Ellen
Clintons Vater gehörte mit
zu den Glücklichen, die von der Firma Bellard eingestellt worden waren.
Er
wurde zunächst mit ganz leichten Aufträgen im Außendienst beschäftigt,
so daß
er viel Gelegenheit hatte, sich an der frischen Luft zu bewegen.
Die Familie Clinton
war jetzt
förmlich aufgelebt, Not und Sorgen waren glücklich überstanden, nur Mac
Forsters Benehmen bereitete den Eltern des jungen Mädchens einige
Bedenken,
während Ellen die Wandlung der Dinge ziemlich kühl hinnahm. Mac war
verschlossener denn je, hatte auch seine Wohnung gewechselt, ließ sich
immer
seltener sehen und schien es gar nicht zu bemerken, daß Ellens rasch
erwachte
Zuneigung zu ihm hierdurch langsam erkalten mußte.
Acht Tage nach der
eigentlichen
Eröffnung der Auskunftei säuberte Frau Amalie Pellwoor, die gleichfalls
bei der
Firma Bellard eine feste Anstellung als Aufwärterin und sogar im
Seitenflügel
für sich und ihre Poussy eine kleine Wohnung gefunden hatte, das
Privatbüro Mr. Bellards, der zumeist verreist war, und unterhielt sich
zu
dieser späten Abendstunde wie so oft mit dem buckligen Sekretär, der
ein
fanatischer Radioschwärmer war und die Kopfhörer kaum einmal ablegte.
Zwischen Frau Amalie,
Poussy und
dem alten Samuel Sotter bestand längst eine Art besondere Freundschaft,
obwohl
die frühere Hausiererin den hinter seiner Tapetenwand arbeitenden Sam
Sotter
selten zu Gesicht bekam. Aber eine Tapetenwand gestattet auch eine
Unterhaltung, ohne daß man sich sieht.
Das bejahrte, noch
sehr flinke
Weiblein fragte jetzt besorgt, ob Mr. Sotter sich erkältet habe. „Sie
sprechen
heute noch heiserer als sonst, und daß Sie mit dem Schnupfen so lange
Überstunden machen, ist geradezu leichtsinnig, Mr. Sotter, genau so
leichtsinnig wie Mr. Clintons Besuche bei Miß Lilian Goust, der
Filmdiva. Meine
Nichte ist dort Kammerzofe, und ein kränklicher Herr wie Clinton sollte
nicht
noch Stadtreisender spielen und . . .“
„Jeder hat einen
Nebenverdienst,
liebe Frau Pellwoor“, meinte ich scheinbar ganz uninteressiert. — In
Wahrheit
stellten Amaliens Andeutungen über Stuart Clinton einen weiteren Faden
zu dem
großen Netz dar, an dem ich so emsig arbeitete.
Die gute Amalie ahnte
noch immer
nicht, daß „Sotter“ nur ein Sammelname für drei verschiedene
Persönlichkeiten
war, die sich regelmäßig hinter der Tapetenwand ablösten.
Wir drei waren
dadurch äußerst
mißtrauisch geworden, daß Spezialkommissar Harry Baaker seit jener
Nacht, als
ich in sein Heim mich eingeschmuggelt hatte, wie vom Erdboden
fortgefegt war.
All unsere Versuche, seine Spur wieder aufzufinden, waren
ergebnislos geblieben,
und schon aus diesem Grunde war Mr. Bellard so häufig abwesend. Wir
fühlten uns
in den Räumen der Auskunftei, die ein erster Subdirektor und Fachmann
leitete,
nicht mehr sicher.
Heute hatte ich als
„Sotter“ hinter
der Tapetenwand Dienst, und Frau Amalie, deren Mundwerk ungern
stillstand,
erzählte mir in einem Atem mit ihrer Sorge um meinen Schnupfen, daß
Poussy soeben durch das offene Fenster auf die Plattform der
Feuerleiter
hinausgeklettert sei. Dann hörte ich, wie sie ihre Katze zärtlich
lockte, das
Fenster schloß, und plötzlich auch der Lichtschalter zweimal knackte.
„Mr. Sotter . .
!!“ flüsterte Amalie nun dicht an der
Tapetenwand . . . „Mr. Sotter, — — habe ich nur einen Schreck
bekommen!! Der
Kerl ist wieder da! Schon gestern bemerkte ich ihn . . . Unten im Hof
steht er .
. .“
„Ja, — der neue
Wächter, Frau
Pellwoor“, erwiderte ich sehr gegen meine eigene Überzeugung. „Gute
Nacht,
verschlafen Sie Ihre Ängste“, fügte ich scherzend hinzu.
