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Literatur



04.2


Sagen aus Deutschland

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Die drei Nüsse

Daniel Wilhelm Möller, Professor und Bibliothekar zu Altorf, lebte im Jahr 1665 in Kolmar als Hofmeister der drei Söhne des Bürgermeisters Maggi. Im Oktober dieses Jahres hatte der Bürgermeister einen reisenden Alchimisten zum Gaste, und als bei dem Nachtische der Abendmahlzeit unter anderm Obste auch welsche Nüsse auf die Tafel gesetzt wurden, sprach die Gesellschaft mancherlei von den Eigenschaften dieser Frucht. Da aber die drei Zöglinge Möllers etwas unmäßig zu den Nüssen griffen und sie lustig nacheinander aufknackten, verwies Möller es ihnen freundlich und gab ihnen folgenden Vers aus der Schola Salemitana zu verdeutschen auf: "Unica nux prodest, nocet altera, tertia mors est." - Da übersetzten sie: "Eine Nuss nützt, die zweite schadet, der Tod ist die dritte." Möller aber sagte zu ihnen, diese Übersetzung könne unmöglich die rechte sein, da sie die dritte Nuss längst genossen und doch noch frisch und gesund seien; sie möchten sich eines Bessern besinnen.  Kaum waren diese Worte gesprochen, als der Alchimist mit Bestürzung plötzlich vom Tische aufsprang und sich in der ihm angewiesenen Stube verschloss, worüber alle Anwesende in nicht geringer Verwunderung waren. Der jüngste Sohn des Bürgermeisters folgte dem Fremden, um ihn auf Befehl seines Vaters zu fragen, ob ihm etwas zugestoßen sei; da er aber die Türe verschlossen fand, sah er durch das Schlüsselloch den Fremden auf den Knieen liegen und unter Tränen und Händeringen mehrere Male ausrufen: "Ah, mon Dieu, mon Dieu!"

Kaum hatte der Knabe seinem Vater dies hinterbracht, als der Fremde sich von dem Diener zu einer einsamen Unterredung melden ließ. Alle entfernten sich. Da trat der Alchimist herein, fiel auf die Kniee, umfasste die Füße des Bürgermeisters und flehte ihn unter heftigen Tränen an: er möge ihn nicht vor Gericht bringen, er möge ihn vor einem schmählichem Tode erretten.

Der Bürgermeister, heftig über seine Rede erschrocken, fürchtete, der Mensch möge den Verstand verloren haben, hob ihn von der Erde auf und bat ihn freundlich: er möge ihm sagen, wie er auf so schreckliche Reden komme. Da erwiderte der Fremde: "Herr, verstellen Sie sich nicht, Sie und der Magister Möller kennen mein Verbrechen; der Vers von den drei Nüssen beweist es: tertia mors est, die dritte ist der Tod; ja, ja, eine bleierne Kugel war es, ein Druck des Fingers, und er schlug nieder. Sie haben sich verabredet, mich zu peinigen. Sie werden mich ausliefern, ich werde durch Sie unter das Schwert kommen."

Der Bürgermeister glaubte nun die Verrücktheit des Alchimisten gewiss und suchte ihn durch freundliches Zureden zu beruhigen. Er aber ließ sich nicht beruhigen und sprach: "Wenn Sie es auch nicht wissen, so weiß es doch Ihr Hofmeister gewiss, denn er sah mich durchdringend an, als er sagte: "tertia mors est." Nun konnte der Bürgermeister nichts anderes tun, als ihn bitten, ruhig zu Bette zu gehen, und ihm sein Ehrenwort zu geben, dass weder er noch Möller ihn verraten würden, wenn irgend etwas Wahres an seinem Unglücke sein sollte. Der Unglückliche aber wollte ihn nicht eher verlassen, bis Möller gerufen war und ihm auch heilig beteuerte, dass er ihn nicht verraten wolle; denn dass auch er nicht das mindeste von seinem Unglücke wisse, wollte er sich auf keine Weise überreden lassen.

