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Literatur


04.3



Am Kamin
Paul Rosenhaym

Elf Abenteuer des Joe Jenkins
02 Wenn die Toten wiederkehren
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Wenn die Toten wiederkehren

Der Kellner stellte die umfangreiche Platte mit dem ersten Frühstück vor dem Gast von Nummer 45 nieder, der soeben im Frühstücksraum erschienen war, und empfahl sich mit einer Verbeugung. Von der Tür aus warf er noch einen schnellen Blick, in dem ein seltsames Gemisch von Respekt und Neugierde zu lesen war, auf den Fremden und verschwand geräuschlos durch die Glastür.

Es war 11 Uhr vormittags. Der Hotelraum war um diese Stunde schon ziemlich leer. Unter dem dunkelgrünen Laub der Palmen leuchteten die kleinen Tischchen mit den hellen Korbsesseln vornehm-reserviert hervor; nur hier und da räkelte sich noch ein Spätaufsteher bei der Morgenzeitung. Während der Gast mit sichtlichem Appetit einen Teller Porridge leerte, winkte er mit den Augen einen der Kellner heran, die von Zeit zu Zeit durch die Halle glitten, und drückte ihm ein Geldstück in die Hand. „Holen Sie mir die neuen Zeitungen.“

Der Befrackte kam nach einer Weile zurück, in der Hand ein Paket Morgenblätter, die er in dem kleinen Kiosk gekauft haben mochte, der den Abschluß des Hoteleingangs bildete. Er legte den Stoß auf den Tisch und faßte in die Tasche. „Es ist gut“, sagte der Gast mit einer verabschiedenden Handbewegung.

Der Gast entfaltete eben die oberste der Zeitungen, als im Rahmen der Tür der Hoteldirektor auf seinem Inspektionsgang auftauchte. Er erblickte den lesenden Gast, ging mit diskreten Schritten auf ihn zu und begrüßte ihn mit einer Verbeugung. „Guten Tag, Mr. Jenkins“, sagte er in höflichem Tone. „Es freut mich, daß es Ihnen bei uns in Berlin so gut gefällt. Ich habe eigentlich schon von Tag zu Tag gefürchtet, Sie würden abreisen. Nachdem Sie Ihre diplomatische Mission — ich habe darüber gelesen — in einer Weise erledigt haben, wie sie in der ganzen Welt eben nur Mr. Joe Jenkins erledigen konnte.“

Der Detektiv lächelte. „Ich will Ihnen gestehen, Direktor, ich bin nicht ganz freiwillig hier. Vorgestern wollte ich abreisen. Da bekam ich mittags ein Telegramm von meinem Schiffsagenten in Rothenburg, worin er mir anzeigte, im Skagerrak sei ein schwedisches Schiff auf eine treibende Mine aufgelaufen und in die Luft geflogen. Nun — ich habe wirklich nicht viel Lust, ein derartiges Risiko zu laufen. Ich glaube, es wäre ein bißchen schade . . . Die Herren Verbrecher brauchen mich viel zu nötig . . .“

Mr Jenkins griff, nachdem sich der Direktor entfernt hatte, wieder nach seinen Zeitungen und war bald in die neuesten Kriegstelegramme vertieft. Nachdem er die eine gewissenhaft bis zum Ende gelesen hatte, faltete er sie sorgfältig zusammen und griff nach der zweiten. Eben wollte er auch diese fortlegen, da sie ihm nichts Neues zu enthalten schien, als sein Blick auf eine Notiz im lokalen Teil fiel, die seine Aufmerksamkeit fesselte. Die Notiz lautete:

Ein seltsamer Vorfall

In einer hiesigen angesehenen Familie hat sich gestern ein mysteriöses Ereignis zugetragen. Bei der Frau Regierungsrat F. am . . .platz, deren Gatte seit Beginn des Krieges als Hauptmann im Felde steht, erschien gestern nachmittag, etwa um 5 Uhr, ein hiesiger Arzt. Er erklärte der erstaunten Dame, vor einer Viertelstunde sei bei ihm ein Offizier gewesen und habe ihn aufgefordert, zu Frau Regierungsrat F. zu fahren, denn diese Dame leide seit heute früh um 9 Uhr an starken Asthmaanfällen. Der Offizier habe ihn weiter gebeten, möglichst ein geeignetes Mittel gleich mitzubringen, ein Ansuchen, dem der Arzt entsprochen hatte.

