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Literatur


04.w2

Weihnachten

Märchen und Geschichten



Weihnachts-Abend


Fezziwig's Weihnachtsball


 Zweites Kapitel V - Der Erste der drei Geister

„Da ist auch der Papagei“, rief Scrooge, „mit grünem Leib und gelbem Schwanz, da ist er! Der arme Robinson, er rief ihn, als er wieder von seiner Umsegelung der Insel nach Haus kam: ‚Robinson Crusoe, wo bist Du gewesen?‘ Er glaubte, er träume, aber es war der Papagei. Ha, dort läuft Freitag in der kleinen Bucht. Es gilt das Leben. Halloh, hoh, halloh!“

Dann sagte er mit einem schnellen Wechsel der Gefühle, der seinem gewöhnlichen Charakter sehr fremd war: „Der arme Knabe!“ und er weinte wieder.

„Ich wollte“, murmelte Scrooge, die Hand in die Tasche steckend und um sich blickend, nachdem er sich mit dem Rockaufschlag die Augen gewischt hatte, „aber es ist zu spät jetzt.“
„Was willst Du?“ frug der Geist.
„Nichts“, sagte Scrooge, „nichts. Gestern Abend sang vor meiner Tür ein Knabe ein Weihnachtslied. Ich wollte, ich hätte ihm etwas gegeben, weiter war es nichts.“

Der Geist lächelte gedankenvoll und winkte mit der Hand. Dann sagte er: „Lass uns ein anderes Weihnachten sehen.“

Scrooge’s früheres Selbst wurde bei diesen Worten größer, und das Zimmer etwas finstrer und schwärzer; das Getäfel warf sich, die Fensterscheiben sprangen; Stücke Kalkbewurf fielen von der Decke, und das bloße Lattenwerk zeigte sich; aber wie das Alles geschah, wusste Scrooge eben so wenig als Ihr. Er wusste nur, Alles sei ganz in der Ordnung, und habe sich ganz so zugetragen, und er sei es wieder, der dort allein sitze, während die anderen Knaben nach Hause zur fröhlichen Weihnachtsfeier gereist waren.

Er las nicht, sondern ging wie in Verzweiflung im Zimmer auf und ab. Scrooge blickte den Geist an, und schaute mit einem traurigen Kopfschütteln und in banger Erwartung nach der Tür.

Sie ging auf, und ein kleines Mädchen, viel jünger als der Knabe, sprang herein, schlang die Arme um seinen Hals, küsste ihn und begrüßte ihn als ihren „lieben, lieben Bruder.“

„Ich komme, um Dich mit nach Haus zu nehmen, lieber Bruder!“ sagte das Kind, fröhlich mit den Händen klatschend. „Dich mit nach Haus zu nehmen, nach Haus!“
„Nach Haus, liebe Fanny?“ frug der Knabe.
„Ja!“ antwortete die Kleine in überströmender Lust. „Nach Hause und für immer. Der Vater ist so viel freundlicher als sonst, dass es bei uns wie im Himmel ist. Er sprach eines Abends, als ich zu Bett ging, so freundlich mit mir, dass ich mir ein Herz fasste und ihn frug, ob Du nicht nach Hause kommen dürftest; und er sagte ja, und schickt mich im Wagen her, um Dich zu holen. Und Du sollst jetzt Dein freier Herr sein“, sagte das Kind und blickte ihn bewundernd an, „und nicht mehr hieher zurückkehren; aber erst sollen wir Alle zusammen das Weihnachtsfest feiern und recht lustig sein.“
„Du bist ja eine ordentliche Dame geworden, Fanny!“ rief der Knabe aus.

Sie klatschte in die Hände und lachte, und versuchte, bis an seinen Kopf zu reichen; aber sie war zu klein, und lachte wieder, und stellte sich auf die Zehen, um ihn zu umarmen. Dann zog sie ihn in kindischer Ungeduld nach der Tür, und er begleitete sie mit leichtem Herzen.

