lifedays-seite

moment in time




 
Literatur


04.w2

Weihnachten

Märchen und Geschichten



Weihnachts-Abend


Fezziwig's Weihnachtsball



 Erstes Kapitel - Marley’s Geist I

Marley war tot, damit wollen wir anfangen. Ein Zweifel darüber kann nicht stattfinden. Der Schein über seine Bestattung wurde von dem Geistlichen, dem Küster, dem Leichenbesorger und den vornehmsten Leidtragenden unterschrieben. Scrooge unterschrieb ihn, und Scrooge’s Name wurde auf der Börse respektiert, wo er ihn nur hinschrieb. Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel.
Merkt wohl auf! Ich will nicht etwa sagen, dass ein Türnagel etwas besonderes Totes für mich hätte. Ich selbst möchte fast zu der Meinung geneigt sein, ein Sargnagel sei das toteste Stück Eisenwerk auf der Welt. Aber die Weisheit unsrer Altvordern liegt in dem Gleichnisse, und meine unheiligen Hände sollen sie dort nicht stören, sonst wäre es um das Vaterland geschehen. Man wird mir daher erlauben, mit besonderem Nachdruck zu wiederholen, dass Marley so tot wie ein Türnagel war.
Scrooge wusste, dass er tot war? Natürlich wusste er’s. Wie konnte es auch anders sein? Scrooge und er waren, ich weiß nicht seit wie vielen Jahren, Handlungsgesellschafter. Scrooge war sein einziger Testamentsvollstrecker, sein einziger Administrator, sein einziger Erbe, sein einziger Freund und sein einziger Leidtragender. Und selbst Scrooge war von dem traurigen Ereignis nicht so entsetzlich gerührt, dass er selbst an dem Begräbnistage nicht ein vortrefflicher Geschäftsmann gewesen wäre und ihn mit einem unzweifelhaft guten Handel gefeiert hätte.
Die Erwähnung von Marley’s Begräbnistag bringt mich zu dem Ausgangspunkt meiner Erzählung wieder zurück. Es ist ganz unzweifelhaft, dass Marley tot war. Das muss scharf ins Auge gefasst werden, sonst kann in der Geschichte, die ich eben erzählen will, nichts Wunderbares geschehen. Wenn wir nicht vollkommen fest überzeugt wären, dass Hamlet’s Vater tot ist, ehe das Stück beginnt, würde durchaus nichts Merkwürdiges in seinem nächtlichen Spaziergang bei scharfem Ostwind auf den Mauern seines eignen Schlosses sein. Nicht mehr, als bei jedem andern Herrn in mittleren Jahren, der sich nach Sonnenuntergang rasch zu einem Spaziergang auf einem luftigen Platze, z. B. St. Paul’s Kirchhof, entschließt, bloß um seinen schwachen Sohn in Erstaunen zu setzen.

Scrooge ließ Marley’s Namen nicht ausstreichen. Noch nach Jahren stand über der Tür des Speichers „Scrooge und Marley“. Die Firma war unter dem Namen Scrooge und Marley bekannt. Zuweilen nannten Leute, die ihn noch nicht kannten, Scrooge Scrooge und zuweilen Marley; aber er hörte auf beide Namen, denn es war ihm ganz gleich.

O, er war ein wahrer Blutsauger, der Scrooge! Ein gieriger, zusammenscharrender, festhaltender, geiziger alter Sünder; hart und scharf wie ein Kiesel, aus dem noch kein Stahl einen warmen Funken geschlagen hat; verschlossen und selbstbegnügt und für sich, wie eine Auster. Die Kälte in seinem Herzen machte seine alten Züge erstarren, seine spitze Nase noch spitzer, sein Gesicht voll Runzeln, seinen Gang steif, seine Augen rot, seine dünnen Lippen blau, und klang aus seiner krächzenden Stimme heraus. Ein frostiger Reif lag auf seinem Haupt, auf seinen Augenbrauen, auf den starken kurzen Haaren seines Bartes. Er schleppte seine eigene niedere Temperatur immer mit sich herum; in den Hundstagen kühlte er sein Comtoir wie mit Eis; zur Weihnachtszeit wärmte er es nicht um einen Grad.

Äußere Hitze und Kälte wirkten wenig auf Scrooge. Keine Wärme konnte ihn wärmen, keine Kälte ihn frösteln machen. Kein Wind war schneidender als er, kein fallender Schnee mehr auf seinen Zweck bedacht, kein schlagender Regen einer Bitte weniger zugänglich. Schlechtes Wetter konnte ihm nichts anhaben. Der ärgste Regen, Schnee oder Hagel konnten sich nur in einer Art rühmen, besser zu sein als er: Sie gaben oft im Überfluss, und das tat Scrooge nie.

