Jetzt richteten sich alle Blicke auf
Frau Forsting, die
langsam die Augen aufschlug und verwirrt um sich blickte. „Ist das
wahr?“
fragte der Chefarzt mit leiser Stimme, aus der es fast wie ein leichter
Vorwurf
klang. „Sie haben eben wieder Ihren Gatten gesehen?“
Die Gefragte sprang plötzlich auf,
blickte die
Versammelten verwirrt an und schrie dann laut: „Er war es! Ich habe ihn
gesehen, Herr Professor“ Ich habe ihn gesehen! An meinem Fenster ist er
eben
erschienen! Mit einer blutigen Wunde in der linken Schläfe.“
Die beiden Ärzte wechselten einen
Blick und sahen dann
auf Mr. Jenkins, der stumm vor sich niedersah.
„Schwester Maria,“ sagte der
Chefarzt nach einer Pause,
„Sie haben Ihre Pflicht versäumt. Sie dürfen Ihre Pflegebefohlene nicht
allein
lassen . . . Beruhigen Sie sich, Frau Forsting. Hier, nehmen Sie etwas
Brom.
Danach werden Sie gut schlafen. Und morgen früh werden wir weiterreden.
Schwester Maria, bringen Sie Ihre Patientin wieder auf ihr Zimmer.“
Die beiden Frauen verließen das
Zimmer Und plötzlich
drang ein seltsamer, rührender Ton durch die Räume: die Ängste und
Schmerzen
der bedauernswerten Frau hatten sich in einem unaufhaltsamen,
hilflosen,
trostlosen Weinen aufgelöst.
Mr. Jenkins erhob sich. „Ich will
gehen, Herr Professor.
Ich danke Ihnen, meine Herren. Sie haben meinen Erfahrungsschatz um
einen
wertvollen Beitrag aus der Geschichte menschlicher Leiden und
menschlicher
Tragik bereichert.“
Joe Jenkins ging nachdenklich den
langen Parkweg
hinunter, der zwischen dunklen Tannen hindurch zum Tor des
Sanatoriumsgartens
führte. Und je mehr er sich dem Ausgang näherte, desto mehr
verfinsterte sich
sein Gesicht.
Plötzlich stuzte er. In einem
Seitengebüsch knackte es;
im nächsten Augenblick löste sich aus dem Dickicht eine menschliche
Gestalt,
eine Hand faßte die seinige und eine zitternde Stimme rief in
beschwörendem
Tone:
„Retten Sie Frau Forsting, Mr.
Jenkins“!
Eben wollte er etwas erwidern, als
die Hand ihn losließ,
ebensoschnell, wie sie gekommen war, schlüpfte die Gestalt in die
Büsche
zurück, und nur im Vorbeihuschen konnte der Detektiv einen Blick auf
das
Gesicht und das Kleid der Enteilenden werfen. Es war Schwester Maria. —
— —
Drei Tage später las man in den
Berliner Blättern
folgende Notiz:
„Frau Regierungsrat Forsting, von
deren aufsehenerregenden
Erlebnissen hier wiederholt berichtet wurde, ist für unheilbar
geisteskrank
befunden worden. Die Bedauernswerte ist daher gestern in eine hiesige
Irrenanstalt übergeführt worden. Der Fall ist um so trauriger, als
soeben die
Nachricht eintrifft, daß die Dame Erbin eines großen Vermögens geworden
ist,
das ihr durch den Tod ihres einzigen Bruders zugefallen ist, der in
Südamerika
ungeheure Waldungen besaß. Zum Verwalter ihres Vermögens ist der Bruder
ihres
verstorbenen Gatten, der Rentier Amandus Forsting ernannt worden.“
* * *
Das Konzil der Ärzte, das über das
weitere Schicksal der
Frau Forsting beraten sollte, tagte im Sitzungszimmer des Dr.
