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Literatur


04.w2

Weihnachten

Märchen und Geschichten



 Christblume III.

Die beste meiner Gaben,
Wenn nur Dein Herz bereit,
Du sollst sie heute haben
In alle Ewigkeit

Es schlug sieben Uhr vom Turme. Die hell erleuchteten Kirchen, in denen Christvesper gehalten war, leerten sich allmählich; Kinder und Erwachsene eilten in die Häuser, wo Freude und Überraschung Aller harrte. Gleich Sternen flammte hier und da ein Fenster auf im hellen Lichterglanz, und: „Da brennt schon ein Weihnachtsbaum! Und da wieder einer,“ riefen die, welche noch auf der Straße waren, und schneller eilten sie nach Hause, um auch solchen Glanzes und solcher Freude teilhaft zu werden.

Nur im Hause des Fabrikherrn Winter blieben die Fenster dunkel und kein fröhlicher Weihnachtsjubel erscholl in den Räumen. Wohl war alles festlich geschmückt, wohl prangte der riesige Baum inmitten des Zimmers, wohl lagen die reichen Geschenke geordnet ringsum, – aber sorgenvoll waren des Hausherrn und der Hausfrau Gesichter, ängstlich schlichen die Schwestern umher – der Bruder Bernhard war ja nicht gekommen, gestern und heute sehnlich von Allen erwartet!

Vor der Christvesper hatte der Vater an Meister Francke telegrafiert und gefragt, warum der Sohn zum Weihnachtsabend nicht heimkomme; eben war die Antwort geworden, dass er schon gestern früh abgereist, – großer Gott, was war dem Bernhard begegnet? Warum kam er nicht?

Alle Möglichkeiten wurden erwogen, er konnte mit der Post oder Eisenbahn ein Unglück gehabt haben, – aber dann hätte der schnelle Telegrafendraht das längst verkündet, und wohin sollte er noch einen Abstecher gemacht haben? – aber selbst wenn er es getan, heute, am Heiligen Abend konnte er doch nicht fehlen im Familienkreise, – was war ihm nur?

„O, wenn ihn nur nicht Räuber unterwegs erschlagen haben ?“ weinte die zehnjährige Emma plötzlich auf.
„Kommt denn nun auch das Christkind nicht zu uns, wenn Bernhard nicht kommt?“ fragte ängstlich die jüngste Schwester Marie.

Der Vater antwortete nicht, sein Herz war voll schwerer Ahnungen; er sprach leise mit der Mutter; dann schickte er den Diener fort, sich zu erkundigen, ob heute noch ein Zug von H. einträfe; er selbst schrieb schnell mehrere Briefe und Depeschen, – und während dem wartete der Christbaum, dass man ihn anzünden sollte und die Kinder warteten und das ganze Haus wartete – o solche Angst und Pein ist am Heiligen Abend noch schwerer zu tragen als sonst wohl.

„In Gottes Namen denn,“ – sprach endlich der Vater, „wir können nichts weiter tun, wir wollen bescheren, – wenn auch das Herz voller Angst statt voller Freude ist.“

Die Klingel erscholl durchs Haus; Herrschaft und Gesinde versammelte sich in der Weihnachtsstube, – der Mutter Auge füllten Tränen, als sie auf Bernhards leeren Platz sah, und der strahlende Tannenbaum schien heute Allen nicht so hell als sonst zu brennen. Mit ernster Stimme las der Vater das Weihnachtsevangelium, dann wurde das schöne Lied: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ gesungen; beim dritten Verse aber, der da lautet:

„Es ist der Herr Christ, unser Gott,
Der will euch führ ’n aus aller Not,
Er will Eu ’r Heiland selber sein,
Von allen Sünden machen rein,"

waren leise Schritte vernommen und an der geöffneten Stubentür erschienen zwei Gestalten, dort in dem draußen herrschenden Dunkel nicht zu erkennen, aber unter den zunächst Sitzenden entstand eine Bewegung, – der Vater sang ruhig weiter, doch als er geendet, wandte er sich, statt wie sonst zu sagen: „Nun kommt und seht, was Euch das Christkind gebracht hat,“ lebhaft zur Tür und rief: „Bernhard, wo kommst Du her, und wen bringst Du da?“