Niemals trat ihm Jemand auf der Straße entgegen, um mit freundlichem Gesicht zu ihm zu sagen: Mein lieber Scrooge, wie geht’s, wann werden Sie mich einmal besuchen? Kein Bettler sprach ihn um eine Kleinigkeit an, kein Kind frug ihn, welche Zeit es sei, kein Mann und kein Weib hat ihn je in seinem Leben um den Weg gefragt. Selbst der Hund des Blinden schien ihn zu kennen, und wenn er ihn kommen sah, zupfte er seinen Herrn, dass er in ein Haus trete, und wedelte dann mit dem Schwanze, als wollte er sagen: Kein Auge ist besser, als ein böses Auge, blinder Herr.

Doch was kümmerte das Scrooge? Gerade das gefiel ihm. Allein seinen Weg durch die gedrängten Pfade des Lebens zu gehen, jedem menschlichen Gefühl zu sagen: bleib mir fern, das war das, was Scrooge gefiel.

Ein Mal, es war von allen guten Tagen im Jahre der beste, der Christabend, saß der alte Scrooge in seinem Comtoir. Es war draußen schneidend kalt und nebelig und er konnte hören, wie die Leute im Hofe draußen prustend auf und nieder gingen, die Hände zusammenschlugen und mit den Füßen stampften, um sich zu erwärmen. Es hatte eben erst Drei geschlagen, war aber schon ganz finster. Den ganzen Tag über war es nicht hell geworden, und aus den Fenstern der benachbarten Comtoirs erblickte man Lichter, wie rote Flecken auf der dicken, braunen Luft. Der Nebel drang durch jede Spalte und durch jedes Schlüsselloch und war draußen so dick, dass die gegenüber stehenden Häuser des sehr kleinen Hofes wie ihre eignen Geister aussahen. Wenn man die trübe, dicke Wolke, alles verfinsternd, heruntersinken sah, hätte man meinen können, die Natur wohne dicht nebenan und braue en gros.

Die Tür von Scrooge’s Comtoir stand offen, damit er seinen Commis beaufsichtigen könne, welcher in einem unheimlich feuchten, kleinen Raume, einer Art Burgverlies, Briefe kopierte. Scrooge hatte nur ein sehr kleines Feuer, aber des Dieners Feuer war um so viel kleiner, dass es wie eine einzige Kohle aussah. Er konnte aber nicht nachlegen, denn Scrooge hatte den Kohlenkasten in seinem Zimmer und allemal, wenn der Diener, mit der Kohlenschaufel in der Hand, hereinkam, meinte der Herr, es würde wohl nötig sein, dass sie sich trennten. Worauf der Diener seinen weißen Schal umband und versuchte, sich an dem Lichte zu wärmen, was, da er ein Mann von nicht zu starker Einbildungskraft war, immer fehl schlug.

„Fröhliche Weihnachten, Onkel, Gott erhalte Sie!“ rief eine heitere Stimme. Es war die Stimme von Scrooge’s Neffen, der ihm so schnell auf den Hals kam, dass dieser Gruß die erste Ankündigung seiner Annäherung war.
„Pah“, sagte Scrooge, „dummes Zeug!“

Der Neffe war vom schnellen Laufen so warm geworden, dass er über und über glühte; sein Gesicht war rot und hübsch, seine Augen glänzten und sein Atem rauchte.

„Weihnachten, dummes Zeug, Onkel?“ sagte Scrooge’s Neffe, „das kann nicht Ihr Ernst sein.“
„Es ist mein Ernst“, sagte Scrooge. „Fröhliche Weihnachten? Was für ein Recht hast Du, fröhlich zu sein? was für einen Grund, fröhlich zu sein? Du bist arm genug.“
„Nun“, antwortete der Neffe heiter, „was für ein Recht haben Sie, grämlich zu sein? was für einen Grund, mürrisch zu sein? Sie sind reich genug.“

Scrooge, der im Augenblick keine bessere Antwort bereit hatte, sagte noch einmal „Pah!“ und brummte ein „Dummes Zeug!“ hinterher.

„Seien Sie nicht bös, Onkel“, sagte der Neffe.