Stellenmannschen
Irrenhauses. Den Vorsitz führte Dr. Stellemann persönlich, ihm zur
Seite saß
sein Assistent Dr. Haller, ein noch ziemlich junger, aber sehr
bedeutender
Spezialist für Nervenleiden, den Dr. Stellmann mit großer Auszeichnung
behandelte. An den beiden Längsseiten des Tisches hatten Professor
Racor und
Dr. Loy Platz genommen. Nachdem die
geheime Konferenz beendet war, hatte man Frau Forsting hereingerufen,
die nun
in einem bequemen Fauteuil, vom Licht der Lampen voll bestrahlt, der
Unterredung beiwohnte. — Dr. Loy hatte soeben seinen instruktiven
Vortrag
beendet. Sein Chef Professor Racot hatte den Ausführungen mit
sichtlichem Stolz
zugehört und mehrere Male anerkennend genickt. Auch der
Irrenhausdirektor
lächelte zustimmend und blickte seinen Assistenten Dr. Haller fragend
an.
Dieser erhob sich nach einer Weile und begann:
„Ich danke Ihnen, Herr Dr. Loy, für
das ausführliche und
anschauliche Referat, das Sie uns gegeben haben. Mein Chef, Herr
Direktor Dr.
Stellemann, hat diesen Fall in meine Hände gelegt und ich soll die
Patientin
weiter observieren und behandeln — soweit sich hiervon ein Erfolg
erwarten
läßt.“
Professor Racot warf einen
bedenklichen Blick auf Frau
Forsting, die in ihrem Sessel lehnte und den Worten des Vortragenden
mit
Aufmerksamkeit folgte.
Dr. Haller fuhr fort: Wenn ich
richtig verstanden habe,
haben sich also die Erscheinungen vier- oder fünfmal wiederholt, und
zwar hat
die Dame ihren verstorbenen Gatten jedesmal mit dem Wundmal in der
linken
Schläfe erblickt, also in einem Zustande, in dem sie ihn selbst nie
gesehen
hat. Nicht wahr, Frau Forsting, so war es doch?“
Hier stand Professor Racot, nachdem
er sich leise mit Dr.
Loy unterhalten hatte, auf und sagte mit einem Blick auf Frau Forsting
in
warnendem Ton: „Ich weiß wirklich nicht recht, Herr Kollege, ob es
ratsam ist .
. . in Gegenwart der Patientin . . . diese Dinge . . .“
Dr. Haller machte eine begütigende
Handbewegung. „Ich
spreche in einer bestimmten Absicht — Sie werden gleich sehen, in
welcher.
Lassen wir die Patientin hier. Ich bin gleich zu Ende. Also“, wandte er
sich
nunmehr an Dr. Loy, „es gibt zwei Möglichkeiten. Frau Forsting hat die
von Ihnen
anschaulich beschriebenen Halluzinationen gehabt. Das steht außer
Frage. Nach
Ihrer Meinung folgt daraus, daß sie wahnsinnig ist. Nicht wahr?“
Der Assistenzarzt blickte ein wenig
erstaunt auf den
Sprechenden und sagte trocken: „Selbstverständlich, Herr Doktor.“
„Nun“, fuhr Dr. Haller fort, „haben
Sie selbst aber die
gleiche Erscheinung gehabt wie Frau Forsting: Sie haben, nach Ihren
Angaben,
den Offizier mit der Schläfenwunde, also die Erscheinung des Hauptmanns
Forsting, in Ihrer Wohnung gesehen, und zwar nach seinem Tode. Der
Offizier kam
zu Ihnen, um Sie aufzufordern, seiner Frau Hilfe zu leisten. Wie
erklären Sie
sich dies, Herr Dr. Loy?“
Der Gefragte zog die Brauen zusammen
und zuckte die
Achseln. „Dafür vermag ich natürlich eine Erklärung nicht zu geben.
Zumal ich,
trotz dieses unerklärlichen Vorfalls, an Spiritismus nicht glaube.“
„Sie werden das eine zugeben: es ist
unlogisch, daß, wenn
Sie und Ihre Patientin die gleiche Erscheinung gehabt haben — daß dann
der eine
normal und der andere irrsinnig sein soll. Es gibt, wie ich schon
bemerkte, nur
zwei Möglichkeiten: entweder die Erscheinung des toten Offiziers war in
der Tat
eine Halluzination, dann sind Sie beide irrsinnig, Sie und Frau
Forsting.“ Hier
machte Dr. Haller eine Pause, und alles blickte mit unverhohlenem
Argwohn auf
Dr. Loy, der bleich, mit halbzugekniffenen Lidern, dasaß und den
Sprechenden
anstierte. „Oder aber, die Erscheinung war eine reale — dann, Herr Dr.
