schimmerte eine Hoffnung auf. Der Verteidiger
hatte auf
der Stelle eingegriffen. Wie nun, wenn jener Abgewiesene im Dunkel der
Nacht
zurückgekehrt wäre? Die Gitter waren niedrig, das Arbeitszimmer lag im
Erdgeschoß. Wie nun, wenn er mitten in der Nacht wieder aufgetaucht
wäre – um
seine Forderung drohend zu wiederholen? Um sich zu rächen? Alle
Nachforschungen
nach dem Unbekannten waren vergeblich gewesen. Und Schritt für Schritt
mußte
der Verteidiger vor den unerbittlichen Tatsachen der Anklage
zurückweichen.
Doktor Carraveau betrat das Sprechzimmer unmittelbar
durch den Flureingang und knipste die Lampe ein.
“Etwas von Bedeutung?”
Der Bürovorstand nickte: “Ein Herr wartet. Seit zwei
Stunden.”
“Wichtig?“fragte der Rechtsanwalt zerstreut.
Jener zuckte die Achseln: „In der Mordsache.“
Der Doktor blickte auf. „Ich lasse bitten.“
Der Eintretende, über den der warme Schimmer des
Deckenlichtes spielerisch glitt, war ein vornehm aussehender Mann, der
am Ende
der Dreißiger stehen mochte.
Doktor Carraveau blickte auf die Karte: Franz Severin
stand darauf, nichts weiter. Dann sah er den Besucher erwartungsvoll an
und
wies mit einer leichten Verbeugung auf den Sessel.
Der Fremde dankte mit höflichem Lächeln für die
Aufforderung und blieb stehen: „Ich war gestern und heute im
Schwurgerichtsaal,“
begann er mit ruhiger, fast leiser Stimme.
Der Verteidiger nickte und sah ihn fragend an.
„Ich habe Sie reden gehört, Herr Doktor Carraveau,“ fuhr
jener fort, „und ich muß Ihnen gestehen: ich erhielt einen seltsamen
Eindruck.“
“Einen seltsamen Eindruck?“ wiederholte der Rechtsanwalt
fragend. Er runzelte, fast unwillkürlich, die Brauen unter dem
forschenden
Blick, der unausgesetzt auf ihm ruhte: “Einen seltsamen Eindruck?“
„Ja. Rund heraus: ich habe das Gefühl, Herr Doktor
Carraveau – nein, ich weiß es bestimmt: Sie glauben nicht an die
Unschuld Ihrer
Klientin.“
Der Verteidiger erhob sich langsam von seinem Sitz und
sah den Fremden durchdringend an: “Woher wollen Sie dies wissen?“
fragte er
kühl.
“Ihren Worten fehlt die überzeugende Kraft, jene
hinreißende Beredsamkeit, die sich mit Notwendigkeit einstellen muß,
wenn die
innerste Überzeugung spricht. Sie halten Ihre Klientin für schuldig,
Herr
Doktor, und darum ist jedes Wort, das Sie sprechen, verloren. Sie tun
Ihre
Pflicht, zweifellos – und niemand kann Sie tadeln. Aber Sie mögen für
diese
Frau sprechen, soviel Sie wollen – es wird Ihnen nicht gelingen, zu
überzeugen
– aus dem einfachen und einzigen Grunde, weil Sie selbst nicht
überzeugt sind.
Und darum – als ehrlicher Mann werden Sie das nicht bestreiten – darum
ist das
›Schuldig‹ sicher.«
Der Rechtsanwalt preßte die Lippen aufeinander: „Und der
Grund Ihres Besuches, Herr Severin?“ fragte er langsam.
Der andere ließ sich in den Sessel nieder und sah dem
Doktor ins Gesicht: “Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, den Sie
vielleicht seltsam finden werden,“ sagte er ein wenig zögernd – „allein
– es
handelt sich hier um ein Menschenleben, um das Leben eines jungen,
schönen,
blühenden Menschen. Ich war, ich sagte es schon, im Gerichtsaal.
Gestern und
heute. Ich habe Ihrer Klientin in die Augen gesehen. Und ich weiß es
gewiß:
diese Frau ist unschuldig.”
Der Doktor nickte und lehnte sich nervös zurück.
“Diese Frau ist unschuldig. Und damit komme ich zu dem
Zweck meines Besuches. Ich bin Jurist; man hat mich sogar vor einigen
Jahren
einmal hier angenommen. Aber ich habe meinen Beruf niemals im Ernst
ausgeübt.