Die Dame war im höchsten Grade verwundert; kannte sie doch weder diesen Arzt noch den Offizier. Das Seltsame aber war, daß die Angaben des fremden Offiziers hinsichtlich ihrer asthmatischen Anfälle richtig waren. Von einer unerklärlichen Furcht ergriffen, forschte die Dame, wie denn der Offizier ausgesehen habe? Der Arzt gab nunmehr eine Beschreibung des rätselhaften Besuchers: Er habe einen dunklen Schnurrbart und leicht ergrautes Haar gehabt, sei von großer Gestalt gewesen und habe ein kleines Muttermal unter dem rechten Auge gehabt. An der linken Schläfe sei ein kreisrunder, roter Fleck zu sehen gewesen, der fast wie von einer Schußwunde herrührend ausgesehen habe. Frau Regierungsrat F. erkannte aus dieser Beschreibung zu ihrer grenzenlosen Bestürzung ihren Mann, der im Felde stand und von dem sie erst gestern früh einen Brief aus . . . erhalten habe. Bis auf die rote Stelle in der linken Schläfe paßten die Angaben genau . . . Der Arzt händigte der Dame sein Mittel aus und empfahl sich . . . Und nun kommt das Unbegreifliche: gestern abend um 9 Uhr lief bei der Dame ein Telegramm ein, ihr Gatte sei gestern früh 10 Uhr durch einen Schuß in die linke Schläfe getötet worden . . .

Die Dame ist durch den rätselhaften Vorfall derart erschüttert worden, daß sie sich in ein Sanatorium begeben mußte.

Joe Jenkins las diesen Artikel zweimal aufmerksam durch, schüttelte während des Lesens mehrere Male den Kopf und versank in längeres Nachdenken. Dann ließ er sich Hut und Überzieher bringen, verließ das Hotel, rief ein Auto an und nannte dem Chauffeur die Adresse der Redaktion des Blattes.

Es mochte gegen 2 Uhr mittags sein, als sich ein Mr. James Mac Donald beim Chefarzt des Racotschen Sanatoriums melden ließ.

Der Besuch wurde in ein ruhig und vornehm ausgestattetes Sprechzimmer geführt, das auf einen alten, schönen Park hinausblickte. Der Fremde sah sich aufmerksam in dem Raum un, dessen einzelne Gegenstände ausnahmslos Zeugnis von einem gediegenen und kultivierten Geschmack ablegten, als sich die Tür öffnete. Der Eintretende war ein untersetzter Herr mit raschen, energischen Bewegungen; durch die Brillengläser drang ein kurzer, prüfender Blick aus zwei klugen Augen auf den Besucher; eine kurze, einladende Handbewegung, die auf einen Sessel deutete, dann setzte sich der Professor nieder und sah dem anderen fragend ins Gesicht.

„Herr Professor,“ begann dieser, „um Ihnen gleich die Wahrheit zusagen: Ich bin kein Patient, und ich wünsche Sie nicht zu konsultieren. Es ist lediglich die Bitte um eine Auskunft, die mich zu Ihnen führt. Ich bin Mitglied eines spiritistischen Vereins in Philadelphia, und ich komme, um mich über einen Fall näher zu informieren, der mich außerordentlich interessiert.“

„Nun,“ unterbrach der Chefarzt, „Sie kommen vermutlich in der Angelegenheit der Frau Regierungsrat Forsting.“

„Ganz richtig. Und, wie gesagt, ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir einiges Nähere über diesen interessanten Fall mitteilen würden.“

„Ja,“ begann Professor Racot, „die Geschichte ist in der Tat sehr merkwürdig. Ich würde sie vielleicht ins Reich der Legende verweisen — wenn nicht mein eigener Assistenzarzt sie miterlebt hätte. Sie haben wohl gelesen, daß Dr. Loy gestern abend den Besuch eines Offiziers erhielt, der ihn ersuchte, Frau Regierungsrat Forsting zu Hilfe zu eilen.“

„In der Tat. Ich habe es gelesen, Also, Herr Dr. Loy . . .?“

„Ist mein Assistent. Er unterhält in seiner Privatwohnung eine kleine Praxis und ist tagsüber in meinem Sanatorium beschäftigt.“

„Und haben Sie, Herr Professor, sich irgendeine Erklärung für das Vorkommnis gebildet?“

Der Chefarzt sah den Fragenden mit einem prüfenden Blick an und sagte dann reserviert: „Nein. Ich bedaure, darüber nicht das geringste sagen zu können. Jedenfalls, das eine kann ich Ihnen mit Bestimmtheit sagen: Frau Forsting ist krank, ernstlich krank. — Sie werden begreifen, Mr. Mac Donald — ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen — es handelt sich um das ärztliche Berufsgeheimnis — ich muß bedauern, keinen Anlaß zu haben, Ihnen gegenüber von meiner Schweigepflicht abzugehen.“

Der Amerikaner stand auf. Er sah den Arzt mit einem ruhigen Blick an, zwei Augenpaare schienen sich einen Augenblick zu messen, dann sagte der Amerikaner langsam: „Mein Name ist Joe Jenkins.“

