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Literatur



04.2


Sagen aus Deutschland

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Der heilige See der Hertha

Die Reudigner, Avionen, Angeln, Wariner, Eudosen, Suarthonen und Nuithonen, deutsche Völker, zwischen Flüssen und Wäldern wohnend, verehren insgesamt die Hertha, das ist Mutter Erde, und glauben, dass sie sich in die menschlichen Dinge mischt und zu den Völkern gefahren kommt. Auf einem Eiland des Meers liegt ein unentweihter, ihr geheiligter Wald, da stehet ihr Wagen, mit Decken umhüllt, nur ein einziger Priester darf ihm nahen. Dieser weiß es, wann die Göttin im heiligen Wagen erscheint. Zwei weibliche Rinder ziehen sie fort, und jener folgt ehrerbietig nach. Wohin sie zu kommen und zu herbergen würdigt, da ist froher Tag und Hochzeit. Da wird kein Krieg gestritten, keine Waffe ergriffen, das Eisen verschlossen.

Nur Friede und Ruhe ist dann bekannt und gewünscht. Das währt so lange, bis die Göttin genug unter den Menschen gewohnt hat und der Priester sie wieder ins Heiligtum zurückführt. In einem abgelegenen See wird Wagen, Decke und Göttin selbst gewaschen. Die Knechte aber, die dabei dienen, verschlingt der See alsbald.

Ein heimlicher Schrecken und eine heilige Unwissenheit sind daher stets über das gebreitet, was nur diejenigen anschauen, die gleich darauf sterben.



Der Kirchenkrug

Als Chlodowich mit seinen Franken noch im Heidentum lebte und den Gütern der Christen nachstellte, geschah es, dass sie auch aus der Kirche zu Reims einen großen, schweren und zierlichen Krug raubten. Der heilige Remig sandte aber einen Boten an den König und flehte, dass, wenngleich das übrige Unrecht nicht wieder gut gemacht werden sollte, wenigstens dieser Krug zurückgegeben würde. Der König befahl dem Boten, ihm nach Suessions (1) zu folgen, wo die ganze Beute durch Los geteilt werden sollte: »Weist mir dann das Los dieses Gefäß zu, worum du bittest, so magst du es gern zurücknehmen.« Der Bote gehorsamte, ging mit an den bestimmten Ort, wo sie kaum angelangt waren, als auf Befehl des Königs alles gewonnene Gerät herbeigetragen wurde, um es zu verlosen. Weil aber Chlodowich fürchtete, der Krug könnte einem andern als ihm zufallen, berief er seine Dienstmänner und Genossen und bat sich von ihnen zur Gefälligkeit aus, dass sie ihm jenen Krug außer seinem Losteil an der Beute besonders zuweisen möchten. Die Franken versetzten: wem sie ihr Leben widmeten, wollten sie auch nichts anders absagen. Und alle waren's zufrieden bis auf einen, der sich erhob, mit seinem Schwert den Krug in Scherben schlug und sagte: »Du sollst weiter nichts haben, König, als was dir das gerechte Los zuteilt.« Alle staunten ob des Mannes Kühnheit; der König aber verstellte seinen Zorn und übergab das zerbrochene Gefäß dem Boten des Bischofs. – Ein Jahr darauf befahl der König, das Heer auf dem Märzfeld zu versammeln, und jeder sollte so gewaffnet erscheinen, dass er gegen den Feind streiten könne. Als sich nun jedermann in glänzenden Waffen darstellte und Chlodowich alle musterte, kam er zu dem, der mit dem Schwert den Krug zerschlagen hatte, sah ihn an und sprach: »Im ganzen Heer ist kein Feiger wie du; dein Spieß und Helm, Schild und Schwert sind unnütz und schlecht.« Mit diesen Worten streckte er die Hand nach des Kriegers Schwert und warf es auf den Boden hin. Als sich nun jener bückte, das Schwert aufzuheben, zog der König seines, stieß es ihm heftig in den Nacken und sprach: »So hast du mir zu Suessions mit dem Kruge getan!« Auf diese Weise blieb der Krieger tot, der König hieß die übrigen heimziehen und stand seitdem in viel größerer Furcht bei allen Franken, dass ihm keiner zu widerstreben wagte.

Fußnoten:Soissons. Im Parzival, 7785: Sessun


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Quelle: "Der heilige See der Hertha" und "Der Kirchenkrug"
- Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände
in einem Bank, München (1965) S. 341-342; und Der
Kirchenkrug
, S. 391-392.
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Logo 33: "Circus" Stanislaw Osostowicz (died 1939),
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