Ich bin reich und unabhängig, mein Vermögen gestattet mir, zu leben wie
ich
will und wo ich will – zu helfen und zu verteidigen, wo Hilfe nottut –
anzuklagen, wo Schuld ist. Und darum mache ich Ihnen das Anerbieten,
Herr
Doktor: lassen Sie mich an Ihre Stelle treten, lassen Sie mich die
Verteidigung
Ihrer Klientin übernehmen. Lassen Sie meine Überzeugung an die Stelle
Ihrer
Pflichterfüllung treten. Lassen Sie meine Beredsamkeit, die aus heißem
Herzen
kommt, vor den Schranken des Gerichts für das Leben jener Frau
kämpfen.”
Der Doktor hob den Blick: „Ich will von allem
Gefühlsmäßigen absehen,“ begann er, langsam mit wärmerem Ton, „wir sind
Männer
– von gekränkter Eitelkeit, von Berufstolz und dergleichen kann hier
nicht die
Rede sein. Es handelt sich um ein Menschenleben. Ich werde Ihren
Vorschlag
meiner Klientin mitteilen; sie selbst mag entscheiden.”
„Ich wüßte etwas Einfacheres,“ warf der Besucher ein. „Lassen
Sie uns gemeinschaftlich die Frau aufsuchen. Sie soll mich sehen – ich
will sie
sehen. Es wird Ihnen nicht schwer werden, die Erlaubnis zu einer
Unterredung zu
erhalten, wenn Sie ihren Zweck nennen.”
Der Doktor erhob sich: “Gut,“ sagte er kurz. „Wir werden
zu zweit gehen.“
Der Fall der Frau Felizie Wahl hielt die Mittelstadt in
einem Wirbel der Erregung. Die Unbegreiflichkeit dieses seltsamen
Mordes, den
ein Mensch, den niemand gesehen hatte, zwecklos, grundlos und sinnlos
im
undurchdringlichen Dunkel der Nacht begangen hatte, machte den
grausigen Fall
nur um so mehr zum Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die
Meinungen
waren geteilt. Würden unter den Männern Stimmen des Mitleids, des
Zweifels an
der Schuld der schönen jungen Angeklagten laut – die Frauen waren wie
immer die
Feinde ihres eigenen Geschlechts. Im innersten Herzen hatte wohl
ursprünglich
niemand gewagt, der blonden Felizie eine solche Tat zuzutrauen. Erst
als die
Nachforschungen tastend und wägend Schritt für Schritt einem
unerwarteten Ziel
näher krochen, setzte eine atemlose Beklemmung ein, und tausend Augen
starrten
auf das Dunkel, das langsam Gestalt anzunehmen begann. Die Spannung
wuchs von
Tag zu Tag. Durch diese fiebernden Hirne zitterten die
widerstreitendsten
Gefühle: Ungläubigkeit, Mitleid, Haß, staunendes Nichtverstehen. Und
dann
schwirrte plötzlich ein neuer Name durch die Luft – eine neue Erregung.
An dem Tage, an dem Franz Severin, der Unbekannte, an
Stelle des Verteidigers schützend vor die Angeklagte trat, steigerte
sich die
allgemeine Spannung aufs äußerste. Das Gebäude war dicht umlagert, und
die
drückende Luft, die über dem kleinen Saal lag, zitterte schwül durch
die
Mauern, durch die geschlossenen Fenster und Türen hinaus auf die
lautlos
harrenden Menschen.
Der Mann mit dem energischen Gesicht und mit den ruhigen
Bewegungen machte Eindruck, das fühlte man. Ein angesehener,
gesellschaftlich
hochstehender Mensch, der frank und frei die Partei der Angegriffenen
genommen
hatte – das gab den Zweifelnden neue Nahrung, den Unsicheren freudigen
Halt.
Franz Severin wandte sich mehr an die Menschen denn an
die Richter. Er sprach von dem Vorleben der jungen Frau – von ihren
makellosen
Mädchenjahren, von ihrem unantastbaren Ruf. Auf jeden Einwand war er
vorbereitet – jedem Zeugen wußte er hier und da eine kaum merkliche
Unstimmigkeit nachzuweisen, die geeignet war, den Sinn der Dinge
umzustoßen
oder doch zu ändern. Und schon am Abend des ersten Tages begann das
starre
Gerüst der Anklage zu wanken.
