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Märchen der
Völker
Stefan Mart
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Die
chinesische Nachtigall
Chinesisches
Märchen
Es
ist schon lange, sehr lange her, da lebte in der Provinz Kuku-khoto,
hoch oben auf dem Mülliberg hinter den verödeten Mauern des Schlosses
"Hall", eingesperrt und bewacht von einer bösen Tante, die kleine
zierliche Prinzessin Tandaradei. Diese Tante, mit Namen Fifidschall,
alt und welk wie die pergamentenen Blätter uralter Folianten, mißgönnte
der Nichte ihre Schönheit und Jugend. Neiderfüllt schmiedete sie in
ihrer Bosheit immer neue Ränke, um dem schönen Mädchen ihr Recht am
Leben und an der Welt vorzuenthalten. Das war eine unerträgliche Qual.
Blaß und mit verweinten Augenlidern saß die Prinzessin Tag und Nacht in
den Nischen der vergitterten Fensterhöhlen und schaute sehnsuchtsvoll
über die weiten Wälder in das Land. Ihre Peinigerin aber stand ständig
daneben und verfolgte ihr Tun und Treiben mit den unsteten Blicken
einer Eule. Selbst wenn das arme Mädchen am Fenster eingeschlafen war,
wich die Tante nicht von ihrer Seite; die falsche Wächterin der Tugend
wachte unentwegt und schlief nie. So gab es kein Entrinnen. Außerdem
waren Tür und Tor verriegelt und die Mauern hoch. Das schlimmste aber
war, daß kein lebendes Wesen sich dem Schlosse nähern konnte. Draußen
vor dem Mülliberg lag ein grausiges Ungeheuer, ein riesiger Drache, der
Schwefel und Feuer spie. Von seiner hohen Warte aus erspähte er mit
seinen stachelumsäumten Schlangenaugen im Umkreis von einer Meile jedes
Stück Wild; das kleinste Kaninchen konnte sich seinen Blicken nicht
entziehen, geschweige denn ein Jüngling oder Rittersmann, der es wagen
sollte, sich der Feste zu nähern, um Prinzessin Tandaradei zu sehen
oder gar zu entführen. Gefüttert mit den besten Leckerbissen, mit
Kosenamen belegt, war dieser gefährliche Drache ein Verbündeter der
Tante. Er war ihr zugetan wie ein Schoßhündchen und gehorchte ihr auf
den Wink.
Prinzessin
Tandaradei aber gab die Hoffnung nicht auf. Sie besaß eine treue Seele,
eine ergebene Dienerin - das war die Nachtigall. Von dieser Nachtigall
erhoffte sie ihre Befreiung. Die schöne Gefangene trug heimlich auf der
Brust einen fünffarbigen Edelstein, der aus dem Haupte des Drachens
stammte und die Eigenschaft besaß, jedes gefiederte Tier, das in seiner
Nähe weilte, unsichtbar zu machen. Dank dieses Zaubersteines konnte die
Prinzessin den Vogel vor den Blicken der Tante verbergen. Dieser lebte
in den weiten Falten ihres kostbaren Indigomantels, der reich mit Gold
geschmückt und mit den seltensten Fellen der chinesischen Feuermaus
verbrämt war. In
jedem Jahre einmal, und zwar im Hochsommer,
wenn die Rauhrosen blühten,
schwang sich die Nachtigall, die geflügelte Dienerin hinaus zum
Schlosse, um von dem Herzeleid und der Sehnsucht ihrer jungen Herrin zu
singen. Doch bisher waren ihre Klagelieder in alle Winde verhallt.
Wieder
war es Hochsommer geworden. Wieder flog die Sendbotin der gefangenen
Prinzessin hinaus. Dieses Mal aber in eine, den sonstigen Ausflügen
entgegengesetzte Richtung. Nach
einigen Tagen gelangte sie, weit
entfernt von der Provinz Kuku-khoto, in einen ausgedehnten Park, suchte
sich ein lauschiges Plätzchen und wartete, bis der Mond aufging. Hier
in diesem Park, in Chinas altehrwürdiger Romantik, lebte auf seinem
Sommersitz ein reicher Mandarin, namens Tschin-Tschin. Ein bequemer
Herr, ein Feinschmecker und Witwer dazu. Mit seinen blanken
Pausbäckchen und seinem runden Bäuchlein sah er der Pagode des großen
Tempels Montoro nicht ganz unähnlich. - Der Mond zog auf. - Nun sang
die Nachtigall. Tju tju tju tju, Tandaradei! Ihr Lied drang durch die
Nacht, durch die schlafende Sommerherrlichkeit
des
Mandarinengartens, drang
in die offenen Gemächer des Hauses bis in die Ohren des dicken
Tschin-Tschin, der nicht schlafen konnte
und Langeweile hatte.
