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Märchen der
Völker
Stefan Mart
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M'sieur
Bonbon
Das
Gespenst einer
französischen Kleinstadt
M'sieur
Bonbon war nicht etwa ein Krämer, Konditor oder Zuckerbäcker,
noch Verkäufer von Süßigkeiten irgendwelcher Form, wie vielleicht sein
Name vermuten läßt, sondern ein Spielwarenhändler nach alter guter Art.
In Châlon kannte ihn jedermann. Die drei nebeneinander liegenden und
niedrigen Schaufenster seines Geschäftes zogen die Blicke der
Vorübergehenden schon von weitem an. Sie waren von oben bis unten mit
den schönsten Sachen angefüllt und wenn man vor ihnen stand, wußte man
nicht, wo man zuerst hinschauen sollte. Wollte man die Schrift lesen,
die über den drei Fenstern prangte, so mußte man schon etwas
zurücktreten. Dann aber sah man an der Fassade des baufälligen Hauses
große Buchstaben, die wie aus Brotteig geknetet aussahen, und wenn man
sich dann noch die Mühe machte, sie zu entziffern, so kam heraus, daß
es: "Zum Paradies der Kinder" heißen sollte. Trat man durch die
Ladentür ein, so erklang ein ganzes Glockenspiel. Während die
Glockenklänge noch in der muffigen Luft des niedrigen Ladens
ausklangen, noch um die vielen Sachen webten, begann sogleich eine
Spieluhr zu spielen, deren Räderwerk durch Mechanik ausgelöst zu sein
schien: "Ping! ping! ping!"
Baei
la, Baei la wach auf!
Der
Mond beginnt seinen Lauf;
Die
Sonne ging lange unter.
Komm
runter! komm runter!
Ba ei
ei ei ei ei ei ei ei ei la!
Es
war allerdings stets dasselbe Lied, doch hörte man es immer wieder
gern. Bei dem letzten lang gezogenen Wort "Baeila" öffnete eine
lebensgroße Puppe den Mund und sang es mit: "Ba ei ei ei ei el ei la!"
Das war M'sieur Bonbon selbst; er liebte es. seine Besucher zu
überraschen. - Wenn man sich nun nach diesem Empfang belustigt umsah,
kam man auf die Idee, man befände sich in einem dichten, märchenhaften
Urwald, der in grotesker und mannigfaltiger Farbenpracht leuchtete. Die
vielen Sachen und Sächelchen dieser Spielzeughandlung zu beschreiben,
wäre fast ein Ding der Unmöglichkeit. Machte
man einige Schritte vorwärts
auf den alten Fußbodendielen, bewegten sich durch diese Erschütterung
sämtliche von Decken und Wänden hängenden, in Haufen und Pyramiden
aufgeschichteten Gegenstände; die Chinesen wackelten mit den Köpfen,
die Affen an langen Gummibändern wippten, die Sprungfederteufelchen
nickten und alles schaukelte ganz leise auf und ab und hin und her.
Auch allerlei Geräusche lösten sich bei diesem Wippen und Nicken: dort
zirpte es oder quakte etwas; hier piepte oder zwitscherte es; hinten in
der Ecke tönten die Schellen an einem langnasigen Puccinello und unter
der Decke vibrierten und klangen die Saiten an einer Geige. Und
zwischen allem hindurch - mag der Teufel wissen, wie es zuging! -
schrie eine Puppe: "Mama!" - Aber lassen wir das, kehren wir uns dem
M'sieur Bonbon und seinen Eigenschaften zu! Sein Äußeres war amüsant,
und wir wollen es nicht ganz übergehen. Über alle Ecken und Winkel
seines Gesichtes verteilte sich ein Schmunzeln, das niemals wich und
das ihn zusammen mit dem ewigen Händereiben als einen gemütlichen und
sinnvollen Menschen erscheinen ließ; was er denn auch wirklich war.
