Weihnachts-Abend
Fezziwig's Weihnachtsball
Zweites Kapitel V -
Der Erste der drei Geister
„Da
ist auch der Papagei“, rief Scrooge, „mit grünem Leib und gelbem
Schwanz, da
ist er! Der arme Robinson, er rief ihn, als er wieder von seiner
Umsegelung der
Insel nach Haus kam: ‚Robinson Crusoe, wo bist Du gewesen?‘ Er glaubte,
er
träume, aber es war der Papagei. Ha, dort läuft Freitag in der kleinen
Bucht.
Es gilt das Leben. Halloh, hoh, halloh!“
Dann
sagte er mit einem schnellen Wechsel der Gefühle, der seinem
gewöhnlichen
Charakter sehr fremd war: „Der arme Knabe!“ und er weinte wieder.
„Ich
wollte“, murmelte Scrooge, die Hand in die Tasche steckend und um sich
blickend, nachdem er sich mit dem Rockaufschlag die Augen gewischt
hatte, „aber
es ist zu spät jetzt.“
„Was
willst Du?“ frug der Geist.
„Nichts“,
sagte Scrooge, „nichts. Gestern Abend sang vor meiner Tür ein
Knabe ein
Weihnachtslied. Ich wollte, ich hätte ihm etwas gegeben, weiter war es
nichts.“
Der
Geist lächelte gedankenvoll und winkte mit der Hand. Dann sagte er:
„Lass uns
ein anderes Weihnachten sehen.“
Scrooge’s
früheres Selbst wurde bei diesen Worten größer, und das Zimmer etwas
finstrer
und schwärzer; das Getäfel warf sich, die Fensterscheiben sprangen;
Stücke
Kalkbewurf fielen von der Decke, und das bloße Lattenwerk zeigte sich;
aber wie
das Alles geschah, wusste Scrooge eben so wenig als Ihr. Er wusste nur,
Alles
sei ganz in der Ordnung, und habe sich ganz so zugetragen, und er sei
es
wieder, der dort allein sitze, während die anderen Knaben nach Hause
zur
fröhlichen Weihnachtsfeier gereist waren.
Er
las nicht, sondern ging wie in Verzweiflung im Zimmer auf und ab.
Scrooge
blickte den Geist an, und schaute mit einem traurigen Kopfschütteln und
in
banger Erwartung nach der Tür.
Sie
ging auf, und ein kleines Mädchen, viel jünger als der Knabe, sprang
herein,
schlang die Arme um seinen Hals, küsste ihn und begrüßte ihn als ihren
„lieben,
lieben Bruder.“
„Ich
komme, um Dich mit nach Haus zu nehmen, lieber Bruder!“ sagte das Kind,
fröhlich mit den Händen klatschend. „Dich mit nach Haus zu nehmen, nach
Haus!“
„Nach
Haus, liebe Fanny?“ frug der Knabe.
„Ja!“ antwortete die Kleine in überströmender
Lust. „Nach Hause und für immer. Der Vater ist so viel freundlicher als
sonst,
dass es bei uns wie im Himmel ist. Er sprach eines Abends, als ich zu
Bett ging,
so freundlich mit mir, dass ich mir ein Herz fasste und ihn frug, ob Du
nicht
nach Hause kommen dürftest; und er sagte ja, und schickt mich im Wagen
her, um
Dich zu holen. Und Du sollst jetzt Dein freier Herr sein“, sagte das
Kind und
blickte ihn bewundernd an, „und nicht mehr hieher zurückkehren; aber
erst
sollen wir Alle zusammen das Weihnachtsfest feiern und recht lustig
sein.“
„Du
bist ja eine ordentliche Dame geworden, Fanny!“ rief der Knabe aus.
Sie
klatschte in die Hände und lachte, und versuchte, bis an seinen Kopf zu
reichen; aber sie war zu klein, und lachte wieder, und stellte sich auf
die
Zehen, um ihn zu umarmen. Dann zog sie ihn in kindischer Ungeduld nach
der Tür,
und er begleitete sie mit leichtem Herzen.