Am folgenden Morgen entschloss sich der Unglückliche, von Kolmar nach Basel zu gehen, und bat den Magister Möller um eine Empfehlung an einen Professor der Medizin. Möller schrieb ihm einen Brief an den Doktor Bauhinus und reichte ihm denselben offen, damit er keine Art von Verdacht schöpfen könne. Er verließ das Haus mit Tränen und nochmaligem Flehen, ihn nicht zu verraten.
Im folgenden Jahre um dieselbe Zeit, etwas drei Wochen später, als der Bürgermeister mit den Seinigen wieder Nüsse aß und sie dabei alle lebhaft an den unglücklichen Alchimisten erinnerten, ließ sich eine Frau bei ihm melden. Er hieß sie hereintreten; sie war eine Reisende in anständiger Tracht, sie trauerte und schien vom Kummer ganz zerstört, doch hatte sie noch Spuren von großer Schönheit. Der Bürgermeister bot ihr einen Stuhl an, stellte ihr ein Glas Wein und einige Nüsse vor, aber sie geriet bei dem Anblick dieser Frucht in eine heftige Erschütterung, die Tränen liefen ihr die Wangen herab: "Keine Nüsse, keine Nüsse!" sagte sie und schob den Teller zurück. Diese ihre Weigerung, mit der Erinnerung an den Alchimisten, brachte unter den Tischgenossen eine eigene Spannung hervor. Der Bürgermeister befahl dem Diener, die Nüsse sogleich wegzubringen, und bat die Frau, nach einer Entschuldigung, dass er ihren Abscheu vor den Nüssen nicht gekannt, um die Angabe des Geschäftes, das sie zu ihm geführt.

"Ich bin die Witwe eines Apothekers aus Lyon", sagte sie, "und wünsche mich hier in Kolmar niederzulassen. Die traurigsten Schicksale nötigen mich, meine Vaterstadt zu verlassen." - Der Bürgermeister fragte sie um ihre Pässe, auf dass er versichert sein könne, dass sie ihr Vaterland frei von allen gerichtlichen Ansprüchen auf sie verlassen habe. Sie übergab ihre Papiere, die in der besten Ordnung waren und ihr den Namen der Witwe des Apothekers Piere du Pont oder Petrus Pontanus gaben. Auch zeigte sie dem Bürgermeister mancherlei Atteste der medizinischen Fakultät von Montpellier, dass sie im Besitz der Fabrikationsrezepte vieler trefflicher Arzeneien sei.

Der Bürgermeister versprach ihr alle mögliche Unterstützung bei ihrer Niederlassung und bat sie, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen, wo er ihr Empfehlungen an einige Ärzte und Apotheker der Stadt schreiben wollte. Als er nun die Frau die Treppe hinauf führte und oben über den Flur weg, kam dieselbe bei dem Anblick eines kindischen Gemäldes in eine solche Bestürzung, dass der Bürgermeister fürchtete, sie möchte an seinem Arme ohnmächtig werden; er brachte sie schnell auf seine Stube, und sie ließ sich unter bitteren Tränen auf einen Stuhl nieder.

Der Bürgermeister wusste die Veranlassung ihrer Gemütsbewegung nicht und frage sie, was ihr fehle. Sie sagte ihm: "Mein Herr, woher kennen Sie mein Elend, wer hat das Bild an die Stubentür geheftet, an welcher wir vorübergingen?" Da erinnerte sich der Bürgermeister an das Bild und sagte ihr, dass es die Spielerei seines jüngsten Sohnes sei, welcher eine Neigung habe, alle Ereignisse die ihn näher interessierten, in solchen Malereien auf seine Art zu verewigen. Das Bild aber bestand darin, dass der Knabe, welcher das Jahr vorher den Alchimisten knieend und die Hände ringend in dieser Stube: "Ah, mon Dieu, mon Dieu!" hatte ausrufen hören, diesen in derselben Stellung und über ihn drei Nüsse mit dem Spruche: "Unica nux prodest, nocet altera, tertia mors est!" auf eine Pappe gemalt und an die Stubentüre, wo der Alchimist gewohnt, befestigt hatte.

"Wie kann Ihr Sohn das schreckliche Unglück meines Mannes wissen?" sagte die Frau; "wie kann er wissen, was ich ewig verbergen möchte, und weswegen ich mein Vaterland verlassen habe?"
Ihres Mannes?" erwiderte der verwunderte Bürgermeister; "ist der Chemiker Todenus Ihr Mann? Ich glaubte nach ihrem Passe, dass Sie die Witwe des Apothekers Pierre du Pont aus Lyon seien."
"Die bin ich," entgegnete die Fremde, "und der Abgebildete ist mein Mann, du Pont; mir zeigt es die Stellung, in welcher ich ihn zuletzt gesehen, mir zeigt es der fatale Spruch und die Nüsse über ihm."