Seine Hemden und Kragen waren mit bunten Blümchen durchwirkt; über der
Weste trug er drei bis vier komplizierte und sehr anschauliche Ketten;
die Hosen waren auffallend kurz und ließen knallrote Socken sehen. Auf
seinem Kopfe aber trug er eine weißseidene Kappe, die die Form eines
zusammengefalteten Papierschiffes hatte. - Wenn vor seinen Fenstern
sich eine Schar Kinder angesammelt hatte, die ihre Nasen platt an die
Scheiben drückte, um besser sehen zu können, so tat er es ihnen nach
und lud sie nach einer Weile ein, allesamt zu ihm herein zu spazieren.
Dann wiederholte sich, was wir schon wissen: Glockentöne, Spieluhr und
"Ba ei ei ei ei la!" so daß die Kinder in die Hände klatschten und vor
Freude aufschrieen. - "Herein
- herein -
hereinspaziert!" sang M'sieur Bonbon und holte eins nach dem andern
weiter in den Laden hinein. - "Hier, mein kleiner Pfiffikus, sind
Trudelbänder, Peitschen, Kreisel. Hier Zaumzeug für die wilden Pferde
und Menagerie. Hier! alle her! Hier kommen Soldaten aufmarschiert mit
Trommel und Trompeten, und das hier ist der Kommandant! Hierher!
Charlotte, Amély und Jeannette - hier gibt es Kochherde, Badewannen,
bunte Bälle, Puppen wie die Orgelpfeifen. In Kästen, Schaukeln, kleinen
Bettchen. Faß an, mein Schatz! - faß an, mein Spatz! - auch du faß an,
mein kleiner Matz!" - So gab er einer nach der anderen eine Puppe in
die Hand und ließ die Kleinen mit der freien Hand alles streicheln und
befühlen, worauf sie sich in ihrer ungestümen Freude stürzten. Ha,
M'sieur Bonbon freute sich, wenn die blanken Kinderaugen aufleuchteten
und lachten und wenn das kleine rote Ding in ihrer Brust beim Anblick
all der schönen Sachen hüpfte. Schnell sprang der Spielwarenhändler
hinter die Kasparbude und ließ - unter Jauchzen und Jubilieren der
Kinder - das lustige Kasperle den bösen Teufel mit einem großen
Holzhammer totschlagen. Und wenn M'sieur Bonbon noch ganz besonders
guter Laune war, warf er dem größten Schaukelpferd Zaumzeug und Leine
um, bückte sich dahinter auf Knien und Händen zur Erde nieder und ließ
die ganze Gemeinde Huckepack sitzen. - "Karosse, ho! mein Pferdchen,
ha! - Adieu Papa! Adieu Mama! - Jetzt fahren wir nach Amerika!"
Wenn
die Kinderchen dann wieder zuhause waren, quälten sie ihre Eltern
wohl heftig; die einen wollten dies, die andern das und in ihren
Träumen riefen sie nach den schönen Spielsachen des M'sieur Bonbon. Dem
Spielwarenhändler, der wirklich ein Kinderfreund war, hatte es
eigentlich nicht in der Absicht gelegen, durch solche Methode die
Eltern der gesamten Kinder des Städtchens Châlon in seinen Laden zu
locken. Auf diese Weise war er aber doch zu einem gewissen Wohlstand
gekommen. Überhaupt hatte er in seinem sorgenlosen Gemüt nie so recht
die Qual um die Existenz kennengelernt. Den Spielwarenladen hatte er
von seinem Vater geerbt und in ganz Châlon und Umgebung hatte sich nie
eine Konkurrenz aufgetan. In zehn Jahren, so hatte sich oft M'sieur
Bonbon ausgerechnet, könne er diesen dumpfen und ungesunden Laden
verlassen und in aller Herrlichkeit als Privatier ein beschauliches
Leben führen. Daß es mal anders kommen könne, war ihm niemals in seinen
Sinn gekommen. Das Wohl und die Sicherheit der privatisierenden Bürger
Frankreichs überließ er mit unerschütterlichem Vertrauen auf die
Regierung, dem Grand Père seines Vaterlandes, der dafür sorgte, daß es
so war und so blieb. Dieser Grand Père würde Krieg führen, wenn es
einer auf der Welt wagen wollte, ihn, M'sieur Bonbon, und
seinesgleichen das Recht auf einen sorglosen Lebensabend streitig
machen.