Eine schreckliche Stimme im Hausflur rief: „Bringt Master Scrooge’s Koffer herunter!“ Es war der Schullehrer selbst, welcher Master Scrooge mit gestrengster Herablassung anstierte, und ihn in großen Schrecken setzte, wie er ihm die Hand drückte. Dann führte er ihn und seine Schwester in ein feuchtes, frösteln erregendes Putzzimmer, wo die Erd- und Himmelsgloben im Fenster vor Kälte glänzten. Hier brachte er eine Flasche merkwürdig leichten Wein und ein Stück merkwürdig schweren Kuchen herbei, und regalierte die Kinder schonend sparsam mit diesen auserlesenen Leckerbissen. Auch schickte er eine hungrig aussehende Magd hinaus, um dem Postillon ein Gläschen anzubieten, wofür dieser aber mit den Worten dankte, wenn es von demselben Fass wie das vorige sei, möchte er lieber nicht kosten. Während dieser Zeit war Master Scrooge’s Koffer auf den Wagen gebunden worden, und die Kinder nahmen ohne Bedauern von dem Schulmeister Abschied, setzten sich in den Wagen, und fuhren so schnell zum Garten hinaus, dass der Reif und der Schnee von den immergrünen Gebüschen wie Schaum stob.

„Sie war immer ein zartes Wesen, das von einem Hauch hätte verwelken können“, sagte der Geist. „Aber sie hatte ein reiches Herz.“
„Ja, das hatte sie“, rief Scrooge. „Ich will nicht widersprechen, Geist. Gott verhüte es!“
„Sie starb verheiratet“, sagte der Geist, „und hatte Kinder, glaube ich.“
„Ein Kind“, antwortete Scrooge.
„Ja“, sagte der Geist. „Dein Neffe.“
Scrooge schien unruhig zu werden und er antwortete kurz „Ja.“

Obgleich sie kaum einen Augenblick die Schule hinter sich gelassen hatten, befanden sie sich doch jetzt mitten in den lebendigsten Straßen der Stadt, wo schattenhafte Fußgänger vorübergingen, wo gespenstige Wagen und Kutschen sich um Platz stritten und wo alles Gedräng und alles wirre Leben einer wirklichen Stadt war. An dem Aufputz der Läden sah man, dass auch hier Weihnachten sei; aber es war Abend und die Straßenlaternen brannten.

Der Geist blieb vor einer Gewölbetür stehen und frug Scrooge, ob er sie kenne.

„Ob ich sie kenne?“ sagte Scrooge. „Hab’ ich hier nicht gelernt?“

Sie traten hinein. Beim Anblick eines alten Herrn in einer Stutzperrücke, welcher hinter einem so hohen Pulte saß, dass er mit dem Kopf hätte an die Decke stoßen müssen, wenn er zwei Zoll größer gewesen wäre, rief Scrooge in großer Aufregung: „Ha, das ist ja der alte Fezziwig, Gott segne ihn, es ist Fezziwig, wie er leibt und lebt!“

Der alte Fezziwig legte seine Feder hin und sah nach der Uhr, deren Zeiger auf Sieben stand. Er rieb die Hände, zog seine geräumige Weste herunter, lachte über und über, von den Schuhspitzen bis zu dem Organ der Gutmütigkeit, und rief mit einer behäbigen, voll und doch mild tönenden heiteren Stimme: „Hallo, dort! Ebenezer! Dick!“

Scrooge’s früheres Selbst, jetzt zu einem Jüngling geworden, trat munter herein, begleitet von seinem Mitlehrling.

„Dick Wilkins, wahrhaftig!“ sagte Scrooge zu dem Geist. „Wahrhaftig, er ist es. Er hat mich sehr lieb, der Dick. Der arme Dick! Gott, Gott!“
„Hallo, meine Burschen“, sagte Fezziwig. „Feierabend heute. Weihnachten, Dick! Weihnachten, Ebenezer! Macht die Laden zu“, rief der alte Fezziwig, munter die Hände zusammenklatschend, „ehe ein Mann sagen kann Jack Robinson.“

Man hätte nicht glauben sollen, wie frisch die beiden Jungen daran gingen. Sie liefen mit den Laden hinaus – eins, zwei, drei – hatten sie eingesetzt – vier, fünf, sechs – sie zugeriegelt und zugeschraubt – sieben, acht, neun – und kamen zurück, ehe man zwölf sagen konnte, außer Atem, wie Rennpferde.