Tschin-Tschin zog die Augenbrauen hoch, spitzte die Lippen, pfiff "tju
tju" und trippelte mit erhobenen Zeigefingern hinaus in den Garten.
Heute sang die Nachtigall herzzerreißend. Es schmetterte und
schluchzte, es jauchzte und klagte wie die unüberwindliche Sehnsucht
eines Mädchenherzens. Das gefiel dem
dicken Tschin-Tschin besonders
gut. Er wünschte sich schon lange eine kleine zierliche Frau, die nach
ihm so sehnsüchtig schmachtete wie das Lied dieser Nachtigall. Um
besser hören zu können, stellte sich der Mandarin auf seine Zehen. Wie
erschrak aber der Lauscher , als sich das Tirilieren der Nachtigall
plötzlich in ein menschliches Singen verwandelte. Eine helle
Mädchenstimme sang von ihrem Leid:
Oh,
rette mich aus meiner Pein!
Ich
bin ein schönes Mägdelein. Tandaradei!
Bin
eingeschlossen Tag und Nacht,
Herr
Drachenbart hält mich bewacht. Tandaradei!
Am
Mülliberg im Schlosse Hall,
Quält
mich die Tante Fifidschall. Tandaradei!
Erschlag'
den Drachen, führ mich heim,
Dann
will ich gern die Deine sein. Tandaradei!
So
ein wunderliches Abenteuer hatte Tschin-Tschin sich immer erträumt: Ein
Königs- oder Fürstenkind von einem Drachen zu befreien, einen
Zauberbann zu brechen und sich einer kleinen zierlichen Frau als
Befreier und Held anbetungswürdig zu machen. Ein nie geahnter Mut
beseelte ihn. Er eilte in das Haus zurück und befahl seiner
Dienerschaft, ihm in aller Stille bei den Vorbereitungen zu helfen.
Seine Vorsicht war in der Befürchtung begründet, sein Neffe, der bei
ihm zu Besuch weilte und den Seitenflügel seiner Residenz bewohnte,
könne von dem Plan seiner Freierfahrt erfahren. O Okasi, so hieß der
Neffe, war schlank und stark, eisernen Keulen gleich, und diente als
Offizier im Kaiserlichen-Schwerter-Regiment zu Peking. -
Ein
hohes Maultier wurde gesattelt. Der Mandarin putzte eigenhändig sein
Schwert, zog eine goldene Rüstung an und machte sich noch in der Nacht
und ohne Begleitung auf zum Mülliberg.
Es
wurde eine beschwerliche Reise. Viel Ungemach, großes und kleines,
hatte Tschin-Tschin zu erdulden. Wilde Hunde, tückische Fasane,
mächtige Schwärme von Waldvögeln, sowie große Sonnenspinnen mit ihren
Weben kreuzten seinen Weg und versuchten, den geharnischten Ritter an
seinem Vorhaben zu hindern. Mut und Rüstung hatten schon erheblich
gelitten, als sich der
Mandarin entschloß, umzukehren. Auf seinem
Rückzug geriet er in einen dichten Wald, in dem ein furchtbarer
Spektakel herrschte, den rundherum die Echos der Berge wie aus
brausenden Schleusen zurückwarfen. Fast seiner Sinne beraubt, erkannte
Tschin-Tschin bald die Ursache. Der ganze Wald wimmelte. Die nördlichen
Wollaffen hatten den Bibjjuuten, einem Stamme der
Blauseidenmeerkätzchen den Krieg erklärt und zogen in unabsehbaren
Massen in den Kronen der Bäume gegeneinander, bewaffnet mit
Wurfgeschossen, Steinen und Knütteln. Um im Dickicht des Waldes einen
Weg zu haben, trabte
Tschin-Tschins Reittier im Bett eines reißenden
Sturzbaches, der mit der dazugehörigen Waldlichtung die feindlichen
Heere voneinander trennte. Als die kampflustigen Affen und Meerkatzen
des sonderbaren Reiters ansichtig wurden, vergaßen sie ihren
gegenseitigen Haß und schleuderten wie auf Kommando ihre Geschosse auf
den goldflimmernden Mandarinen und seinen Maulesel. Der
Maulesel wurde wild und raste im Galopp
davon. Diesem Umstand allein
hatte Tschin-Tschin seine Rettung zu verdanken. Da der Maulesel in
seinem Schrecken umgekehrt war, kam der entmutigte Freiersmann
unversehens zu seinem Ziele. Die Grenze der Provinz Kuku-khoto war
überschritten und als der Tag sich neigte, sah Tschin-Tschin durch
mächtige Fichtenstämme hindurch das Schloß "Hall" in der Abendsonne
leuchten. Aber auch der Drache hatte ihn gesehen und stürzte sich in
den Wald, ihm entgegen. Der dicke Mandarin hatte wohl an ein schönes
Mädchen geglaubt, aber nie so recht an einen Drachen. Er ließ vor
Schreck sein Schwert fallen, warf sich zur Erde, rang die Hände und
flehte alle chinesischen Götter um Beistand an. Der Hagel- und
Feuergott kam dem armen Tschin-Tschin zur Hilfe. Ein furchtbarer Taifun
wetterte los, zerbrach die mächtigen Fichtenstämme wie Zündhölzer, warf
sie durcheinander und erschlug so den Drachen. Erlöst atmete
Tschin-Tschin auf und war bald wieder voller Mut. Seine Sehnsucht nach
der Prinzessin Tandaradei wurde stärker denn je.