Ehe jener antworten konnte, hatten ihn schon die Arme der Mutter umfangen, die Geschwister drängten sich um den Bruder, betrachteten neugierig den kleinen Jungen, den er an der Hand hielt, und wollten beide zum Lichterbaum ziehen; da der Erwartete nun da war, hatten ihn auch keine Räuber erschlagen, und die Weihnachtsbescherung trat wieder in ihr volles Recht.

Bernhard aber wehrte den Schwestern, sein Auge blickte nicht einmal nach dem Christbaum, er wagte nicht die Schwelle des Festzimmers zu überschreiten, bittend und ernst sagte er:

„Liebe Mutter, ich bitte Dich, nimm den Kleinen, mit Dir wird er am ehesten gehen und Du, Vater, vergib, dass ich die Festfreude störe, aber ich kann nicht eher eintreten, ich muss Dich erst allein sprechen.“

Überrascht blickte der Vater den Sohn an, der ihm schon seit langer Zeit durch seinen Leichtsinn manchen Kummer gemacht, heut aber so fest und doch so von Herzen demütig zu ihm sprach. Er gab der Mutter einen Wink und ging mit dem Sohne in sein Zimmer.

Die Unterredung hat kein Dritter gehört, nur Gottes Engel waren in der Stube. Aber eins wurde offenbar: Das Wort des Sohnes ging aus dem Tone: „Vater ich habe gesündigt im Himmel und vor Dir: Ich bin hinfort nicht wert, dass ich Dein Sohn heiße.“ Bernhard zeigte dem Vater klar und wahr sein ganzes böses Herz mit seinem Murren, ungehorsamen Gedanken und bösen Absichten. Er beschönigte sein Thun mit keinem Worte, er sagte, wie er, um jeder Zucht und Ordnung zu entgehen, leichtsinnig und gottlos habe entlaufen wollen, und erzählte dann von der ergreifenden Predigt, die der tote Vater dem irregegangenen Sohne gehalten. Herr Winter hörte ruhig zu, und als der Sohn zuletzt sagte: „Vater, willst Du mir vergeben und es noch einmal mit mir versuchen,“ da schloss er ihn fest in seine Arme, und ohne ein Wort zu sagen, reichte er dem Sohne die Hand. – Dann rief er die Mutter, teilte ihr in kurzen Worten mit, was geschehen, und auch sie verzieh; aber ihr Herz schlug voll Dankbarkeit dem armen kleinen Waisenknaben entgegen, der in Gottes Hand das Werkzeug gewesen war, den Sohn wieder ins Vaterhaus zu führen, von dem er innerlich seit langer Zeit fern gewesen.
Jetzt betraten die Drei den Weihnachtssaal, und nun ging der Jubel, aber auch das Fragen der übrigen los. „Bernhard, wo warst Du und wer ist der Kleine?“ Der Vater erzählte leise, wie Bernhard den Jungen getroffen und in dessen Stube den Vater tot gefunden. Da ging alles Fragen in inniges Mitleid über. Herr und Frau Winter aber verstanden sich ohne viele Worte. Sie traten zu Rudolph und sagten ihm: „Du sollst nun unser Kind sein.“

„Nein, nein,“ wehrte dieser, „ich will zu meinem Vater.“
„Morgen wollen wir zu ihm gehen, mein liebes Kind,“ entgegnete Herr Winter, und seine Frau fügte freundlich hinzu: „Sieh nur den schonen Lichterbaum!“
„Hat denn mein Vater auch einen?“ fragte Rudolph.
„Ganz gewiss, und einen viel Schöneren, als dieser hier ist. Aber sieh, was hier hängt, und da, und dort.“

