Die beste
meiner Gaben,
Wenn nur Dein Herz bereit,
Du sollst sie heute haben
In alle Ewigkeit
Es
schlug
sieben Uhr vom Turme. Die hell erleuchteten Kirchen, in denen
Christvesper
gehalten war, leerten sich allmählich; Kinder und Erwachsene eilten in
die
Häuser, wo Freude und Überraschung Aller harrte. Gleich Sternen flammte
hier
und da ein Fenster auf im hellen Lichterglanz, und: „Da brennt schon
ein
Weihnachtsbaum! Und da wieder einer,“ riefen die, welche noch auf der
Straße
waren, und schneller eilten sie nach Hause, um auch solchen Glanzes und
solcher
Freude teilhaft zu werden.
Nur
im
Hause des Fabrikherrn Winter blieben die Fenster dunkel und kein
fröhlicher
Weihnachtsjubel erscholl in den Räumen. Wohl war alles festlich
geschmückt,
wohl prangte der riesige Baum inmitten des Zimmers, wohl lagen die
reichen
Geschenke geordnet ringsum, – aber sorgenvoll waren des Hausherrn und
der
Hausfrau Gesichter, ängstlich schlichen die Schwestern umher – der
Bruder
Bernhard war ja nicht gekommen, gestern und heute sehnlich von Allen
erwartet!
Vor
der
Christvesper hatte der Vater an Meister Francke telegrafiert und
gefragt, warum
der Sohn zum Weihnachtsabend nicht heimkomme; eben war die Antwort
geworden, dass
er schon gestern früh abgereist, – großer Gott, was war dem Bernhard
begegnet?
Warum kam er nicht?
Alle
Möglichkeiten wurden erwogen, er konnte mit der Post oder Eisenbahn ein
Unglück
gehabt haben, – aber dann hätte der schnelle Telegrafendraht das längst
verkündet, und wohin sollte er noch einen Abstecher gemacht haben? –
aber
selbst wenn er es getan, heute, am Heiligen Abend konnte er doch nicht
fehlen
im Familienkreise, – was war ihm nur?
„O, wenn
ihn nur nicht Räuber unterwegs erschlagen haben ?“ weinte die
zehnjährige
Emma plötzlich auf.
„Kommt
denn nun auch das Christkind nicht zu uns, wenn Bernhard nicht kommt?“
fragte
ängstlich die jüngste Schwester Marie.
Der
Vater
antwortete nicht, sein Herz war voll schwerer Ahnungen; er sprach leise
mit der
Mutter; dann schickte er den Diener fort, sich zu erkundigen, ob heute
noch ein
Zug von H. einträfe; er selbst schrieb schnell mehrere Briefe und
Depeschen, –
und während dem wartete der Christbaum, dass man ihn anzünden sollte
und die
Kinder warteten und das ganze Haus wartete – o solche Angst und Pein
ist am Heiligen
Abend noch schwerer zu tragen als sonst wohl.
„In
Gottes Namen denn,“ – sprach endlich der Vater, „wir können nichts
weiter tun,
wir wollen bescheren, – wenn auch das Herz voller Angst statt voller
Freude
ist.“
Die
Klingel erscholl durchs Haus; Herrschaft und Gesinde versammelte sich
in der
Weihnachtsstube, – der Mutter Auge füllten Tränen, als sie auf
Bernhards leeren
Platz sah, und der strahlende Tannenbaum schien heute Allen nicht so
hell als
sonst zu brennen. Mit ernster Stimme las der Vater das
Weihnachtsevangelium,
dann wurde das schöne Lied: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“
gesungen; beim
dritten Verse aber, der da lautet:
„Es ist der
Herr Christ, unser Gott,
Der will euch führ ’n aus aller Not,
Er will Eu ’r Heiland selber sein,
Von allen Sünden machen rein,"
waren
leise Schritte vernommen und an der geöffneten Stubentür erschienen
zwei
Gestalten, dort in dem draußen herrschenden Dunkel nicht zu erkennen,
aber
unter den zunächst Sitzenden entstand eine Bewegung, – der Vater sang
ruhig
weiter, doch als er geendet, wandte er sich, statt wie sonst zu sagen:
„Nun
kommt und seht, was Euch das Christkind gebracht hat,“ lebhaft zur Tür
und
rief: „Bernhard, wo kommst Du her, und wen bringst Du da?“
Ehe
jener
antworten konnte, hatten ihn schon die Arme der Mutter umfangen, die
Geschwister drängten sich um den Bruder, betrachteten neugierig den
kleinen
Jungen, den er an der Hand hielt, und wollten beide zum Lichterbaum
ziehen; da
der Erwartete nun da war, hatten ihn auch keine Räuber erschlagen, und
die
Weihnachtsbescherung trat wieder in ihr volles Recht.
