Weihnachts-Abend
Fezziwig's Weihnachtsball
Zweites Kapitel VI -
Der Erste der drei Geister
Dies letzte Wort war nicht zu Scrooge oder zu
Jemand,
den er sehen konnte, gesprochen, aber es wirkte sofort. Denn wieder sah
Scrooge
sich selbst. Er war jetzt älter geworden: ein Mann in der Blüte seiner
Jahre.
Sein Gesicht hatte nicht die schroffen, rauen Züge
seiner spätern Jahre, aber schon fing es an, die Zeichen der Sorge und
des
Geizes zu tragen. In seinem Auge brannte ein ruheloses, habsüchtiges
Feuer,
welches von der Leidenschaft sprach, die dort Wurzel geschlagen hatte,
und
zeigte, wohin der Schatten des wachsenden Baumes fallen würde.
Er war nicht allein, sondern saß neben einem
schönen
jungen Mädchen in Trauerkleidern. In ihrem Auge standen Tränen, welche
in dem
Lichte glänzten, das von dem Geist vergangener Weihnachten ausströmte.
„Es ist ohne Bedeutung“, sagte sie sanft. „Ihnen
von
gar keiner. Ein anderes Götzenbild hat mich verdrängt; und wenn es Sie
in
späterer Zeit trösten und aufrecht erhalten kann, wie ich es versucht
haben
würde, so habe ich keine gerechte Ursache zu klagen.“
„Welches Götzenbild hätte Sie verdrängt?“ erwiderte
er.
„Ein goldenes.“
„Dies ist die Gerechtigkeit der Welt!“ sagte er.
„Gegen nichts ist sie so hart, wie gegen die Armut; und nichts tadelt
sie mit
größerer Strenge, als das Streben nach Reichtum.“
„Sie fürchten das Urteil der Welt zu sehr“, antwortete
sie sanft. „Alle Ihre Hoffnungen sind in der einen aufgegangen, vor
diesem
engherzigen Vorwurf gesichert zu sein. Ich habe Ihre edleren
Bestrebungen eine
nach der andern verschwinden sehen, bis die eine
Leidenschaft nach Gold Sie ganz erfüllt. Ist es nicht wahr?“
„Und was ist da weiter?“ antwortete er. „Selbst wenn
ich so viel klüger geworden bin, was ist da weiter? Gegen Sie bin ich
nie
anders geworden.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Bin ich anders?“
„Unser Bund ist aus alter
Zeit. Er wurde geschlossen,
als wir Beide arm und zufrieden waren, bis wir unser Los durch
ausdauernden
Fleiß verbessern könnten. Sie haben sich verändert. Als er geschlossen
wurde,
waren Sie ein anderer Mensch.“
„Ich war ein Knabe“,
sagte er ungeduldig.
„Ihr eigenes Gefühl sagt
Ihnen, dass Sie nicht so
waren, wie Sie jetzt sind“, antwortete sie. „Ich bin noch dieselbe.
Das, was
uns Glück versprach, als wir noch ein Herz und eine Seele waren, muss
uns
Unglück bringen, da wir im Geiste nicht mehr Eins sind. Wie oft und wie
bitter
ich dies gefühlt habe, will ich nicht sagen; es ist genug, dass ich es
gefühlt
habe und dass ich Ihnen Ihr Wort zurückgeben kann.“
„Habe ich dies jemals verlangt?“
„In Worten? Nein. Niemals!“
„Womit dann?“
„Durch
ein verändertes Wesen, durch einen andern Sinn,
durch andere Bestrebungen des Lebens und durch eine andere Hoffnung,
als seinem
Ziel. In Allem, was meiner Liebe in Ihren Augen einigen Wert gab.
Wenn alles Frühere nicht zwischen uns geschehen
wäre“, sagte das Mädchen, ihn mit sanftem, aber festem Blicke ansehend,
„würden
Sie mich jetzt aufsuchen und um mich werben? Gewiss nicht!“
Er schien die Wahrheit dieser Voraussetzung wider
seinen
Willen zuzugeben. Aber er tat seinen Gefühlen Gewalt an und sagte: „Sie
glauben
es nicht?“
„Gern glaubte ich es, wenn ich es könnte“, sagte
sie,
„Gott weiß es! Wenn ich eine Wahrheit, gleich dieser, erkannt habe,
weiß ich, wie
unwiderstehlich sie sein muss. Aber wenn Sie heute oder morgen, oder
gestern
frei wären, soll ich glauben, dass Sie ein armes Mädchen wählen würden,
Sie,
der selbst in den vertrautesten Stunden Alles nach dem Gewinn abmisst?
oder
soll ich mir verhehlen, dass selbst, wenn Sie für einen Augenblick
Ihrem einen
leitenden Grundsatze untreu werden könnten, Sie gewiss einst Täuschung
und
bittere Reue fühlen würden? Nein, und deswegen gebe ich Ihnen Ihr Wort
zurück.