Am zweiten Tage meldete sich bei Severin ein Mann, der
eine wichtige Aussage zu machen hatte. Eine halbe Stunde später stellte
ihn
dieser dem Gerichtshof vor.
Der Bericht des Fremden lautete: “Ich habe in der Nacht
vom fünfzehnten auf den sechzehnten, wenige Minuten vor zwölf Uhr,
einen fremden
Mann über das Gitter der Villa Wahl steigen und in der Richtung nach
dem Hause
verschwinden sehen.“
In der Nacht vom fünfzehnten auf den sechzehnten kurz
nach zwölf Uhr war der Mord geschehen.
„Warum sagen Sie uns das erst heute?“ fragte der
Vorsitzende stirnrunzelnd.
“Ich bin am sechzehnten früh nach dem Süden gefahren,“
war die Antwort, „und erst gestern abend von meiner Reise
zurückgekehrt. Da
habe ich in der Zeitung von dem Prozeß Wahl gelesen und auch die
Einzelheiten
erfahren. Ich hörte, daß man nach einem Unbekannten sucht, der in jener
Nacht
unhörbar gekommen und ungesehen verschwunden sei. Jenen Unbekannten
habe ich
gesehen – das Datum: die Nacht vom fünfzehnten auf den sechzehnten ist
mir
darum genau erinnerlich, weil ich am folgenden Tage jene Reise
angetreten habe.”
Am folgenden Abend wurde Felizie Wahl aus Mangel an
Beweisen freigesprochen.
Ein Wunder hatte sich vollzogen; die öffentliche Meinung
war in wenigen Stunden umgesprungen wie ein gewaltiger Wirbelwind.
Plötzlich
war kein einziger mehr, der an Felizies Schuld glaubte; der furchtbare
Druck,
der auf aller Herzen gelastet, die dumpf brütende Angst schlug um in
jauchzendes, liebevolles Mitfühlen. Das Leben hatte gesiegt; die Freude
über
die Freisprechung war allgemein. Als Felizie aus dem dunklen Mauertor
in den
Sonnenschein hinaustrat, erwartete sie eine vielköpfige Menschenmenge.
Ein
Wagen hielt; sie stieg ein. Aller Häupter entblößten sich. Eine Blume
flog zu
ihren Füßen nieder. Schüchtern rief jemand ihren Namen. Ein zweiter
fiel in den
Ruf ein, und plötzlich scholl aus tausend Stimmen ein ungeheurer
jauchzender
Glückwunsch durch die Luft. Der Wagen fuhr ab. Sie neigte sich dankend
zurück,
während ihr die Tränen in die Augen stiegen. Schimmernd schwirrten
zahllose
Blumen nieder. Und während sie in den Sommermorgen hineinfuhr, brauste
wie eine
gewaltige Sinfonie des Lebens der vielstimmige Freudenschrei dieser
Menschen
hinter ihr her.
Zwei Tage später erhielt Franz Severin einen Besuch. Felizie
selbst war es, die ihrem Retter dankte.
Zum ersten Male verließ ihn seine kaltblütige Ruhe, als
er in diese Augen sah, die ihn dankerfüllt unter Tränen anlächelten,
und sein
Blick fuhr verwirrt über das blonde Haar und über diesen
feingeschnittenen
Kopf, den er dem Schafott abgerungen hatte. Und plötzlich war er sich
klar
darüber: es war wohl nicht menschliches Mitleid allein gewesen, was ihn
vor die
Schranken des Gerichts getrieben hatte. Er liebte diese Frau. Liebte er
sie
nur, weil sie unschuldig war? Oder war es vielleicht nur ein
Schleichweg, den
die Natur hier eingeschlagen hatte, die unbeirrt ihre Zwecke verfolgte?
Ahnend
fühlte er den dunklen Zusammenhang der Dinge, die Fäden, die das
Seelische mit
dem Körperlichen verbanden und die unsichtbar und unentwirrbar
ineinander
übergingen. Und er gab sich der süßen Lässigkeit dieser dämmernden
Gefühle hin,
die feiner waren als menschlicher Verstand, stärker als menschliche
Kraft.
