Sagen aus
Deutschland
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Der heilige See der Hertha
Die
Reudigner, Avionen, Angeln,
Wariner, Eudosen, Suarthonen und Nuithonen, deutsche Völker, zwischen
Flüssen
und Wäldern wohnend, verehren insgesamt die Hertha, das ist Mutter
Erde, und
glauben, dass sie sich in die menschlichen Dinge mischt und zu den
Völkern
gefahren kommt. Auf einem Eiland des Meers liegt ein unentweihter, ihr
geheiligter Wald, da stehet ihr Wagen, mit Decken umhüllt, nur ein
einziger
Priester darf ihm nahen. Dieser weiß es, wann die Göttin im heiligen
Wagen
erscheint. Zwei weibliche Rinder ziehen sie fort, und jener folgt
ehrerbietig
nach. Wohin sie zu kommen und zu herbergen würdigt, da ist froher Tag
und
Hochzeit. Da wird kein Krieg gestritten, keine Waffe ergriffen, das
Eisen
verschlossen.
Nur
Friede und Ruhe ist dann
bekannt und gewünscht. Das währt so lange, bis die Göttin genug unter
den
Menschen gewohnt hat und der Priester sie wieder ins Heiligtum
zurückführt. In
einem abgelegenen See wird Wagen, Decke und Göttin selbst gewaschen.
Die
Knechte aber, die dabei dienen, verschlingt der See alsbald.
Ein
heimlicher Schrecken und eine
heilige Unwissenheit sind daher stets über das gebreitet, was nur
diejenigen
anschauen, die gleich darauf sterben.

Der
Kirchenkrug
Als
Chlodowich mit seinen Franken noch im Heidentum lebte und den Gütern
der
Christen nachstellte, geschah es, dass sie auch aus der Kirche zu Reims
einen
großen, schweren und zierlichen Krug raubten. Der heilige Remig sandte
aber
einen Boten an den König und flehte, dass, wenngleich das übrige
Unrecht nicht
wieder gut gemacht werden sollte, wenigstens dieser Krug zurückgegeben
würde.
Der König befahl dem Boten, ihm nach Suessions (1) zu folgen, wo die
ganze
Beute durch Los geteilt werden sollte: »Weist mir dann das Los dieses
Gefäß zu,
worum du bittest, so magst du es gern zurücknehmen.« Der Bote
gehorsamte, ging
mit an den bestimmten Ort, wo sie kaum angelangt waren, als auf Befehl
des
Königs alles gewonnene Gerät herbeigetragen wurde, um es zu verlosen.
Weil aber
Chlodowich fürchtete, der Krug könnte einem andern als ihm zufallen,
berief er
seine Dienstmänner und Genossen und bat sich von ihnen zur Gefälligkeit
aus,
dass sie ihm jenen Krug außer seinem Losteil an der Beute besonders
zuweisen
möchten. Die Franken versetzten: wem sie ihr Leben widmeten, wollten
sie auch
nichts anders absagen. Und alle waren's zufrieden bis auf einen, der
sich
erhob, mit seinem Schwert den Krug in Scherben schlug und sagte: »Du
sollst
weiter nichts haben, König, als was dir das gerechte Los zuteilt.« Alle
staunten ob des Mannes Kühnheit; der König aber verstellte seinen Zorn
und
übergab das zerbrochene Gefäß dem Boten des Bischofs. – Ein Jahr darauf
befahl
der König, das Heer auf dem Märzfeld zu versammeln, und jeder sollte so
gewaffnet erscheinen, dass er gegen den Feind streiten könne. Als sich
nun
jedermann in glänzenden Waffen darstellte und Chlodowich alle musterte,
kam er
zu dem, der mit dem Schwert den Krug zerschlagen hatte, sah ihn an und
sprach:
»Im ganzen Heer ist kein Feiger wie du; dein Spieß und Helm, Schild und
Schwert
sind unnütz und schlecht.« Mit diesen Worten streckte er die Hand nach
des
Kriegers Schwert und warf es auf den Boden hin. Als sich nun jener
bückte, das
Schwert aufzuheben, zog der König seines, stieß es ihm heftig in den
Nacken und
sprach: »So hast du mir zu Suessions mit dem Kruge getan!« Auf diese
Weise
blieb der Krieger tot, der König hieß die übrigen heimziehen und stand
seitdem
in viel größerer Furcht bei allen Franken, dass ihm keiner zu
widerstreben
wagte.
Fußnoten:Soissons.
Im Parzival, 7785: Sessun
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Quelle:
"Der
heilige See der Hertha" und "Der Kirchenkrug"
- Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche
Sagen. Zwei Bände
in einem Bank, München (1965) S. 341-342; und Der
Kirchenkrug, S.
391-392. Gemeinfrei
zeno.org
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33: "Circus" Stanislaw
Osostowicz (died 1939),
gemeinfrei
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