Der Professor faßte sich an die Stirn. „Darum kamen Sie mir gleich so bekannt vor. Ich habe Ihr Bild vor einigen Tagen in einem illustrierten Journal gesehen, Mr. Jenkins, kurz nach Ihrer Aufdeckung des Dokumentendiebstahls. Ich freue mich, den berühmten amerikanischen Detektiv in meinem Hause zu sehen. Nun, da Sie ja gewissermaßen zur Polizei gehören, will ich Ihnen zur Verfügung stehen. Also was möchten Sie wissen?“

„Ich würde“, antwortete Jenkins, „gern einmal mit Frau Geheimrat Forsting persönlich ein paar Worte sprechen. Natürlich in Ihrer Gegenwart, Herr Professor.“

Der Chefarzt drückte auf den Knopf des Haustelephons. „Herr Dr, Loy möge mit Frau Geheimrat Forsting herüberkommen.“

„Es handelt sich“, wandte sich der Professor wieder an Jenkins, „hier ursprünglich um einen Fall von Kriegsspychose. Allgemeine nervöse Überreiztheit, hervorgerufen durch den Ausbruch des Krieges, in Verbindung mit der Einberufung des Gatten, verstärkt durch das Gefühl der Verlassenheit, vielleicht der persönlichen Gefahr. Durch ein asthmatisches Leiden haben sich diese Dinge in den letzten Tagen noch zugespitzt. Dazu die niederschmetternde Nachricht vom Tode des Gatten und, was allem anderen die Krone aufsetzte, dieser geheimnisvolle Besuch des Gatten beim Arzt — des Gatten, der am Morgen des gleichen Tages, 10 Uhr, schon tot war. Dies alles hat die Dame in einen Zustand versetzt, der mehr als bedenklich zu nennen ist. Herr Dr. Loy, ein sehr tüchtiger, gewissenhafter Arzt, hat mir ein bis ins kleinste detailliertes Krankheitsbild in dieser seltsamen Sache zusammengestellt. Danach ist über die Gefährlichkeit des Zustandes der Frau Regierungsrat Forsting leider kein Zweifel möglich.“

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.

„Noch eins“, sagte Mr. Jenkins. „Ich bitte Sie, mich den Herrschaften als Mr. Mac Donald vorzustellen. Es würde Frau Forsting unnötig erregen, wenn sie meinen Namen hört, und auch Herrn Dr. Loy könnte es vielleicht befangen machen.“

Auf das energische „Herein!“ des Chefarztes trat ein dunkelhaariger, jüngerer Herr ein, gefolgt von einer Dame, die in der Mitte der Vierzig stehen mochte. Die stattliche Gestalt war einfach, aber mit einer gewissen diskreten Eleganz gekleidet; das Gesicht war von Sorgen durchfurcht und stach in seiner Blässe kaum von dem weißen Haar ab, das es umrahmte; die Augen hatten einen flackernden Glanz.

Der Assistenzarzt war ein hübscher, schlanker Mann mit sanften, braunen Augen. Er warf einen kurzen Blick auf Mr. Jenkins und sah dann seinen Chef fragend an. Dieser stellte „Herrn Mac Donald aus Philadelphia“ der Frau Regierungsrat Forsting und Herrn Dr. Loy vor. „Mr. Mac Donald interessiert sich sehr für Ihren Fall, gnädige Frau“, sagte er. „Er würde gern einiges darüber hören; namentlich auch über den Vorfall von heute vormittag. Vielleicht erzählen Sie das Erlebnis selbst; gnädige Frau. Sie sind, um es kurz zu resümieren, der Meinung, Ihren Gatten heute vormittag leibhaftig gesehen zu haben?“

Die Patientin fuhr sich mit der Hand über die Schläfen, blickte einen Augenblick traurig vor sich nieder und sagte dann mit leiser Stimme:

„Ja, Herr Professor. Ich habe mich nicht getäuscht. Bestimmt nicht. Es war mein Mann. Nicht nur, daß ich natürlich die Gestalt und das Gesicht erkannte; der vorüberschreitende Offizier hatte auch den charakteristischen Ansatz des rechten Fußes, der meinem Manne eigen ist.“