„Was soll ich anders sein“, antwortete der Onkel, „wenn ich in einer Welt voll solcher Narren lebe? Fröhliche Weihnachten! Der Henker hole die fröhlichen Weihnachten! Was ist Weihnachten für Dich anders, als ein Tag, wo Du Rechnungen bezahlen sollst, ohne Geld zu haben; ein Tag, wo Du Dich um ein Jahr älter und nicht um eine Stunde reicher findest; ein Tag, wo Du Deine Bücher abschließest und in jedem Posten durch ein volles Dutzend von Monaten ein Defizit siehst? Wenn es nach mir ginge“, sagte Scrooge heftig, „so müsste jeder Narr, der mit seinem fröhlichen Weihnachten herumläuft, mit seinem eigenen Pudding gekocht und mit einem Pfahl von Stecheiche im Herzen begraben werden.“
„Onkel“, sagte der Neffe.
„Neffe“, antwortete der Onkel heftig, „feiere Du Weihnachten nach Deiner Art und lass es mich nach meiner feiern.“
„Feiern!“ wiederholte Scrooge’s Neffe; „aber Sie feiern es nicht.“
„Lass mich ungeschoren“, sagte Scrooge. „Mag es Dir Nutzen bringen! viel genützt hat es Dir schon.“
„Es gibt viel Dinge, die mir hätten nützen können und die ich nicht benutzt habe, das weiß ich“, antwortete der Neffe, „und Weihnachten ist eins von denen. Aber ich weiß gewiss, dass ich Weihnachten, wenn es gekommen ist, abgesehen von der Verehrung, die wir seinem heiligen Namen und Ursprung schuldig sind, immer als eine gute Zeit betrachtet habe, als eine liebe Zeit, als die Zeit der Vergebung und Barmherzigkeit, als die einzige Zeit, die ich in dem ganzen langen Jahreskalender kenne, wo die Menschen einträchtig ihre verschlossenen Herzen auftun und die andern Menschen betrachten, als wenn sie wirklich Reisegefährten nach dem Grabe wären und nicht eine ganz andere Art von Geschöpfen, die einen ganz andern Weg gehen. Und daher, Onkel, ob es mir gleich niemals ein Stück Gold oder Silber in die Tasche gebracht hat, glaube ich doch, es hat mir Gutes getan und es wird mir Gutes tun, und ich sage: Gott segne es!“

Der Diener in dem Burgverliese draußen applaudierte unwillkürlich; aber den Augenblick darauf fühlte er auch die Unschicklichkeit seines Betragens, schürte die Kohlen und verlöschte den letzten kleinen Funken auf immer.

„Wenn Sie mich noch einen einzigen Laut hören lassen“, sagte Scrooge, „so feiern Sie Ihre Weihnachten mit dem Verlust Ihrer Stelle. Du bist ein ganz gewaltiger Redner“, fügte er hinzu, sich zu seinem Neffen wendend. „Es wundert mich, dass Du nicht ins Parlament kommst.“

„Seien Sie nicht bös, Onkel. Essen Sie morgen mit uns.“

Scrooge sagte, dass er ihn erst verdammt sehen wollte, ja wahrhaftig, er sprach sich ganz deutlich aus.

„Aber warum?“ rief Scrooge’s Neffe, „warum?“
„Warum hast Du Dich verheiratet?“ sagte Scrooge.
„Weil ich mich verliebte.“
„Weil er sich verliebte!“ brummte Scrooge, als ob das das einzige Ding in der Welt wäre, noch lächerlicher als eine fröhliche Weihnacht. „Guten Nachmittag!“
„Aber Onkel, Sie haben mich ja auch nie vorher besucht. Warum soll es da ein Grund sein, mich jetzt nicht zu besuchen?“
„Guten Nachmittag!“ sagte Scrooge.
„Ich brauche nichts von Ihnen, ich verlange nichts von Ihnen, warum können wir nicht gute Freunde sein?“
„Guten Nachmittag!“ sagte Scrooge.
„Ich bedaure wirklich von Herzen, Sie so hartnäckig zu finden. Wir haben nie einen Zank miteinander gehabt, an dem ich schuld gewesen wäre. Aber ich habe den Versuch gemacht, Weihnachten zu Ehren, und ich will meine Weihnachtsstimmung bis zuletzt behalten. Fröhliche Weihnachten, Onkel!“
„Guten Nachmittag!“ sagte Scrooge.
„Und ein glückliches Neujahr!“
„Guten Nachmittag!“ sagte Scrooge.

Aber doch verließ der Neffe das Zimmer ohne ein böses Wort. An der Haustür blieb er noch stehen, um mit dem Glückwunsche des Tages den Diener zu begrüßen, der bei aller Kälte doch noch wärmer als Scrooge war, denn er gab den Gruß freundlich zurück.

„Das ist auch so ein Kerl“, brummte Scrooge, der es hörte. „Mein Diener, mit fünfzehn Schilling die Woche und Frau und Kindern, spricht von fröhlichen Weihnachten. Ich gehe nach Bedlam.“

Der Diener hatte, indem er den Neffen hinausließ, zwei andere Personen eingelassen. Es waren zwei behäbige, wohlansehnliche Herren, die jetzt, den Hut in der Hand, in Scrooge’s Comtoir standen. Sie hatten Bücher und Papiere in der Hand und verbeugten sich.







___________________________________
Textgrundlage: "Der Weihnachts-Abend",
Charles Dickens, Entstehungsdaten: 1843,
ED: 1877, Übersetzer: Julius Seybt, Verlag G. Grote,
Druck Fischer & Wittig,
Erscheinungsort: Berlin

wikisource

Bild 1: "Fezziwig‘s Weihnachtsball", Federzeichnungen
von 
John Leech (1817-1864)


Logo 166: "Hamlet and his Fuseli", Henry Fusili,
1780-1785,
  gemeinfrei
wikimedia
   lifedays-seite - moment in time