Bernhard
aber wehrte den Schwestern, sein Auge blickte
nicht einmal nach dem Christbaum, er wagte nicht die Schwelle
des Festzimmers zu
überschreiten, bittend und ernst sagte er:
„Liebe
Mutter, ich bitte Dich, nimm den Kleinen, mit Dir wird er am ehesten
gehen und
Du, Vater, vergib, dass ich die Festfreude störe, aber ich kann nicht
eher eintreten,
ich muss Dich erst allein sprechen.“
Überrascht
blickte der Vater den Sohn an, der ihm schon seit langer Zeit durch
seinen
Leichtsinn manchen Kummer gemacht, heut aber so fest und doch so von
Herzen demütig
zu ihm sprach. Er gab der Mutter einen Wink und ging mit dem Sohne in
sein
Zimmer.
Die
Unterredung hat kein Dritter gehört, nur Gottes Engel waren in der
Stube. Aber
eins wurde offenbar: Das Wort des Sohnes ging aus dem Tone:
„Vater ich habe gesündigt im Himmel und vor Dir: Ich bin hinfort
nicht wert, dass ich Dein Sohn heiße.“ Bernhard zeigte dem Vater klar
und wahr
sein ganzes böses Herz mit seinem Murren, ungehorsamen Gedanken und
bösen
Absichten. Er beschönigte sein Thun mit keinem Worte, er sagte, wie er,
um
jeder Zucht und Ordnung zu entgehen, leichtsinnig und gottlos habe
entlaufen
wollen, und erzählte dann von der ergreifenden Predigt, die der tote
Vater dem irregegangenen
Sohne gehalten. Herr Winter hörte ruhig zu, und als der Sohn zuletzt
sagte:
„Vater, willst Du mir vergeben und es noch einmal mit mir versuchen,“
da schloss
er ihn fest in seine Arme, und ohne ein Wort zu sagen, reichte er dem
Sohne die
Hand. – Dann rief er die Mutter, teilte ihr in kurzen Worten mit, was
geschehen, und auch sie verzieh; aber ihr Herz schlug voll Dankbarkeit
dem
armen kleinen Waisenknaben entgegen, der in Gottes Hand das Werkzeug
gewesen
war, den Sohn wieder ins Vaterhaus zu führen, von dem er innerlich seit
langer
Zeit fern gewesen.
Jetzt
betraten die Drei den Weihnachtssaal, und nun ging der Jubel, aber auch
das
Fragen der übrigen los. „Bernhard, wo warst Du und wer ist der Kleine?“
Der
Vater erzählte leise, wie Bernhard den Jungen getroffen und in dessen
Stube den
Vater tot gefunden. Da ging alles Fragen in inniges Mitleid über. Herr
und Frau
Winter aber verstanden sich ohne viele Worte. Sie traten zu Rudolph und
sagten
ihm: „Du sollst nun unser Kind sein.“
„Nein,
nein,“ wehrte dieser, „ich will zu meinem Vater.“
„Morgen
wollen wir zu ihm gehen, mein liebes Kind,“ entgegnete Herr Winter, und
seine
Frau fügte freundlich hinzu: „Sieh nur den schonen Lichterbaum!“
„Hat denn
mein Vater auch einen?“ fragte Rudolph.