„Hussahoh!“ rief der alte Fezziwig, mit wunderbarer Geschicklichkeit von seinem hohen Sessel herunterspringend. „Räumt auf, Jungens, und macht viel Platz! Hussahoh, Dick! Hallo, Ebenezer!“

Aufräumen! Sie würden Alles weggeräumt haben und konnten Alles wegräumen, wo Fezziwig zuschaute. Es war in einer Minute geschehen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde in die Winkel geschoben, als wenn es für immer aus dem öffentlichen Dienste entlassen worden wäre; die Flur wurde gekehrt und gesprengt, die Lampen geputzt, Kohlen auf das Feuer geschüttet; und der Laden war so behaglich und warm und hell, wie ein Ballzimmer, wie man es nur an einem Winterabende verlangen kann.

Jetzt trat ein Fiedler mit einem Notenbuche herein und stieg Fezziwig’s hohen Stuhl hinauf, dort sein Orchester aufzuschlagen und stimmte wie toll. Dann kam Mrs. Fezziwig, ein behagliches Lächeln über und über. Dann kamen die drei Miß Fezziwig’s, freudestrahlend und liebenswürdig. Dann kamen die sechs Jünglinge, deren Herzen sie brachen. Dann kamen die Burschen und Mädchen, die im Hause einen Dienst hatten: das Hausmädchen mit ihrem Vetter, dem Bäcker, die Köchin mit ihres Bruders vertrautem Freund, dem Milchmann. Dann kam der Bursche von gegenüber, von dem man sagte, er habe bei seinem Herrn knappe Kost; er versuchte, sich hinter dem Mädchen aus dem Nachbarhause zu verstecken, der man bewies, sie sei von ihrer Herrschaft ausgescholten worden. Sie kamen Alle, Einer nach dem Andern; Einige blöde, Andere keck, Einige mit Geschick, Andere mit Ungeschick, Die zerrend und Jene stoßend. Dann ging es los, zwanzig Paar auf einmal, eine halbe Runde hin und zurück, dann die Mitte des Zimmers hinauf und wieder herab, dann in verschiedenen Kreisen sich drehend; das alte erste Paar immer an der falschen Stelle stehen bleibend; das neue erste Paar immer wieder anfangend, wenn es stehen bleiben sollte; bis alle Paare erste waren und kein einziges mehr das letzte. Als sie so weit gekommen waren, klatschte der alte Fezziwig zum Zeichen, dass der Tanz aus sei und rief „Bravo!“ und der Fiedler senkte sein glühendes Gesicht in einen Krug Porter, der besonders zu diesem Zweck neben ihm stand. Aber kaum war er wieder herausgestiegen, als er wieder aufzuspielen anfing, obgleich noch keine Tänzer dastanden, als wenn der alte Fiedler erschöpft nach Hause getragen worden und er ein ganz frischer sei, entschlossen, ihn vergessen zu machen, oder zu sterben.

Dann folgten noch mehrere Tänze und Pfänderspiele und wieder Tänze. Dann kam Kuchen und Negus und ein großes Stück kalter Rinderbraten, und dann ein großes Stück kaltes, gekochtes Rindfleisch und Fleischpasteten und Überfluss von Bier. Aber der Glanzpunkt des Abends kam nach dem Rindfleisch, als der Fiedler (ein pfiffiger Kopf, er kannte sein Geschäft besser, als Ihr oder ich es ihm hätte lehren können) anfing „Sir Roger de Coverley“. Da trat der alte Fezziwig mit Mrs. Fezziwig an und zwar als das erste Paar. Sie hatten ein gut Stück Arbeit vor sich, drei oder vier und zwanzig Paar Tänzer, Leute, mit denen nicht zu spaßen war, Leute, die tanzen wollten und keinen Begriff vom Gehen hatten.