Der
Mandarin tauchte sein Schwert in Drachenblut und kletterte geräuschvoll
klappernd auf das Schloß. Hier durchstürmte er, fiebernd nach dem
Antlitz des schönen Mädchens, die Gemächer. "Tandaradei! Tandaradei!
Dein Befreier kommt!" Aber das Schloß blieb still und leer. Oh,
Enttäuschung. Alle Liebesmüh, alle Herzensangst war also vergeblich
gewesen... Plötzlich fühlte er sich von hinten gestreichelt. Hochrot
vor Freude drehte er sich um und öffnete seine Arme - doch, statt der
schönen Tandaradei warf sich ihm die alte häßliche Tante Fifidschall an
sein pochendes Herz. Als er sie entrüstet von sich stieß, nahm sie eine
drohende Haltung ein und sprach mit scharfer Zunge: "Ich habe Dich im
Verdacht, an der Entführung meiner Nichte Tandaradei beteiligt zu sein;
ich habe Dich ferner im Verdacht meinen Drachenbart getötet zu haben.
Zur Strafe werde ich Dich liebloses Wesen zähmen, wie ich den Drachen
gezähmt habe."
Tschin-Tschin
floh. Aber es half nichts; die böse Tante heftete sich dem Entsetzten
an die Fersen.
Als
der enttäuschte Mandarin in Begleitung der Tante daheim angekommen,
fand er in seinem Garten eine feierliche Stimmung. Überall schaukelten
bunte Laternen und erleuchtete Papierfische zum Zeichen der Freude. Und
inmitten der Pracht stand sein Neffe O Okasi, fest umschlungen von der
zierlichen kleinen Tandaradei, die er sich vor seinem Onkel geholt
hatte. Auch
er hatte in der Nacht, von seinem Lager aus, das Klagelied der
Nachtigall vernommen. Ohne zu
säumen, war er aufgesprungen, hatte sich
beschwingten Fußes, ohne Waffen, auf den Weg gemacht und war in knapp
fünfzehn Stunden am Fuße des Mülliberges. Den Drachen hatte er ruhig
schlafen lassen, hatte den Berg von rückwärts erklommen und war mit
allen möglichen Sprungkünsten der hohen Mauern des Schlosses Hall Herr
geworden. Ein ganzes Eisengitter aus dem morschen Gebälk eines
Fensterrahmens herauszureißen, war für den kühnen Jüngling ein leichtes
gewesen. In dem Augenblick nun, in dem die böse Tante sich umdrehte, um
zu niesen, hatte O Okasi die zierliche Prinzessin aus dem offenen
Fenster in die Freiheit gehoben.
Hierauf war er stehenden Fußes
umgekehrt. Die leichte Libellengestalt in seinen starken Armen tragend,
war er darauf, ohne zu säumen, auf den Morgen, den Mittag und Abend
Lobhymnen singend, in die Residenz seines Oheims zurückgeeilt und hatte
alles zu einem Freudenfeste herrichten lassen. Prinzessin Tandaradei
war schön wie eine Maiennacht mit Lotosblütenstaub und sie lauschte mit
ihrem Befreier entzückt dem Geschmetter der Nachtigall, der sie beide
dieses große Glück zu verdanken hatten.
In
Erinnerung dieser Ereignisse verbot Tante Fifidschall ihrem dicken
Tschin-Tschin, jemals wieder des Nachts in den Garten zu gehen, um eine
Nachtigall singen zu hören.
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