Felizie sah ihrem Retter verstohlen ins Gesicht – diesem
schönen schweigsamen Mann, der sie aus Not und Tod gerettet hatte, und
ihre
zitternden Nerven spürten die heiße Welle, die unsichtbar durch den
Raum
flutete. Die Starre, die während der letzten Zeit über ihrem Wesen
gelegen
hatte, wich vor diesem ehrlichen, aufrechten Menschen. Und zum ersten
Male seit
langen Monaten ging es wie ein glückliches Lächeln über ihre Züge.
* * *
Franz
Severin stieg aus und gab dem Fahrer Befehl,
heimzukehren. Die kurze Strecke Weges, die durch den kleinen Park
führte,
wollte er zu Fuß zurücklegen. Er dachte an Felizie, die nun seit zwei
Monaten
seine Frau war, und ein leichter Schatten huschte über sein Gesicht.
Sie war
glücklich; daran war kein Zweifel. Sie liebte ihn; er fühlte es mehr,
als er es
wußte. Nur diese seltsamen Anfälle von Schwermut, die sich jedesmal
einstellten,
wenn jene Briefe kamen. Zuerst hatte er an heimliche Schulden geglaubt.
Er
hatte lächelnd ihr Nadelgeld verdoppelt. Aber die Wolken wichen nicht
von ihrer
Stirn.
Eben schlug es neun Uhr. Um neun Uhr wollte er mit
Felizie bei Heiders sein. Nun kam er allein.
Heute war wieder jener Brief gekommen – kurz bevor sie
zusammen fortgehen wollten. Er hatte deutlich die Veränderung in ihren
Zügen
bemerkt, als sie den Briefumschlag mit der Aufschrift erblickte. Gleich
darauf
hatte sie ihn gebeten, allein zu fahren; ihre Stimme hatte einen
unbeschreiblich matten Klang gehabt; er hörte ihn noch: “Ich habe
Kopfschmerzen. Sage ein paar Worte der Entschuldigung.”
Er wollte sich nicht in ihr Vertrauen drängen. Daß er
jederzeit bereit war, ihr zu helfen, wußte sie; wollte sie dennoch
nicht reden
– zu zwingen vermochte er sie nicht.
Ein Wagen hielt vor der Villa; es war das Gefährt des
Medizinalrats. Die Dame des Hauses kam Severin mit verweinten Augen
entgegen: “Die
Kleine ist plötzlich schwer krank geworden,“ sagte sie traurig. „Da muß
ich Sie
leider bitten . . .“
Er sagte ein paar bedauernde Worte und ging.
Das Grau des Abends war in schweres Dunkel übergegangen. Der
frische Wind hatte sich gelegt, und schwarze Regenwolken zogen sich
still und
drohend zusammen. Ein paar große Tropfen fielen – gleichwohl öffnete
Severin
den Überrock unter der drückenden Schwüle, die ein herannahendes
Gewitter
verkündete –Der Park war still, wie ausgestorben. Wie ein Echo ebbte
das
Branden der Stadt herüber. Gellend pfiff ein ferner Bahnzug; er fuhr
nervös
zusammen. Dann lächelte er über sich selbst und spitzte den Mund zu
einem
lustigen Lied; die Melodie erstarb auf seinen Lippen. Seltsame
Geräusche
schlugen an sein Ohr; einen Atemzug lang glaubte er eine klagende
Stimme zu hören,
die seinen Namen rief.
Ohne daß er es gemerkt hatte, war er in die Straße
gelangt, in der er wohnte. Dort vorn ging ein Mann vor ihm her. Irgend
etwas an
dieser Gestalt fiel ihm auf, ohne daß er sich hätte erklären können,
was. Die
Gestalt war gekleidet wie hundert andere, und doch kam es ihm mehr und
mehr zum
Bewußtsein, daß er diesen Menschen kannte. Ein seltsam beklemmendes
Gefühl kam
über ihn. Jener Fremde, der in der Richtung schritt, in der sein Haus
lag,
flößte ihm beinahe Angst ein. Er bog in den kleinen Park und ging mit
schnellen
Schritten voraus, um jenen zu überholen. Dann stellte er sich hinter
einen Baum
und starrte dem Vorüberschlendernden ins Gesicht. Und plötzlich wußte
er's: es
war der Zeuge; jener Mann, der ausgesagt hatte, er habe in der Nacht
vom
fünfzehnten auf den sechzehnten einen Fremden über das Gitter der Villa
steigen
sehen. Er konnte sich keine Rechenschaft geben, warum – aber der
Anblick dieses
Mannes in der Straße, in der er mit seiner jungen Frau wohnte, war ihm
unerträglich.