Nun erzählte ihr der Bürgermeister den ganzen Vorfall mit dem Alchimisten in seinem Hause und fragte sie, wie er sich befinde, wenn er wirklich ihr Mann sei, der vielleicht unter fremden Namen bei ihm gewesen wäre.

"Mein Herr," erwiderte die Frau, "ich sehe wohl, das Schicksal selbst will, dass meine Schmach nicht soll verborgen bleiben; ich erwarte von Ihrer Rechtschaffenheit, dass Sie mein Unglück nicht zu meinem Nachteil bekanntmachen werden. Hören Sie mich an. Mein Mann, der Apotheker Pierre du Pont, war wohlhabend; er würde reich gewesen sein, wenn er nicht durch seine Neigung zur Alchimie vieles Geld verschwendet hätte. Ich war jung und hatte das große Unglück, sehr schön zu sein. Ach, mein Herr, es gibt schier kein größeres Unglück als dieses, weil keine Ruhe, kein Friede möglich ist, weil alles nach einem verlangt und verzweifelt und man in solche Bedrängnisse und Belagerungen kömmt, dass man sich manchmal gar, nur um des ekelhaften Götzendienstes los zu werden, dem Verderben hingeben könnte. Eitel war ich nicht, nur unglücklich; denn ich mochte mich auch absichtlich schlecht und entstellend kleiden, so wurde doch immer eine neue Mode daraus, und man fand es allerliebst. Wo ich ging und stand, war ich von Verehrern umgeben, ich konnte vor Serenaden nicht schlafen, musste einen Diener halten, die Geschenke und Liebesbriefe abzuweisen, und alle Augenblick mein Gesinde abschaffen, weil es bestochen war, mich zu verführen. Zwei Diener in der Apotheke meines Mannes vergifteten einander, weil ein jeder von ihnen entdeckt hatte, dass der andere ein Edelmann sei, der aus Leidenschaft zu mir unter fremden Namen in unsre Dienste gegangen war. Alle Leute, die in unsrer Offizin Arznei holten, waren dadurch schon im Verdacht, liebeskrank zu sein. Ich hatte von allem diesen nichts als Unruhe und Elend, und nur die Freude meines Mannes an meiner Gestalt hielt mich ab, mich an meiner Larve zu vergreifen und mich auf irgendeine Weise zu entstellen. Oft fragte ich ihn, ob er denn an meinem Herzen und guten Willen nicht  genug habe; er möchte mir doch erlauben, mein Gesicht, das so vieles Unheil stifte, durch irgendein beizendes Mittel zu verderben. Aber er erwiderte mir immer: "Schöne Amelie! Ich würde verzweifeln, wenn ich dich nicht mehr ansehen könnte; ich würde der unglücklichste Mensch sein, wenn ich den Tag in meinem rußigen Laboratorium vergebens geschwitzt habe und sich meine Augen abends nicht mehr an deinem Anblick erquicken könnten. Du bist der einzige klare Punkt in meiner finstern Bestimmung, und wenn ich alle meine Hoffnung nach schwerem Tagewerk zum Rauchfang hinausfliegen sehe, tritt mir alle meine Hoffnung am Abend in deiner Schönheit wieder entgegen." Er liebte mich zärtlich, aber Gott segnete unsere Liebe nicht, wir hatten keine Kinder. Als ich ihm meine Trauer hierüber einst sehr lebhaft mitteilte, ward er finster und sprach: "So Gott will und mir nicht alles misslingt, wird uns auch diese Freude werden." An einem Abend kam er spät nach Hause, er war ungewöhnlich froh und gestand mir, dass er heute mit einem sehr tief eingeweihten Adepten sich unterhalten habe, der einen lebhaften Anteil an ihm und mir zu nehmen scheine, und unsre Wünsche würden bald erfüllt werden. Ich verstand ihn nicht.

Clemens Brentano


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Sage: "Die drei Nüsse", Clemens Brentano:
Werke Band 2, München (1963-1968)
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