Und liebreich wurde das Kind auf andere Gedanken gebracht. Kindesleid ist ja bald vergessen.
„Meinst Du,“ fragte Herr Winter seinen Sohn, „dass niemand Ansprüche auf den Kleinen machen wird?“
„Ich weiß es nicht, Vater, mir schien es aber, als ob sich keiner um ihn bekümmert; ich glaube, der Mann war schon seit dem vorigen Abend tot.“
„Morgen früh wollen wir alles Weitere veranlassen,“ sagte Herr Winter. „Kann ich das Kind behalten, so hat mir der heutige Tag zwei Söhne geschenkt, fürwahr, ein göttliches Weihnachtsgeschenk.“
„Vater, wie gut bist Du,“ sagte Bernhard bewegt, „ich will versuchen von nun an Deine Liebe zu verdienen.“

Die Mutter liebkoste Rudolph. „Du liebes Kind, wolltest Deinem Vater eine warme Stube machen und hast Dir dadurch eine Heimat gewonnen. Wir wollen Dich sehr, sehr lieb haben.“

Rudolph aber betrachtete den herrlichen Weihnachtsbaum. War es möglich, dass es einen noch Schöneren gab? Da oben am Himmel? Gewiss waren alle die funkelnden Sterne die äußersten Spitzen jenes Himmels-Weihnachtsbaumes. Sehnsucht ergriff das Kind, – es eilte zu Bernhard, den es ja am besten kannte, und sagte leise:

„Ich möchte aber doch lieber zu meinem Vater gehen und seinen Baum sehen.“
„Morgen,“ tröstete Bernhard, der nicht recht wusste, was er dem Kinde sagen sollte.

Damit war Rudolph zufrieden und freute sich der kleinen Sachen, welche ihm geschenkt wurden, freute sich der grünen Tanne, in deren spitzen Nadelzweigen goldene Früchte hingen, fühlte sich wohl in der Liebe, die ihn umgab.

„Weißt Du,“ sagte Marie zu ihrer Schwester Emma, „es ist bei uns gerade wie in dem Liede, das wir gelernt haben: „Des fremden Kindes Heilger Christ.“ Da ist auch ein armes Kind ganz allein und hat keinen Vater und keine Mutter, keinen Baum und Nichts, und da kommt der Heilige Christ und sagt:

Ich bin der Heilige Christ

War auch ein Kind vordessen,
Wie du ein Kindlein bist;
Ich will dich nicht vergessen,
Wenn alles dich vergisst.“

„Ja, es ist eben so, aber doch ganz anders,“ bestätigte Emma, „denn da nimmt das Christkind das arme Kind zu sich in den Himmel, und der kleine Junge soll doch nun bei uns bleiben.“
„Ja, jetzt“ entgegnete Marie, „aber wir wollen doch alle in den Himmel kommen, Vater, Mutter, Bernhard, wir und der kleine Rudolph auch.“
An der Tanne waren schon einige Lichter niedergebrannt und am Verlöschen; in allen Ästen wiegten sich Weihnachtsträume und leise erzählten sie der weißen Christblume, die neben ihnen stand, wunderbare Dinge; aus den Träumen wurden Lieder, das Erzählen wurde zum Singen, und durch die stille Weihnachtsstube tönte es:

Himmelan! Das Christkind zeigt
Mir das schöne Los von ferne,
Und mein Herz schon aufwärtssteigt
über Sonne, Mond und Steine;
Denn ihr Licht ist viel zu klein
Gegen jenen Glanz und Schein.

A. Vollmar





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Textgrundlage: "Christblume", A. Vollmar,
Untertitel: Volksblatt eine Wochenzeitschrift
mit Bildern, Jahrgang 1878, Nr. 50,
S. 394-396, Nr. 51, S. 401-403, Nr. 52, S. 411-413.
Herausgeber: Dr. Christlieb Gotthold Hottinger.
ED: 1878, Verlag von Dr. Hottinger's Volksblatt,
Erscheinungsort: Straßburg

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Yoam Anton 26.12.09
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