Er ging ihm lautlos nach, immer in das Dunkel der Bäume gedrückt. Der
Vorausschreitende blieb stehen. Er sah sich argwöhnisch um, ging dann
mit
schnellen Schritten über die Straße und zog den Klingelknopf an seinem
Hause.
Severin blieb stehen und starrte auf den Mann, der dort drüben wartete.
Eine
helle Gestalt kam den Kiesweg herunter. Rasender Schmerz schoß Severin
zum
Herzen. Es war Felizie.
Sie schloß auf und ließ den Fremden eintreten wie jemand,
den sie erwartet hatte. Dann ging sie mit ihm ins Haus.
Severin taumelte mit den schweren Schritten eines
Trunkenen über die Straße. Er zog den Schlüssel und ging auf den
Seiteneingang
seines Hauses zu. Im Zimmer seiner Frau flammte eben Licht auf. Er ging
geräuschlos durch die Räume bis zu dem kleinen Zimmer, das neben dem
Speisesaal
lag. Die Stimmen der beiden schlugen wie durch brodelnden Nebel an sein
Ohr. Er
hörte seine Frau sprechen – bittende, angstvolle Worte; dazwischen das
grollende Drohen der fremden Stimme. Und plötzlich verstand er: der
Mann forderte
Geld. Zaghafte Einwendungen von seiten Felizies, auf die er höhnisch
und kalt
antwortete. Dann klirrte ein Schlüssel; ein Schloß schnappte, Scheine
knisterten. Türen schlugen dröhnend zu, und der Mann verließ das Haus.
Franz Severin trat ans Fenster und blickte der
breitschultrigen Gestalt nach.
Die Schiebetür rollte auseinander. Im nächsten Augenblick
tönte ein leiser Schrei. Vor ihm stand Felizie. Sie sah ihn an. Jeder
Blutstropfen war aus ihrem Gesicht gewichen; ihre Hand sank schlaff
herunter. Ein
müder Zug trat in ihre Augen. Er trat auf sie zu und spreizte, wie von
plötzlichem Abscheu ergriffen, die Hände gegen sie.
„Also doch – du bist die Mörderin?“
Ihr Kopf sank langsam herab; ihre Augen bohrten sich in
den blutroten Teppich. Von fern klang die Hupe eines Automobils durch
die
Nacht.
“Antworte!" drängte er.
Sie nickte.
„Warum hast du es getan?“ fragte er mit einer Stimme, die
plötzlich ganz ruhig war.
„Er quälte mich mit seiner wahnsinnigen Eifersucht; ich
wäre zugrunde gegangen an seiner Seite.”
“Jener Zeuge hat also die Unwahrheit gesprochen?“
Sie öffnete ein paarmal den Mund. „Ja,“ sagte sie
endlich.
“Wer hat ihn gedungen?”
“Meine Mutter.”
Er warf einen irren Blick auf sie und wandte den Kopf. In
diesem einen Augenblick hatte er das Gefühl, als ob die Welt
zusammenstürzen
müsse. Alles, woran er geglaubt, wofür er gekämpft hatte, der ganze
Inhalt
seines Lebens war vernichtet. Seine Hand umkrampfte den Hut, und er
stürzte in
die Nacht hinaus.
Als er nach einer Viertelstunde zurückkehrte, saß Felizie
am Schreibtisch. Sie hob mühsam den Kopf; plötzlich stand sie auf mit
einer
Bewegung, aus der namenlose Angst sprach: “Wo warst du?“ fragte sie
leise.
Er schwieg.
“Du hast mich verraten?”
„Für mich gibt es nur eins. Unschuld oder Schuld –
Freiheit oder Strafe!”
Draußen fuhr ein Wagen vor. Lichter blitzten auf. Eine
Glocke schrillte durch die Nacht. Sie blickte ihn an. Er nickte: “Sie
kommen.”
Die Männer, die der verwunderte Diener ins Haus ließ,
fanden eine Flucht von leeren Zimmern. Die geöffneten Türen wiesen zum
hinteren
Ausgang: dorthin, wo der See schimmerte. Ein paar halblaute Rufe
klangen;
Laternen flammten auf.
“Hier,” sagte einer leise. Am Ufer des dunklen Wassers
fand man ein paar Fußabdrücke. Sie wiesen den Weg, den die beiden
gegangen
waren.
|
lifedays-seite
- moment in time |
|
|
|
|
|
|
|