Eine
schreckliche Stimme im Hausflur rief: „Bringt Master Scrooge’s Koffer
herunter!“ Es war der Schullehrer selbst, welcher Master Scrooge mit
gestrengster Herablassung anstierte, und ihn in großen Schrecken
setzte, wie er
ihm die Hand drückte. Dann führte er ihn und seine Schwester in ein
feuchtes,
frösteln erregendes Putzzimmer, wo die Erd- und Himmelsgloben im
Fenster vor
Kälte glänzten. Hier brachte er eine Flasche merkwürdig leichten Wein
und ein
Stück merkwürdig schweren Kuchen herbei, und regalierte die Kinder
schonend sparsam mit
diesen auserlesenen Leckerbissen. Auch schickte er eine hungrig
aussehende Magd
hinaus, um dem Postillon ein Gläschen anzubieten, wofür dieser aber mit
den
Worten dankte, wenn es von demselben Fass wie das vorige sei, möchte er
lieber
nicht kosten. Während dieser Zeit war Master Scrooge’s Koffer auf den
Wagen
gebunden worden, und die Kinder nahmen ohne Bedauern von dem
Schulmeister
Abschied, setzten sich in den Wagen, und fuhren so schnell zum Garten
hinaus,
dass der Reif und der Schnee von den immergrünen Gebüschen wie Schaum
stob.
„Sie
war immer ein zartes Wesen, das von einem Hauch hätte verwelken
können“, sagte
der Geist. „Aber sie hatte ein reiches Herz.“
„Ja,
das hatte sie“, rief Scrooge. „Ich will nicht widersprechen, Geist.
Gott
verhüte es!“
„Sie
starb verheiratet“, sagte der Geist, „und hatte Kinder, glaube ich.“
„Ein
Kind“, antwortete Scrooge.
„Ja“,
sagte der Geist. „Dein Neffe.“
Scrooge
schien unruhig zu werden und er antwortete kurz „Ja.“
Obgleich
sie kaum einen Augenblick die Schule hinter sich gelassen hatten,
befanden sie
sich doch jetzt mitten in den lebendigsten Straßen der Stadt, wo
schattenhafte
Fußgänger vorübergingen, wo gespenstige Wagen und Kutschen sich um
Platz
stritten und wo alles Gedräng und alles wirre Leben einer
wirklichen Stadt war.
An dem Aufputz der Läden sah man, dass auch hier Weihnachten sei; aber
es war
Abend und die Straßenlaternen brannten.
Der
Geist blieb vor einer Gewölbetür stehen und frug Scrooge, ob er sie
kenne.
„Ob
ich sie kenne?“ sagte Scrooge. „Hab’ ich hier nicht gelernt?“
Sie
traten hinein. Beim Anblick eines alten Herrn in einer Stutzperrücke,
welcher
hinter einem so hohen Pulte saß, dass er mit dem Kopf hätte an die
Decke stoßen
müssen, wenn er zwei Zoll größer gewesen wäre, rief Scrooge in großer
Aufregung: „Ha, das ist ja der alte Fezziwig, Gott segne ihn, es ist
Fezziwig,
wie er leibt und lebt!“
Der
alte Fezziwig legte seine Feder hin und sah nach der Uhr, deren Zeiger
auf
Sieben stand. Er rieb die Hände, zog seine geräumige Weste herunter,
lachte
über und über, von den Schuhspitzen bis zu dem Organ der Gutmütigkeit,
und rief
mit einer behäbigen, voll und doch mild tönenden heiteren Stimme:
„Hallo, dort!
Ebenezer! Dick!“
Scrooge’s
früheres Selbst, jetzt zu einem Jüngling geworden, trat munter herein,
begleitet von seinem Mitlehrling.
„Dick
Wilkins, wahrhaftig!“ sagte Scrooge zu dem Geist. „Wahrhaftig, er ist
es. Er
hat mich sehr lieb, der Dick. Der arme Dick! Gott, Gott!“
„Hallo,
meine Burschen“, sagte Fezziwig. „Feierabend heute. Weihnachten, Dick!
Weihnachten, Ebenezer! Macht die Laden zu“, rief der
alte Fezziwig,
munter die Hände zusammenklatschend, „ehe ein Mann sagen kann Jack
Robinson.“
Man
hätte nicht glauben sollen, wie frisch die beiden Jungen daran gingen.
