Weihnachtsmärchen
Das
Weihnachtsfest war nahe herangekommen und aus dem Walde gingen viele
Tannen in
die Hauptstadt des Landes bei dem schlechten Wege immer durch Dick und
Dünn.
Wenn Jemand sie fragte: wo wollt ihr Tannen denn hin? so
antworteten sie: wir
wollen in die Stadt und den Herrn Christ loben.
Ein
ganz kleines Tannenbäumchen, das im Walde neben seiner Mutter stand,
lief immer
hinter seiner Mutter her, als diese sich auch nach der Hauptstadt
aufmachte,
und folgte ihr immer nach, wie ein Füllen der Stute, oder ein junges
Rehkalb
der Hindin.
Als
die Tannen des Abends im Dunkeln in der Hauptstadt angekommen waren,
lagerten
sie sich Alle unter die Fenster des alten steinernen Schlosses, das sie
von
einer Seite her vor Wind und Wetter schützen sollte, und es war schön
anzusehen, wie die vielen grünen Tannen da beieinander lagen. Das
kleine
Tannenbäumchen aber, das sich neben seine Mutter gelegt hatte, fror gar
sehr.
Da kam der Wind und legte den Saum seines
schneeweißen Mantels erst zu den
Füßen der Tannen hin und breitete ihn dann ganz über sie aus. Den
andern Morgen
aber kam ein Sonnenblick und deckte den schneeweißen Mantel wieder ab.
Da rieb
sich das kleine Tannenbäumchen vergnügt die Augen und sah verwundert
die große,
schöne Stadt.
Aber
bald wurde seine Freude getrübt, denn es kam ein Herr, der hieß sein
Mütterlein
mitgehen in sein Haus, das kleine Tannenbäumchen aber musste
zurückbleiben,
denn es war zum Weihnachtsbaume noch viel zu jung und zu klein.
Als
nun der Weihnachtsmorgen kam, da ging das kleine Tannenbäumchen ganz
einsam in
den nassen Straßen der Hauptstadt umher und weinte. Da sah es aber sein
Mütterlein in einem großen, schönen Saale stehen. Es hatte viele
Lichter in der
Hand, die glänzten gar herrlich, und das Mütterlein war anzusehen wie
ein
schöner Engel.
Da
freute sich das kleine Tannenbäumchen sehr und ging getrost
weiter. Es stand
aber in einem Hause eine kleine Puppe am Fenster, wie es eben Tag
wurde. Die
winkte dem kleinen Tannenbäumchen, dass es zu ihr herauf käme, und
fragte:
„Wie
heißt du, kleine Tanne?“
„Ich
heiße Waldgrüne“, antwortete das Tannenbäumchen. „Und wie heißt du?“
„Ich
heiße Kindchen-küß-mich“, antwortete die Puppe.
Da
wurden die Puppe und das Tannenbäumchen gute Freunde und blieben lange,
lange
Zeit beisammen.
Die
kleine Tanne aber wuchs sehr schnell heran, da sagte Kindchen-küß-mich
endlich
zu ihr:
„Du
bist so ein lang aufgeschossenes Ding geworden, dass ich mich schäme
noch mit
dir über die Straße zu gehen; auch ist dir dein Röckchen aus grünen
Zweigen
viel zu kurz, es reicht dir ja noch lange nicht einmal bis ans Knie, so
sehr
hast du es verwachsen! Mir wäre das zwar einerlei, aber den Menschen
fällt es
doch sehr auf. Deswegen wäre das Beste, du gingest wieder zurück in den
Wald.“
Da
ging die Tanne wieder in den Wald. Dort aber war ihr Röcklein nicht zu
kurz,
sondern es war große Freude bei den andern Tannen, dass Waldgrüne
wieder
zugegen war.
Heinrich
Pröhle