Willig und um die Liebe Dessen, der Sie einst waren.“
Er wollte sprechen, aber mit abgewendetem Gesicht
fuhr
sie fort:
„Vielleicht – der Gedanke an die Vergangenheit
lässt
es mich fast hoffen – wird es Sie schmerzen. Eine kurze, sehr kurze
Zeit, und
Sie werden dann die Erinnerung daran fallen lassen, freudig, wie die
Gedanken
eines unnützen Traumes, von dem zu erwachen ein
Glück für Sie war. Möge Sie alles Glück auf dem erwählten Lebenswege
begleiten!“
Sie schieden.
„Geist“, sagte Scrooge,
„zeige mir nichts mehr,
führe
mich nach Haus. Warum erfreust Du Dich daran, mich zu quälen?“
„Noch ein Gesicht“, rief der Geist aus.
„Nein“, rief Scrooge. „Nein! Ich mag keins mehr sehen.
Zeige mir keins mehr.“
Aber der erbarmungslose Geist hielt ihn mit
beiden
Händen fest und zwang ihn, zu betrachten, was zunächst geschah.
Sie befanden sich an einem andern Ort, in einem
Zimmer, nicht sehr groß oder schön, aber voller Behaglichkeit. Neben
dem Kamin
saß ein schönes junges Mädchen, so gleich Der, welche Scrooge zuletzt
gesehen
hatte, dass er glaubte, es sei Dieselbe, bis er sie, jetzt eine
stattliche
Matrone, der Tochter gegenüber sitzen sah. In dem Zimmer war ein wahrer
Aufruhr, denn es befanden sich mehr Kinder darin, als Scrooge in seiner
Aufregung zählen konnte; und hier betrugen sich nicht vierzig Kinder
wie eins,
sondern jedes Kind wie vierzig. Die Folge davon war ein Lärm sonder
Gleichen;
aber Niemand schien sich darum zu kümmern; im Gegenteil, Mutter und
Tochter
lachten herzlich und freuten sich darüber; und die Letztere, die sich
bald in
die Spiele mischte, wurde von den kleinen Schelmen gar grausam
mitgenommen. Was
hätte ich darum gegeben, eines dieser Kinder zu sein,
obgleich ich nimmer so ungezogen gewesen wäre. Nein, nein! für alle
Schätze der
Welt hätte ich nicht diese Locken zerdrückt und zerwühlt; und diesen
lieben,
kleinen Schuh hätte ich nicht entwendet, um mein Leben zu retten. Im
Scherz
ihre Taille zu messen, wie die kecke, junge Brut tat, ich hätte es
nicht
gewagt; ich hätte geglaubt, mein Arm würde zur Strafe krumm werden und
nie
wieder gerade wachsen. Und doch, wie gern, ich gestehe es, hätte ich
ihre
Lippen berührt; wie gern hätte ich sie gefragt, damit sie sich geöffnet
hätten;
wie gern hätte ich die Wimpern dieser niedergeschlagenen Augen
betrachtet, ohne
ein Erröten hervorzurufen; wie gern hätte ich dieses wogende Haar
gelöst, von
dem ein Zoll ein Schatz über allen Preis gewesen wäre; kurz, wie gern
hätte ich
das kleinste Privilegium eines Kindes gehabt, mit der Bedingung, Mann
genug zu
sein, um seinen Wert zu kennen.