„Ganz gewiss,
und einen viel Schöneren, als dieser hier ist. Aber sieh, was hier
hängt, und
da, und dort.“
Und
liebreich wurde das Kind auf andere Gedanken gebracht. Kindesleid ist
ja bald
vergessen.
„Meinst
Du,“ fragte Herr Winter seinen Sohn, „dass niemand Ansprüche auf den
Kleinen
machen wird?“
„Ich weiß
es nicht, Vater, mir schien es aber, als ob sich keiner um ihn
bekümmert; ich
glaube, der Mann war schon seit dem vorigen Abend tot.“
„Morgen
früh wollen wir alles Weitere veranlassen,“ sagte Herr Winter. „Kann
ich das
Kind behalten, so hat mir der heutige Tag zwei Söhne
geschenkt, fürwahr, ein göttliches Weihnachtsgeschenk.“
„Vater,
wie gut bist Du,“ sagte Bernhard bewegt, „ich will versuchen von nun an
Deine
Liebe zu verdienen.“
Die
Mutter liebkoste Rudolph. „Du liebes Kind, wolltest Deinem Vater eine
warme
Stube machen und hast Dir dadurch eine Heimat gewonnen. Wir wollen Dich
sehr,
sehr lieb haben.“
Rudolph
aber betrachtete den herrlichen Weihnachtsbaum. War es möglich, dass es
einen
noch Schöneren gab? Da oben am Himmel? Gewiss waren alle die funkelnden
Sterne
die äußersten Spitzen jenes Himmels-Weihnachtsbaumes. Sehnsucht ergriff
das
Kind, – es eilte zu Bernhard, den es ja am besten kannte, und sagte
leise:
„Ich
möchte aber doch lieber zu meinem Vater gehen und seinen Baum
sehen.“
„Morgen,“
tröstete Bernhard, der nicht recht wusste, was er dem Kinde sagen
sollte.
Damit war
Rudolph zufrieden und freute sich der kleinen Sachen, welche ihm
geschenkt
wurden, freute sich der grünen Tanne, in deren spitzen Nadelzweigen
goldene
Früchte hingen, fühlte sich wohl in der Liebe, die ihn umgab.
„Weißt
Du,“ sagte Marie zu ihrer Schwester Emma, „es ist bei uns gerade wie in
dem
Liede, das wir gelernt haben: „Des fremden Kindes Heilger Christ.“ Da
ist auch
ein armes Kind ganz allein und hat keinen Vater und keine Mutter,
keinen Baum
und Nichts, und da kommt der Heilige Christ und sagt:
Ich bin
der Heilige Christ
War
auch ein Kind vordessen,
Wie
du ein Kindlein bist;
Ich
will dich nicht vergessen,
Wenn
alles dich vergisst.“
„Ja,
es
ist eben so, aber doch ganz anders,“ bestätigte Emma, „denn da nimmt
das
Christkind das arme Kind zu sich in den Himmel, und der kleine Junge
soll doch
nun bei uns bleiben.“
„Ja,
jetzt“ entgegnete Marie, „aber wir wollen doch alle in den Himmel
kommen,
Vater, Mutter, Bernhard, wir und der kleine Rudolph auch.“
An
der
Tanne waren schon einige Lichter niedergebrannt und am Verlöschen; in
allen Ästen
wiegten sich Weihnachtsträume und leise erzählten sie der weißen
Christblume, die neben ihnen stand, wunderbare Dinge; aus den
Träumen wurden Lieder, das Erzählen wurde zum Singen, und durch die
stille
Weihnachtsstube tönte es:
Himmelan!
Das Christkind zeigt
Mir
das schöne Los von ferne,
Und
mein Herz schon aufwärtssteigt
über
Sonne, Mond und Steine;
Denn
ihr Licht ist viel zu klein
Gegen
jenen Glanz und Schein.
A.
Vollmar