Sie
liefen mit den Laden hinaus – eins, zwei, drei – hatten sie eingesetzt
– vier,
fünf, sechs – sie zugeriegelt und zugeschraubt – sieben, acht, neun –
und kamen
zurück, ehe man zwölf sagen konnte, außer Atem, wie Rennpferde.
„Hussahoh!“
rief der alte Fezziwig, mit wunderbarer Geschicklichkeit von seinem
hohen
Sessel herunterspringend. „Räumt auf, Jungens, und macht viel Platz!
Hussahoh,
Dick! Hallo, Ebenezer!“
Aufräumen!
Sie würden Alles weggeräumt haben und konnten Alles wegräumen, wo
Fezziwig
zuschaute. Es war in einer Minute geschehen. Alles, was nicht niet- und
nagelfest war, wurde in die Winkel geschoben, als wenn es für immer aus
dem
öffentlichen Dienste entlassen worden wäre; die Flur wurde gekehrt und
gesprengt, die Lampen geputzt, Kohlen auf das Feuer geschüttet; und der
Laden
war so behaglich und warm und hell, wie ein Ballzimmer, wie man es nur
an einem
Winterabende verlangen kann.
Jetzt
trat ein Fiedler mit einem Notenbuche herein und stieg Fezziwig’s hohen
Stuhl
hinauf, dort sein Orchester aufzuschlagen und stimmte wie toll. Dann
kam Mrs.
Fezziwig, ein behagliches
Lächeln über und über. Dann kamen die drei Miß Fezziwig’s,
freudestrahlend und
liebenswürdig. Dann kamen die sechs
Jünglinge, deren Herzen sie brachen. Dann kamen die Burschen und
Mädchen, die
im Hause einen Dienst hatten: das Hausmädchen mit ihrem Vetter, dem
Bäcker, die
Köchin mit ihres Bruders vertrautem Freund, dem Milchmann. Dann kam der
Bursche
von gegenüber, von dem man sagte, er habe bei seinem Herrn knappe Kost;
er
versuchte, sich hinter dem Mädchen aus dem Nachbarhause zu verstecken,
der man
bewies, sie sei von ihrer Herrschaft ausgescholten worden. Sie kamen
Alle,
Einer nach dem Andern; Einige blöde, Andere keck, Einige mit Geschick,
Andere
mit Ungeschick, Die zerrend und Jene stoßend. Dann ging es los, zwanzig
Paar auf
einmal, eine halbe Runde hin und zurück, dann die Mitte des Zimmers
hinauf und
wieder herab, dann in verschiedenen Kreisen sich drehend; das alte
erste Paar
immer an der falschen Stelle stehen bleibend; das neue erste Paar immer
wieder
anfangend, wenn es stehen bleiben sollte; bis alle Paare erste waren
und kein
einziges mehr das letzte. Als sie so weit gekommen waren, klatschte der
alte
Fezziwig zum Zeichen, dass der Tanz aus sei und rief „Bravo!“ und der
Fiedler
senkte sein glühendes Gesicht in einen Krug Porter, der besonders zu
diesem
Zweck neben ihm stand. Aber kaum war er wieder herausgestiegen, als er
wieder
aufzuspielen anfing, obgleich noch keine Tänzer dastanden, als wenn der
alte
Fiedler erschöpft nach Hause getragen worden und er ein ganz frischer
sei,
entschlossen, ihn vergessen zu machen, oder zu sterben.
Dann
folgten noch mehrere Tänze und Pfänderspiele und wieder Tänze. Dann kam
Kuchen
und Negus und ein großes Stück kalter Rinderbraten, und dann ein großes
Stück
kaltes, gekochtes Rindfleisch und Fleischpasteten und Überfluss von
Bier. Aber
der Glanzpunkt des Abends kam nach dem Rindfleisch, als der Fiedler
(ein
pfiffiger Kopf, er kannte sein Geschäft besser, als Ihr oder ich es ihm
hätte
lehren können) anfing „Sir Roger de Coverley“. Da trat der alte
Fezziwig mit
Mrs. Fezziwig an und zwar als das erste Paar. Sie hatten ein gut Stück
Arbeit
vor sich, drei oder vier und zwanzig Paar Tänzer, Leute, mit denen
nicht zu
spaßen war, Leute, die tanzen wollten und keinen Begriff vom Gehen
hatten.