Aber jetzt wurde ein Klopfen an der Tür gehört,
was
einen so allgemeinen Sturz nach derselben veranlasste, dass sie mit
lachendem
Gesicht und verwirrtem Anzug in der Mitte eines frohlockenden lärmenden
Haufens
nach der Tür gedrängt wurde, dem Vater entgegen, der nach Haus kam, in
Begleitung eines Mannes mit Weihnachtsgeschenken beladen. Aber nun das
Geschrei
und das Gedräng und der Sturm auf den verteidigungslosen Träger! Wie
sie auf
Stühlen an ihm hinaufstiegen, in seine Taschen guckten, die
Papierpäckchen
raubten, seiner Halsbinde zupften, an seinem Halse hingen, ihm auf den
Rücken
trommelten und an die Beine stießen – Alles in unwiderstehlicher
Freude! Dann diese
Ausrufungen der Verwunderung und des Frohlockens, mit denen der Inhalt
jedes
Päckchens begrüßt wurde! Die schreckliche Kunde, dass das Wickelkind
ertappt
worden sei, wie es die Bratpfanne der Puppe in den Mund gesteckt, oder
wohl gar
das hölzerne Huhn samt der Schüssel hinuntergeschluckt habe! Die große
Beruhigung, zu finden, dass es ein falscher Lärm gewesen sei! Die
Freude und
die Dankbarkeit und das Entzücken! Dies Alles ist über alle
Beschreibung. Es
muss genügen, zu wissen, dass die Kinder und ihre Freuden endlich aus
dem
Zimmer kamen und eine Treppe auf einmal hinaufgingen, wo sie
zu Bett
gebracht wurden und dort blieben.
Und als jetzt Scrooge sah, wie der Herr des
Hauses,
die Tochter zärtlich an seine Seite geschmiegt, sich mit ihr und ihrer
Mutter an
seinem eigenen Herd niedersetzte; und wie er dachte, dass ein solches
Wesen
eben so lieblich und hoffnungsreich ihn hätte Vater nennen und wie
Frühlingszeit in dem öden Winter seines Lebens hätte sein können, da
wurden
seine Augen wirklich trübe.
„Bella“,
sagte der Mann, sich lächelnd zu seiner
Gattin wendend, „ich sah heut Nachmittag einen alten Freund von Dir.“
„Wer
war es?“
„Rate.“
„Wie
kann ich das? Ach, jetzt weiß ich“, fügte sie sogleich hinzu,
lachend, wie er lachte. „Mr.
Scrooge.“
„Ja,
Mr. Scrooge. Ich ging an seinem Comtoirfenster
vorüber; und da kein Laden davor war und er Licht drin hatte, musste
ich ihn
fast sehen. Sein Compagnon liegt im Sterben, hörte ich, und er saß
allein dort.
Ganz allein in der Welt, glaube ich.“
„Geist“, sagte Scrooge mit bebender Stimme,
„führe mich weg von diesem Orte.“
„Ich
sagte Dir, dass dieses Schatten gewesener Dinge wären“, sagte der
Geist. „Gib
mir nicht die Schuld, dass sie so sind, wie sie sind.“
„Führe
mich weg!“ rief Scrooge aus. „Ich kann es nicht ertragen.“
Er
wandte sich gegen den Geist, und wie er sah, dass er ihn mit einem
Gesicht
anblickte, in welchem sich auf eine seltsame Weise einzelne Züge all
der
Gesichter zeigten, die er gesehen hatte, rang er mit ihm.
„Verlass
mich, führ’ mich weg. Umschwebe mich nicht länger.“
In
dem Kampfe, wenn das ein Kampf genannt werden kann, wo der Geist, ohne
einen
sichtbaren Widerstand von seiner Seite, von den Anstrengungen seines
Gegners
ungestört blieb, bemerkte Scrooge, dass das Licht auf seinem Haupte
hoch und
hell brenne; und in einem dunklen Instinkt jenes Licht mit des Geistes
Einfluss
auf sich verbindend, ergriff er den Lichtauslöscher und stülpte ihn auf
des
Geistes Haupt.
Der
Geist sank darunter zusammen, sodass der Lichtauslöscher seine
ganze Gestalt
bedeckte; aber obgleich Scrooge ihn mit seiner ganzen Kraft
niederdrückte,
konnte er das Licht nicht verbergen, welches darunter hervor und mit
hellem
Schimmer über den Boden strömte.
Er
fühlte, dass er erschöpft sei und von einer unüberwindlichen
Schläfrigkeit
befallen werde und wusste, dass er in seinem eignen Schlafzimmer sei.
Er gab
dem Lichtauslöscher noch einen Druck zum Abschiede und fand kaum Zeit,
in das
Bett zu wanken, ehe er in tiefen Schlaf sank.