|
|
|
|
|
lifedays-seite
moment
in time
|
|
|
04.w2
Weihnachten
Märchen und Geschichten
Fünfte
Erzählung
Die
Geschichte vom Kräutchen Eigensinn
Der
kleine Georg war trotz der schönen Erzählungen der Tante beim
Schlafengehen sehr unartig und sehr eigensinnig gewesen, da sagte ihm
die Mama: »Nimm dich nur in acht, sonst bringt dir der Nikolaus zu
Weihnachten eine Rute vom Kräutchen Eigensinn!«
Als
nun die Kinder am andern Abend wieder bei der Tante saßen, da sagte
Mathildchen: »Liebe Tante, erkläre mir doch, was eine Rute vom
Kräutchen Eigensinn ist.« Der Georg saß bei dieser Frage mäuschenstill
und guckte mit den großen blauen Augen auf seine Schuhe, als ob er sie
noch nie gesehen hätte, die Tante aber antwortete: »Das sind die aller
gefährlichsten Ruten, die es gibt; um sie darf das gute Christkind
keine roten Bänder und kein Flittergold wickeln, und sie werden auch
nicht bloß zum Staat und zur Warnung hinter den Spiegel gesteckt,
sondern mit ihnen gibt es wirkliche Hiebe, und woher sie kommen, das
will ich euch jetzt ganz genau erzählen:
Am
Rand einer großen grünen Wiese stand ein hübscher kleiner Strauch, der
hatte schlanke Zweige, grüne Blätter und schöne weiße Blüten, sodass er
gar lieblich anzusehen war – aber, es war ein schlimmes Kraut. Es
wollte immer etwas anderes tun, als es gerade sollte, sagte zu allen
Dingen: ›Nein! ‹statt ›Ja!‹ – und die Blumen und Sträucher auf der
Wiese nannten es nur noch: ›das Kräutchen Eigensinn.‹
Wenn
ein Bienchen geflogen kam und in den Kelch seiner Blüten schlüpfen
wollte, um sich Honig zu sammeln, dann schloss es schnell die Blüte
fest zu. Summte und brummte das fleißige Tierchen auch noch so eifrig:
›Mach' auf! mach' auf!‹ so rief das Kraut doch immerfort: ›Ich will
nicht, ich mag nicht, ich tu's nicht!‹ – bis das Bienchen ganz zornig
davonflog und nie mehr wiederkam.
Ein
andermal kam ein liebes kleines Mädchen mit schönen blonden Locken
daherspaziert, das pflückte sich einen Strauß und wollte auch ein
Zweiglein von dem schönen grünen Strauche dazunehmen. Aber Kräutchen
Eigensinn bog sich herüber und hinüber, wand sich hin und her und
wollte nichts geben. – ›Ei, Kräutchen Eigensinn,‹ sagte seine
Nachbarin, ein kleines Heckenröschen, ›so gib doch dem lieben Kinde nur
ein kleines Zweiglein!‹
›Ich
mag nicht, ich will nicht!‹ rief es dagegen, und ließ sich jetzt erst
recht nichts nehmen.
Die
gute Sonne hatte von dem blauen Himmel herab alles mit angesehen und
ward bitterböse; sie rief herunter: ›Du hässliches Ding, willst du denn
gar nie mehr lieb und artig sein? Ich scheine so gern herab auf alle
die lieben Blumen und Sträucher, aber dir möchte ich auch nicht einen
Strahl mehr senden!‹
›Nein!
denn ich will unartig sein! ich darf unartig sein!‹ rief Kräutchen
Eigensinn hinauf, ›und willst du nicht auf mich scheinen, so kannst du
es bleiben lassen!‹
Das
war doch gewiss entsetzlich ungezogen von dem Kräutchen Eigensinn; die
Sonne wandte ihr freundliches Gesicht schweigend von ihm ab, die Blumen
und Gräser sprachen kein Wort mehr mit ihm, und die Bienchen und
Schmetterlinge flogen alle an ihm vorüber, denn keines wollte noch
etwas von ihm wissen.
Endlich
gegen Abend kam noch von weither ein Vögelchen geflogen, und wie es so
daherschwebte und den schönen grünen Strauch ansah, wollte es sich ein
wenig darauf ausruhen und ein Liedchen singen. Da hätte doch nun das
Kräutchen Eigensinn Gelegenheit gehabt, wieder lieb und gut zu sein und
sich mit den andern auszusöhnen. Aber nein, es war noch trotzig dabei
und meinte Wunder, wie großes Unrecht ihm geschehen sei. Kaum hatte
sich der Vogel ein hübsches Plätzchen ausgesucht, da fing es an sich zu
biegen und zu neigen und wollte ihn durchaus von sich abschütteln.