Aber wenn es zweimal, ja viermal so viel gewesen wären, hätte es der alte Fezziwig mit ihnen aufgenommen und auch Mrs. Fezziwig. Sie war im vollen Sinne des Wortes würdig, seine Tänzerin zu sein. Wenn das kein großes Lob ist, so sagt mir ein größeres und ich will es aussprechen. Fezziwig’s Waden schienen wirklich zu leuchten. Sie glänzten in jedem Teil des Tanzes wie ein Paar Monde. Ihr hättet zu irgend einer Minute nicht voraussagen können, was aus ihnen in der nächsten werden würde. Und als der alte Fezziwig und Mrs. Fezziwig alle Touren des Tanzes durchgemacht hatten, battierte Fezziwig so geschickt, dass es war, als] zwinkerte er mit den Beinen, und er kam, ohne zu wanken, wieder auf die Füße.

Mit dem Glockenschlag Elf war dieser häusliche Ball zu Ende. Mr. und Mrs. Fezziwig stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf, schüttelten jedem Einzelnen der Gäste die Hand zum Abschied und wünschten ihm oder ihr fröhliche Weihnachten.

Als Alles, außer den zwei Lehrlingen, fort war, taten sie diesen das Gleiche. So waren die heitern Stimmen verklungen, und die Burschen gingen in ihr Bett, welches sich unter einem Ladentisch in der hintersten Niederlage befand.

Während dieser ganzen Zeit hatte sich Scrooge wie ein Verrückter benommen. Sein Herz und seine Seele waren mit dem Ball und seinem früheren Selbst. Er bestätigte Alles, erinnerte sich an Alles, freute sich über Alles und befand sich in der seltsamsten Aufregung. Nicht eher, als bis die fröhlichen Gesichter seines früheren Selbst und Dick’s verschwunden waren, dachte er daran, dass der Geist neben ihm stehe und ihn anschaue, während das Licht auf seinem Haupte in voller Klarheit brannte.

„Eine Kleinigkeit“, sagte der Geist, „diesen närrischen Leuten solche Dankbarkeit einzuflößen.“
„Eine Kleinigkeit!“ gab Scrooge zurück.

Der Geist gab ihm ein Zeichen, den beiden Lehrlingen zuzuhören, welche ihr Herz in Lobpreisungen Fezziwig’s ausschütteten; und als Scrooge das getan hatte, sprach der Geist: „Nun, ist es nicht so? Er hat nur ein Paar Pfund Eures irdischen Geldes hingegeben; vielleicht drei oder vier. Ist das so viel, dass er solches Lob verdient?“

„Das ist’s nicht“, sagte Scrooge, von dieser Bemerkung gereizt und wie sein früheres, nicht wie sein jetziges Selbst sprechend. „Das ist’s nicht, Geist. Er hat die Macht, uns glücklich oder unglücklich, unsern Dienst zu einer Last oder zu einer Bürde, zu einer Freude oder zu einer Qual zu machen. Du magst sagen, seine Macht liege in Worten und Blicken, in so unbedeutenden und kleinen Dingen, dass es unmöglich ist, sie herzuzählen: was schadet das? Das Glück, welches er bereitet, ist so groß, als wenn es sein ganzes Vermögen kostete.“

Er fühlte des Geistes Blick und schwieg.

„Was gibt’s?“ fragte der Geist.
„Nichts, nichts“, sagte Scrooge.
„Etwas, sollt’ ich meinen“, drängte der Geist.
„Nein“, sagte Scrooge, „nein. Ich möchte nur eben ein Paar Worte mit meinem Diener sprechen. Das ist Alles.“

Sein früheres Selbst löschte die Lampen aus, als er diesen Wunsch aussprach, und Scrooge und der Geist standen wieder im Freien.

„Meine Zeit geht zu Ende“, sagte der Geist. „Schnell!“







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Textgrundlage: "Der Weihnachts-Abend",
Charles Dickens, Entstehungsdaten: 1843,
ED: 1877, Übersetzer: Julius Seybt, Verlag G.
Grote, Druck Fischer & Wittig, Erscheinungsort: Berlin

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Bild 1: "Fezziwig‘s Weihnachtsball",
Federzeichnungen von 
John Leech (1817-1864)

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1893 - gemeinfrei

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