Mit
solchen Gedanken, die eigentlich zum erstenmal in seinem Kopfe spukten,
ging er
am 25. Oktober seinen allabendlichen Weg zum Marktplatz, wo er in einer
kleinen
Weinstube seinen Stammtisch hatte. Als ob es in der Luft läge, wurde
ihm heute
abend bei seinem Gläschen Wein am Tisch von Monsieur Aboux, dem Maire
von
Châlon, verkündet, daß eine Gesellschaft aus Orleans den großen und
freien
Platz, dem Rathaus gegenüber, gekauft hätte, um allhier nach völlig
neuzeitlichen Begriffen ein Warenhaus zu errichten, wie es wohl selbst
in der
Hauptstadt Paris nicht zu finden sein würde. - "Also, M'sieur
Bonbon," sagte noch der Maire, "jetzt gibt es zum ersten Male für Sie
eine Konkurrenz. Jedes Warenhaus hat, wie Sie wissen, im besonderen
eine große
Spielwarenabteilung. In einem Jahr soll der moderne Kasten fertig
sein!"
M'sieur Bonbon hatte auf diesen Bericht hin, ohne ein Wort zu erwidern,
seinen
Rotspon ausgetrunken und war etwas schwach in den Knien nach Hause
gegangen. Ein Jahr war
verflossen. Das Warenhaus "Le
Soleil" war bunt bewimpelt. Der mächtige Bau ging seiner Vollendung,
sagen
wir lieber gleich seiner "Eröffnung" entgegen. Alle kleinen
Geschäftsleute zitterten; sie sahen ihren
unausbleiblichen Ruin voraus.
Da
passierte
etwas Sonderbares, das die friedlichen Bürger von Châlon in heftige
Aufregung
versetzte. In der Häuserreihe einer, am oberen Ausgang der Stadt
gelegenen
Straße, war in der Nacht vom 9 - 10. Oktober in allen Etagen ein
Gespenst
erschienen und hatte den schlafenden Kindern alle möglichen Arten von
Spielsachen in die Kissen und unters Deckbett geschoben. Obgleich man
an ein
Gespenst nicht recht glauben wollte, so war doch das Vorhandensein der
verteilten Spielsachen eine unumstößliche Tatsache. Wieder war nach
einigen
Tagen große Aufregung. Das Gespenst verschenkte wieder. Die Zeitungen
brachten
spaltenlange Artikel: "Wie kamen die funkelnagelneuen Spielsachen des
Nachts in die Hände der Kinder?" Auf der Straße rotteten sich die
Menschen
zusammen; es war eine verteufelt komische Angelegenheit. Nun passierte
es in
der "Rue du Dragon", im Hause der kleinen Jeanette, daß diese am
Morgen,
als sie aus ihrem Bette stieg, die große Charakterpuppe mit dem echten
Blondhaar und den wunderschönen kornblumenblauen Augensternen in ihrem
Arm
hielt; dieselbe Puppe, die Jeanette sich seit langem sehnsuchtsvoll
gewünscht
hatte. Befragt, wie sie zu dieser Puppe käme, kam die Kleine mit
folgender Geschichte: Um
zwölf Uhr nachts sei sie
aufgewacht. Der Mond schien, da habe sie in dem zittrigen Nachklingen
der
Glockenschläge, die von der großen Turmuhr an ihr Fenster
hallten, die
leise Melodie einer Spieluhr vernommen. Zu
dieser spielenden Melodie habe sie eine wohlbekannte Stimme
ebenso
leise singen gehört: " . . . Ba ei ei ei ei la." - Darauf sei ein
Gespenst erschienen, das sie recht freundlich angeschmunzelt, und das