Loy, —
dann sind Sie — ein Schuft.“
Die Wirkung dieser Worte war eine
unbeschreibliche. Die
drei Herren waren aufgesprungen, Professor Racot war mit zwei Schritten
auf Dr.
Loy zugegangen und stellte sich vor ihn hin, als ob er von ihm
Rechenschaft
fordere.
Eben wollte Dr. Loy zu reden
anfangen. Tiefe Stille trat
ein; da geschah etwas Unerwartetes. Wie von unsichtbarer Hand
getrieben,
öffnete sich die Tür und in ihrem Rahmen stand die Gestalt eines
Offiziers,
bleich, auf einen Krückstock gestützt, mit einer blutigen Wunde an der
linken
Schläfe.
Mit einem Schrei fuhr Frau Forsting
empor, deutete mit
der zitternden Hand auf die Erscheinung und schrie: „Da ist er! Da ist
er!“ Dr.
Loy stand in gebrochener Haltung, auf die Tischkante gestützt, und
stierte auf
den Offizier im Türrahmen.
„Nun, Herr Doktor?“ wandte sich Dr.
Haller lächelnd an
den Assistenzarzt, „sind wir nun alle wahnsinnig? Denn ich glaube,
meine
Herren, Sie, Herr Professor Racot und Sie, Herr Direktor Stellemann,
sehen die
Erscheinung ebenfalls ganz deutlich!“ Professor Racot aber wandte sich
langsam
zu seinem Assistenten herum mit einem Blick, in dem eine fürchterliche
Drohung
lag.
Dr. Haller ging langsam auf die
Erscheinung zu und zog
sie ins Zimmer. Erst jetzt wurden zwei Männer sichtbar, die rechts und
links
der Tür von außen Posto gefaßt zu haben schienen.
Dr. Haller schloß die Tür und sagte
lächelnd: „Sie
gestatten wohl, Herr Geist, daß ich Sie ein wenig vermenschliche? Damit
sich
diese Herrschaften nicht weiter vor Ihnen fürchten . . . Gestatten
Sie!“ . . Damit nahm er vom Schreibtisch einen feuchten
Briefmarkenschwamm, näherte sich
dem Offizier und fuhr ihm damit über das Wundmal an der Schläfe. Zum
Erstaunen
der Zuschauenden schwand die rote Farbe augenblicklich unter der
Einwirkung des
Schwammes, und ebenso waren die Furchen im Gesicht der Erscheinung im
nächsten
Augenblick verschwunden. Darauf riß Dr. Haller der Erscheinung die
Mütze
herunter und gleichzeitig eine Art von Perücke und fragte, zu Frau
Forsting
gewendet:
„Kennen Sie diesen Mann?“
Frau Forsting hatte mit weit
aufgerissenen Augen die
Manipulationen des Arztes verfolgt. Auf seine Aufforderung erhob sie
sich, ging
drei Schritte auf den Entlarvten zu und sagte mit zitternder Stimme:
„Ja, ich kenne ihn. Es ist Amandus
Forsting, mein
Schwager, der Bruder meines Mannes.“
„Es freut mich,“ antwortete Dr.