Aber
wenn es zweimal, ja viermal so viel gewesen wären, hätte es der alte
Fezziwig
mit ihnen aufgenommen und auch Mrs. Fezziwig. Sie war im vollen Sinne
des
Wortes würdig, seine Tänzerin zu sein. Wenn das kein großes Lob ist, so
sagt
mir ein größeres und ich will es aussprechen. Fezziwig’s Waden schienen
wirklich zu leuchten. Sie glänzten in jedem Teil des Tanzes wie ein
Paar Monde.
Ihr hättet zu irgend einer Minute nicht voraussagen können, was aus
ihnen in
der nächsten werden würde. Und als der alte Fezziwig und Mrs. Fezziwig
alle
Touren des Tanzes durchgemacht hatten, battierte Fezziwig so geschickt,
dass es
war, als] zwinkerte
er mit den Beinen, und er kam, ohne zu wanken, wieder auf die Füße.
Mit
dem Glockenschlag Elf war dieser häusliche Ball zu Ende. Mr. und Mrs.
Fezziwig
stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf, schüttelten jedem Einzelnen
der
Gäste die Hand zum Abschied und wünschten ihm oder ihr fröhliche
Weihnachten.
Als
Alles, außer den zwei Lehrlingen, fort war, taten sie diesen das
Gleiche. So
waren die heitern Stimmen verklungen, und die Burschen gingen in ihr
Bett,
welches sich unter einem Ladentisch in der hintersten Niederlage befand.
Während
dieser ganzen Zeit hatte sich Scrooge wie ein Verrückter benommen. Sein
Herz
und seine Seele waren mit dem Ball und seinem früheren Selbst. Er
bestätigte
Alles, erinnerte sich an Alles, freute sich über Alles und befand sich
in der
seltsamsten Aufregung. Nicht eher, als bis die fröhlichen Gesichter
seines
früheren Selbst und Dick’s verschwunden waren, dachte er daran, dass
der Geist
neben ihm stehe und ihn anschaue, während das Licht auf seinem Haupte
in voller
Klarheit brannte.
„Eine
Kleinigkeit“, sagte der Geist, „diesen närrischen Leuten solche
Dankbarkeit
einzuflößen.“
„Eine
Kleinigkeit!“ gab Scrooge zurück.
Der
Geist gab ihm ein Zeichen, den beiden Lehrlingen zuzuhören, welche ihr
Herz in
Lobpreisungen Fezziwig’s ausschütteten; und als Scrooge das getan
hatte, sprach
der Geist: „Nun, ist es nicht so? Er hat nur ein Paar Pfund Eures
irdischen Geldes
hingegeben; vielleicht drei oder vier. Ist das so viel, dass er solches
Lob
verdient?“
„Das
ist’s nicht“, sagte Scrooge, von dieser Bemerkung gereizt und wie sein
früheres, nicht wie sein jetziges Selbst sprechend. „Das ist’s nicht,
Geist. Er
hat die Macht, uns glücklich oder unglücklich, unsern Dienst zu einer
Last oder
zu einer Bürde, zu einer Freude oder zu einer Qual zu machen. Du magst
sagen,
seine Macht liege in Worten und Blicken, in so unbedeutenden und
kleinen Dingen,
dass es unmöglich ist, sie herzuzählen: was schadet das? Das Glück,
welches er
bereitet, ist so groß, als wenn es sein ganzes Vermögen kostete.“
Er
fühlte des Geistes Blick und schwieg.
„Was
gibt’s?“ fragte der Geist.
„Nichts,
nichts“, sagte Scrooge.
„Etwas,
sollt’ ich meinen“, drängte der Geist.
„Nein“,
sagte Scrooge, „nein. Ich möchte nur eben ein Paar Worte mit meinem
Diener
sprechen. Das ist Alles.“
Sein
früheres Selbst löschte die Lampen aus, als er diesen Wunsch aussprach,
und
Scrooge und der Geist standen wieder im Freien.
„Meine
Zeit geht zu Ende“, sagte der Geist. „Schnell!“