Kaum aber hatten
Amalie und
Poussy die Büroräume verlassen,
als ich auf eine etwas eigentümliche Art meinen fensterlosen Verschlag
gleichfalls verließ und mich Minuten später droben auf dem flachen
Dache des
Old-Palastes befand. Amalie ahnte nicht, wie wichtig mir ihre
Beobachtungen
waren. Ich kroch bis zur Dachrinne vorwärts und blickte in die Tiefe
hinab.
Gerade am Fuße der
Feuerleiter
drunten im Hofe bemerkte ich tatsächlich eine Gestalt, die dort um
diese Stunde
nichts zu suchen hatte. Ich besaß jedoch bessere Augen als die
Aufwärterin, und da die Person jetzt den Kopf hob, erkannte
ich zu meiner größten Verblüffung Ellen Clinton, die in einem
Männeranzug mit
Schiebermütze steckte und die dazu noch einen prall gefüllten Rucksack
trug.
Der Hofraum war bis
auf einige
Lieferautos leer.
Ellen schien sich
erst einmal
orientieren zu wollen, klomm dann aber recht flink die Feuerleiter
hinan und machte vor den Fenstern des
Privatbüros des Mr. Flox halt, schwang sich geschickt auf einen
Mauervorsprung
bis zum vierten Fenster und öffnete dieses mit der Gewandtheit eines
Einbrechers.
Es war der Kassenraum
des
Old-Palastes, in den sie eingedrungen war. — „Kassenraum“ war eine
etwas
großsprecherische Bezeichnung, denn Generaldirektor Flox ließ jede
Nacht nach
Geschäftsschluß die Geldbeträge noch zur Bank bringen, und der
veraltete
Geldschrank in dem „Kassenraum“ enthielt lediglich Geschäftsbücher und
die
zahllosen Briefe derer, die sich an dem großen Preisrätsel bisher
beteiligt
hatten. Gewiß, der Tresor war ein umfangreiches Ungetüm, — wir drei
wußten dies
am besten, und als Bickfort Tomsen, unser Spezialist ihn vor einiger
Zeit ohne
äußerliche Spuren dieser Eigenmächtigkeit geöffnet hatte, war dem
vielseitigen
jungen Absender der berüchtigten „gelblichen Briefe“ so manches an
diesem
Stahlschrank aufgefallen.
Jetzt schien Ellen
Clinton aus
noch nicht recht klaren Gründen dasselbe wie Bickfort versuchen zu
wollen. Das
Tun des Mädchens war mir wirklich unverständlich. Ellen wußte offenbar,
daß die
Wächter ihre Rundgänge erst um halb zwölf begannen und daß Mr. Seymour
Flox
heute Sonnabend das Wochenende auf seinem Landsitz an der Themse
verbrachte.
Die Zeit war also gut gewählt. Wie das junge Mädchen allerdings den
Tresor
allein ohne fremde Hilfe aufzuschweißen gedachte, blieb ein Rätsel.
Nachdem einige
Minuten
verstrichen waren, benutzte ich ebenfalls die Feuerleiter, landete
glücklich vor dem betreffenden Fenster und schob die Wolldecken, die
Ellen
innen befestigt hatte, etwas zur Seite.
Ich war gerade im
richtigen
Augenblick zur Stelle, denn soeben hatte Ellen ihrem Rucksack einen
elektrischen Schweißapparat kleineren Formats entnommen und wollte die
Anschlußschnur an einer Schaltdose befestigen, als unter einem der
Bürotische,
vor dem Musterkartons aufgehäuft waren, eine zweite Gestalt lautlos
hervorglitt, Ellen mit einer Laterne beleuchtete und ihr gleichzeitig
eine
Pistole entgegenhielt.
Es war erstaunlich,
wie gute
Nerven Ellen besaß.
Sie schrie weder auf
noch wich
sie ängstlich zurück, nein, sie heftete nur ihre Augen ganz fest auf
das durch
eine Maske völlig verhüllte Gesicht des zweiten Mannes und sagte
seltsam
scharfen Tones, wenn auch nur halblaut:
„Du solltest dich
schämen, Mac,
daß du all meine Schritte überwachst oder überwachen läßt. Ich erkenne
dich, du
kannst die Larve abnehmen, ich werde niemals so töricht sein, dich für
einen
der Drei von der Feme zu halten. Ich glaube kaum, daß wir beide uns
noch etwas
zu sagen haben. Meine Liebe zu dir war einer jener Irrtümer, die jedem
jungen
Mädchen, das in bescheidenen Verhältnissen lebt und sich plötzlich von
einem
anscheinend sympathischen Manne umworben sieht, zustoßen kann. Du hast
mich zu
bitter enttäuscht. Du wünschtest nicht eine Bekanntschaft mit mir
anzubahnen,
sondern die Sekretärin Kommissar Hemmerfolks wolltest du aushorchen.