Haller, „daß Sie so
scharf und kühl denken und erkennen. Beweist es mir doch, daß Sie
normal und im
Besitz Ihrer vollen Geisteskräfte sind. Sie müssen nämlich wissen,
meine Herren:
dieser würdige Herr wußte schon seit Wochen von dem Tode des Bruders
der Frau
Forsting und von dem ihr zugefallenen Vermögen. Er hat nun den Plan
gefaßt,
sich dieses Vermögens zu bemächtigen, und er rechnete darauf, mit einer
schwachen, nervösen Frau ein leichtes Spiel zu haben. Ein Zufall kam
ihm zu
Hilfe: er erhielt die Nachricht von dem Tode seines Bruders früher als
dessen
Ehefrau; die Abschrift des Telegramms, die Sie hier sehen, ist mir von
der Post
zur Verfügung gestellt worden. Nun hat er sich an seinen ehrenwerten
Freund und
Studiengenossen Dr. Loy gewandt, einen verkrachten Studenten, der im
übrigen
noch weniger als ein Doktor ist — ein Kapitel, das die Behörde noch
gesondert
beschäftigen wird. Die beiden haben nun zusammen einen
menschenfreundlichen
Plan ausgeheckt. ‚Mord‘, so kalkulierten sie, ist immer eine riskante
Sache, denn
sie kann den Kopf kosten. Einen Menschen dagegen langsam, aber sicher
in den
Irrsinn treiben — das führt genau zu dem gleichen Ziel: nämlich zum
bürgerlichen und rechtlichen Tod des Betreffenden, ist dabei aber ganz
ungefährlich, denn es kommt nicht heraus.‘ Mit der Feststellung des
Irrsinns
bei Frau Forsting war notwendig ihre Unmündigkeitserklärung verbunden.
Verwalter ihres Vermögens, also der ihr zugefallenen Erbschaft, wurde
alsdann
ihr Schwager, der würdige Herr Amandus Forsting. Nach einigen weiteren
Halluzinationen — und die wären bestimmt eingetreten — war mit
ziemlicher
Sicherheit der Tod der bedauernswerten ‚Irrsinnigen‘ zu erwarten — dafür hätte
ein so tüchtiger Arzt wie Herr Dr. Loy schon gesorgt — und dann war
Herr
Amandus Forsting im Besitz des Vermögens seiner Schwägerin, denn
weitere
Verwandte hat die Dame nicht.
Nun, Herr Forsting hat seine Rolle
als Geist seines
Bruders nicht schlecht gespielt; das fiel ihm um so leichter, als er
seinem
Bruder sehr ähnlich sieht. Herr Dr. Loy hat ihm geschickt assistiert.
Er hat
seine Blicke jedesmal verständnislos ‚ins Leere‘ schweifen lassen und
mit der
unschuldigsten Miene von der Welt erklärt, er sähe keinen Offizier; in
Wirklichkeit hat er ihn natürlich genau so gut gesehen, wie wir alle
ihn jetzt
erblicken. Der ‚Geist‘ ist dann jedesmal hinter einem Gebüsch
‚verschwunden‘.
Es ist Frau Forsting aufgefallen, daß sie die Erscheinung zwar sehen,
aber
nicht hören konnte; dies erklärt sich dadurch, daß der Geist von der
praktischen Erfindung der Gummisohlen Gebrauch gemacht hat. Diese
Gummisohlen,
deren gitterartigen Abdruck ich im Sande des Parks fand, haben mich
überhaupt
zuerst auf die richtige Fährte gebracht. Er hat nun seinen Chef, Herrn
Professor Racot, systematisch über den Zustand der Frau Forsting
getäuscht,
indem er ihm planmäßig ein falsches Krankheitsbild entworfen hat.“
Hier drückte Dr. Haller auf einen
Knopf, die beiden
Männer erschienen und Dr. Haller sagte, zu ihnen gewendet: „Hiermit
übergebe
ich Ihnen Herrn Dr. Loy und Herrn Amandus Forsting als Arrestanten.“
Nun blickte Dr. Haller Frau Forsting
an und sagte in
freundlichem Ton: „Wie mir Herr Direktor Dr. Stellemann eröffnet, sind
Sie
frei, gnädige Frau. Mein Automobil steht vor der Tür; ich werde die
Erbe haben,
Sie selbst in Ihre Wohnung zu geleiten.“
Teils
bewundernd, teils voll Ingrimm, schaute jetzt alles
auf diesen jungen Arzt. Dr. Loy machte eine Bewegung auf ihn zu, wurde
aber im
nächsten Augenblick zurückgerissen. „Wer . . . sind . . . Sie?“ fragte
er heiser,
die Augen starr auf Dr, Haller gerichtet. Dieser lächelte. „Ihre Frage
beweist
mir, daß Sie in meine Person einige Zweifel setzen. Nun, Sie haben
nicht
unrecht.“ Damit riß er Bart und Brille herunter. „Mein Name ist Joe
Jenkis!“