›Ach,‹
bat das Vöglein freundlich, ›halte doch stille, lieber Strauch, ich
singe dir auch mein allerschönstes Lied!‹
›Nein,
ich will nicht, ich tu's nicht! Ich mag von euch jetzt auch nichts mehr
wissen!‹ rief Kräutchen Eigensinn voll Wut und Zorn. Da flog das
Vöglein fort und setzte sich zu dem Röslein, das es freundlich bei sich
aufnahm.
Am
andern Morgen schien die Sonne nicht, der Himmel war ganz voll Wolken,
und der Wind fegte im Wald und auf der Wiese herum, sodass kein
Schmetterling und keine Biene sich herausgetraute; selbst die Vögel
blieben scheu in ihren Nestern. Die dicksten Bäume bog der Wind um und
zerzauste sie, dass sie kaum mehr wussten, wohin sich wenden. Die
Sträucher und Blumen auf der Wiese duckten sich ganz stille unter,
ließen den Wind über sich herwehen und warteten auf bessere Zeiten.
Aber
Kräutchen Eigensinn, das duckte sich nicht; es wollte mit dem Winde
spielen und meinte, es sei so stark wie er und brauche sich weder zu
biegen noch zu neigen. Was kümmerte sich aber der Wind um seinen
schwachen Widerstand, er fegte unerbittlich drüber hin und her, und
bald lagen die meisten Blüten alle an der Erde, die grünen Blättchen
flatterten wild umher, und der Nachbarin, dem guten Röschen, ward ganz
angst und bange.
›Kräutchen
Eigensinn,‹ rief es warnend, ›lasse deine Zweige niederhängen, der Wind
zerreißt dich sonst in tausend Stücke!‹
›Ich
will mit dem Winde spielen, ich darf es tun, du hast es mir nicht zu
wehren!‹ antwortete Kräutchen Eigensinn und trieb es nur noch toller.
Aber – was geschah?
Nach
einer halben Stunde war das Kräutchen Eigensinn kein grüner Strauch
mehr, sondern ein hässliches, kahles Reis, das aussah, als ob die
Raupen es abgefressen hätten. Nur ganz unten hingen noch ein paar
kleine Blättchen an dünnen Fäden und schaukelten sich hin und her.
Nun
war es mit dem Kräutchen Eigensinn aus; kein Bienchen sah es mehr an,
niemand fiel es ein, sich ein Zweiglein zum Strauße zu pflücken, und
die Vöglein flogen alle vorüber, als ob es gar nicht auf der Welt wäre.
Es konnte nicht einmal mehr sagen: ›Ich will nicht, ich mag nicht!‹ –
denn keine Seele wollte etwas von ihm.
So
verging der Sommer, und der Herbst kam, wo der Nikolaus auszieht, um
sich Reiser für seine Ruten zu holen. Er hatte manchmal von der
Böllsteiner Höhe herabgesehen, wie es das Kräutchen Eigensinn
trieb, und jedes Mal gedacht: ›Na, warte nur, weil du zu allem ›Nein!‹
sagst, sollst du mir noch die kleinen Leute ›Ja!‹ sagen lehren!‹ Als er
nun mit seinem Grauchen über die Wiese zog, sah er schon von Weitem das
dürre Reis und rief vergnügt: ›Ha, das hat schöne, schlanke Gerten
gegeben, die will ich nun zu Ruten binden, und da wird mein Kräutchen
Eigensinn den Kindern bald den Eigensinn aus dem kleinen Trotzköpfchen
treiben!‹
Gesagt,
getan, er schnitt die Gerten ab, lud sie dem Esel auf und sagte daheim
zum Christkind: ›An den Ruten da machst du mir nichts, die binde ich
einfach mit Schnur zusammen, die sind für den Ernst und nicht für den
Spaß!«
Wo
nun ein unartiges Kind ist, das bei allem sagt: ›Ich will nicht, ich
mag nicht!‹ – dem bringt der Nikolaus eine Rute vom Kräutchen
Eigensinn, und das tanzt ihm dann solange auf dem Rücken herum, bis es
nie mehr sagt: ›Ich tu's nicht!‹
Lieber
Georg und liebes Mathildchen! nehmt euch darum nur sehr in acht, dass
euch der Nikolaus nicht so eine Rute vom Kräutchen Eigensinn bringt.«
»Ich
will gar nicht mehr eigensinnig sein«, sagte der Georg, und Mathildchen
küsste die Tante und rief: »Nicht wahr, ich bin lieb?«
Luise
Büchner
oben
____________________________
Textgrundlage:
"Weihnachtsmärchen
aus Darmstadt und
dem Odenwald", Luise Büchner: Darmstadt 1980, S. 38-42.
Gemeinfrei
zeno.org
Logo
137: "A
Christmas Story" -
Viggo Johansen,
spätestens
1935, gemeinfrei
wikimedia
|
lifedays-seite
- moment in time |
|
|
|
|
|
|
|