Hinterher
ist mir das alles klar geworden. Deine Absichten zielten von vornherein
darauf
ab, dir die ausgesetzte Belohnung von fünftausend Pfund für die
Ergreifung der
Drei von der Feme zu sichern — durch mich! — Willst du etwa noch
weiter
Komödie spielen und leugnen, daß du Macdonald Forster bist?! Eins
verrät dich
trotz der viel zu weiten Handschuhe und trotz deiner Maskerade: Dein
Parfüm! Du
solltest damit wechseln. Du bist Mac!“
Die Person, die der
enttäuschten
und empörten Ellen auf zwei Schritt gegenüberstand, senkte jetzt die
Waffe und
erwiderte mit verstellter, dumpfer Stimme, die mich freilich nicht
täuschen
konnte:
„Miß Ellen, Sie
befinden sich in
einem bösen Irrtum. Ich bin nicht Ihr Verlobter, — daß er dasselbe
Parfüm
bevorzugt, ist ein Zufall. Da — sehen Sie meine Hand. Ist das die Hand
Macdonald Forsters?!“
Der Fremde hatte
schnell den
rechten Handschuh abgestreift.
Ellen flüsterte
ungläubig: „Oh, —
eine Frau! Das ist eine Frauenhand! — Wer sind Sie?!“
Aber die Maskierte
schüttelte
energisch den Kopf.
„Mein Name tut nichts
zur Sache.
Trotzdem können Sie mich nach den Worten, die Sie soeben an Mac Forster
zu
richten glaubten, als Ihre Verbündete betrachten.“
Jetzt verstellte
Evelyn Baaker,
die Schwester unseres gefährlichen Gegners, der in Wahrheit
„unsichtbare
Kongolöwe“, ihre Stimme nicht mehr.
In herzlicher
Anteilnahme ergriff
Evelyn Ellens Hand. „Was wollten Sie hier? Schnell, — — wir haben nicht
mehr
viel Zeit . . . Seien Sie ehrlich! Auch ich bin es. Ich bin vor Ihnen
eingeschlichen und wollte ebenfalls den Tresor öffnen, freilich nicht
mit
Gewalt, das ist nicht notwendig. Es geht auch ohne Ihre
Einbrecherwerkzeuge,
Ellen Clinton. Da, — geben Sie acht . . .!“
Sie trat schnell vor
den
Stahlschrank hin, berührte wie spielend eine der Zierrosetten neben
denn
Schloß, und die schwere Tür schwang geräuschlos nach außen.
Ellen hatte sich vor
Staunen
kerzengerade aufgerichtet. Unter ihrer tief ins Gesicht gezogenen Mütze
leuchteten ihre Augen vor Freude und Triumph.
Evelyn Baaker drehte
sich nach
ihr um und fragte nochmals in demselben warmen, freundlichen Tone:
„Nun, Kind, — was
wollten Sie
hier?“
Ellen senkte schnell
den Kopf.
Sie war verlegen, — man fühlte, wie schwer ihr das Lügen wurde.
„Ich . . . ich . . .
brauche
Geld!“, stammelte sie noch scheuer.
Die Schwester des
berühmten Harry
Baaker seufzte enttäuscht. „Schade um Sie, Ellen Clinton! Ich hätte
mehr von
Ihnen erwartet. Ich habe Ihnen den Weg zum Inhalt des Tresors
freigemacht. Ist
das Ihr Dank, Ellen?!“
Ellen lehnte halb
verzweifelt an
einem Aktenregal.
„Ich . . . darf Ihnen
nicht die
Wahrheit sagen“, flüsterte sie, gegen die aufsteigenden Tränen umsonst
ankämpfend. „Meine Ansichten über Recht und Unrecht sind so ganz
andere, als
Sie sie vertreten dürften.“
Evelyn Baaker beugte
sich vor und
legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. „Kind, geht es um die Drei
von der
Feme?“, fragte sie nachsichtig und liebevoll.
„Ja!“, erwiderte
Stuart Clintons
einziges Kind jetzt ohne Zögern.
Evelyns Hand sank
herab.
„Ich fürchtete es . . .“, meinte
sie leise. „Obwohl ich die Zusammenhänge nicht ganz verstehe . . .“ —
Ich verstand sie. Das
genügte. Mir war plötzlich
eine Offenbarung gekommen, wer der stille Kompagnon Seymour Flox war, —
dieses
schattenhafte Wesen, das in den Direktionsräumen des Old-Palastes immer
erst
nach Mitternacht wie aus dem Nichts auftauchte und mit Flox so leise
Gespräche
führte, daß unsere Abhöranlage zumeist versagte.