sie trotz seiner Durchsichtigkeit mit Bestimmtheit als M'sieur Bonbon
erkannt habe, der ihr mit lieblichen und netten Worten die Puppe
überreicht habe und dann mit vielen andern Spielsachen unterm Arm
eiligst davongeflogen sei. -
Jetzt war es heraus! In allen
Häusern der
Stadt waren die Kinder in solcher
Weise nachts von einem Gespenst beschenkt worden. Nun erinnerte man
sich, M'sieur Bonbon lange nicht gesehen zu haben; er mußte also tot
sein. Überall war das freundliche Gespenst in der Nacht erschienen und
hatte durch Fenster und Türen, hinter Gardinen und aus Ecken heraus den
Kinderchen mit feinen Spieluhrklängen, Glockengeläute und Baeila-Singen
die Spielsachen aufs Bett gereicht, und oft standen morgens
Schaukelpferde, Puppenwagen und gefüllte Küchenstuben neben dem Bett
oder auf den Schränken. Ja, wenn die Eltern in ihren Kästen und
Schubladen kramten, fanden sie immer noch neue Spielsachen für ihre
Kleinen. Nun war es heraus: Das freundliche Gespenst "M'sieur Bonbon"
verschenkte seine gesamte Ware an die Kinder der Stadt Châlon. Man
stürzte zu seinem Spielwarenladen, zwei Amtspersonen voraus, die den
Auftrag hatten, der Sache auf den Grund zu gehen. Die
Tür war unverschlossen; an der Scheibe klebte ein Zettel: "Man bediene
sich, ich habe nur noch zu verschenken!" Aber
es war nicht mehr viel
da; der baufällige Laden gähnte in gräulicher Leere. Mitten in der
muffigen Luft wurde ein durchsichtiges Etwas bemerkbar, das bei
scharfem Hinsehen unverkennbar in den Umrissen M'sieur Bonbon war. Man
sah wieder sein Schmunzeln, sein Händereiben, und jedem wurde in
Erinnerung dieses prächtigen Menschen etwas weinerlich zu Mute. Die
Amtspersonen traten gewichtig in Funktion; sie versuchten, das
Übriggebliebene an sich zu nehmen; aber jedes Stück wurde ihnen vor
aller Augen mit einem leisen "Oho!" von einer unsichtbaren Hand wieder
entrissen. Die entrissenen Stücke aber reichte das Gespenst den
herumstehenden Kindern, die tüchtig zugriffen und eiligst davonliefen.
Als alles ausgeräumt war, ertönte aus den Ecken, fern wie aus einer
anderen Welt, ein Glockengeläute. Eine feine Spieluhr stimmte
wundervoll ein und füllte mit silbernem Klingen die Luft: "Ping! ping!
ping! ..."
Baei
la, Baei la wach auf!
Der
Mond beginnt seinen Lauf;
Die
Sonne ging lange unter.
Komm
runter! komm runter!
Ba ei
ei ei ei ei ei ei ei ei la! -
Als
es der Warenhausgesellschaft klar wurde, daß das Gespenst des
Kleinhändlers M'sieur Bonbon ihr das Spielwarengeschäft auf mindestens
ein Jahr gänzlich unterbunden hatte, ließ sie aus Pappmachee eine
kleine Figur herstellen, die das genaue Abbild des Verstorbenen war.
Die leere Spielwarenabteilung nahm nun en gros diese originelle Figur
auf und machte mit ihr ein großes Geschäft. Jeder Einwohner der Stadt
Châlon, ob reich ob arm, kaufte sich das so sympathische "Gespenst des
M'sieur Bonbon".
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