„Und wo haben Sie ihn erblickt?“

„Auf meinem Spaziergang. Ich ging mit Herrn Dr. Loy heute vormittag durch den Park. Wir kommen an eine Stelle, an der sich die Wege kreuzen. Plötzlich kommt, auf einen Stock gestützt, von links ein Offizier langsam daher und kreuzt meinen Weg. Ich verfolge mit wachsendem Erstaunen die mir wohlbekannte Gestalt. Auf einmal, als er an mir vorübergegangen ist, wendet der Offizier den Kopf und schaut mich an; mit Augen, die glasig und überirdisch aus einem totenbleichen Gesicht leuchten. Der Schrei bleibt mir in der Kehle stecken; der dort geht, ist mein Mann! Während meine Augen auf seinem Gesicht umherirren, fallen sie auf ein feuerrotes Wundmal an seiner linken Schläfe. Ich will auf die Erscheinung losstürzen, da hält mich Herr. Dr. Loy am Arm fest. ‚Wohin wollen Sie?‘ fragt er. ‚Wohin ich will?‘ frage ich erstaunt. ‚Sehen Sie denn nicht den Offizier dort? Das ist mein Mann!‘ ‚Wo?‘ fragte er verwundert und sieht mit leeren Blicken in die Richtung, die ihm mein ausgestreckter Arm zeigt. ‚Sehen Sie denn nicht den Offizier dort? Der dort langsam hinaufsteigt, in der rechten Hand einen braunen Krückstock?‘ Da antwortet mir Herr Dr. Loy mit einer Stimme, aus der ich tiefes Mitleid, trauerndes Mitleid höre: ‚Gnädige Frau, da geht kein Offizier. Weder ein Offizier, noch sonst ein Mensch.“

Damit wandte sich Dr. Loy mit seiner Patientin zur Tür. „Sie kommen wohl noch einmal zurück, Herr Kollege!“ bat der Professor seinen Assistenten. Dieser machte eine kleine Verbeugung und war im nächsten Augenblick mit Frau Forsting verschwunden.

„Und Ihre Meinung?“ fragte Jenkins den Professor, als die beiden allein waren. „Sie halten die Dame für irrsinnig?“

„Auf alle Fälle“, antwortete Professor Racot, „muß ich an einen beginnenden Irrsinn glauben. Denn die Symtome sind unabweisbar und unverkennbar.“

„Gestatten Sie eine weitere Frage, Herr Professor. Hat die Dame Vermögen?“

Der Arzt stutzte, sah den Detektiv mit einem schnellen Blick an und sagte dann lächelnd: „Nein, Mr. Jenkins. Ihre kriminellen Bedenken — falls Sie solche haben sollten, — sind hier unbegründet. Die Dame hat nichts als ihre bescheidene Pension, die natürlich mit ihrem Tode aufhört. Sie hat keinen Feind, sie ist im Gegenteil überall als eine harmlose und bescheidene Frau beliebt.“

„Hat die Dame Verwandte?“

„Sie hat einen Bruder, der vor vielen Jahren nach Südamerika ausgewandert und dort verschollen ist. Außerdem lebt hier in Berlin ein Bruder ihres Mannes als Rentier. Er ist mit Frau Forsting befreundet und stand ihr in der letzten Zeit, da sein Bruder — ihr Mann — abwesend ist, sehr zur Seite.“

Ein Klopfen an der Tür, ein lautes „Herein!“, Dr. Loy kam zurück. „Nun Herr Kollege,“ wandte sich Professor Racot dem Eintretenden entgegen, „wie denken Sie über Frau Forstings Zustand?“

Der Arzt warf einen fragenden Blick auf Jenkins und sah dann seinen Chef an. Dieser neigte ermutigend den Kopf. „Herr Professor,“ sagte Dr. Loy leise, „ich muß Ihnen gestehen: ich fürchte, eine Katastrophe kann jeden Augenblick eintreten. Die Nerven der Patientin sind aufs äußerste gereizt. Noch eine solche Halluzination
und . . . ich fürchte, eine Überführung ins Irrenhaus . . .“

In diesem Augenblick gellte ein fürchterlicher Schrei durch das Haus, ein Schrei der Angst, der die Luft förmlich durchschnitt. Das Rennen eines Menschen, der in Todesangst sein mußte, kam über den langen Korridor. Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und bleich, mit verzerrten Zügen und weit geöffneten Augen, in denen eine namenlose Angst fieberte, stürzte Frau Forsting herein und sank ohnmächtig in einen Sessel.

Eben wollte Professor Racot die Tür hinter ihr schließen, als sie zum zweiten Male krachend aufflog; in eiligem Lauf stürzte Frau Forstings Krankenschwester ihrer Patientin nach.

Die Schwester schöpfte ein paarmal keuchend Atem und sagte dann bebend: „Frau Forsting hat eine neue Erscheinung gehabt. Ich hatte sie einen Augenblick verlassen. Da hörte ich einen Schrei, eile zurück und treffe Frau Forsting schon auf dem Korridor, mit der zitternden Rechten zurückdeutend: ‚Mein Mann, mein Mann! Dort! Dort ist er eben erschienen!“


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