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Literatur


04.w2

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Fezziwig's Weihnachtsball


 Drittes Kapitel VII - Der Zweite der drei Geister

Scrooge erwachte mitten in einem tüchtigen Geschnarch und setzte sich in dem Bette in die Höhe, um seine Gedanken zu sammeln. Diesmal hatte Niemand nötig, ihm zu sagen, dass es gerade Eins sei. Er fühlte, dass er gerade zu der rechten Zeit und zu dem ausdrücklichen Zwecke erwacht sei, eine Konferenz mit dem zweiten an ihn durch Jacob Marley’s Vermittelung abgesandten Boten zu halten. Aber bei dem Gedanken, welche seiner Bettgardinen wohl das neue Gespenst zurückschlagen würde, wurde es ihm ganz unheimlich kalt, und so schlug er sie mit seinen eigenen Händen zurück. Dann legte er sich wieder nieder und beschloss, genau aufzupassen, denn er wollte den Geist in dem Augenblicke seiner Erscheinung anrufen, und wünschte nicht überrascht und erschreckt zu werden.

Leute von keckem Mute, die sich schmeicheln, es schon mit etwas aufnehmen zu können, und immer an ihrem Platze zu sein, drücken den weiten Bereich ihrer Fähigkeiten mit den Worten aus: Sie wären gut für Alles, vom Brotessen bis zum Menschenverschlingen; zwischen welchen beiden Extremen ohne Zweifel ziemlich viel Gelegenheit zur Darlegung ihrer Kräfte liegt. Ohne gerade zu behaupten, dass Scrooge es so weit gebracht hätte, muss ich doch von dem Leser den Glauben fordern, dass er auf ein recht schönes Sortiment von Erscheinungen gefasst war, und dass nicht zwischen einem Wickelkind und einem Rhinozeros ihn sehr staunen gemacht haben würde.

Eben weil er auf fast Alles gefasst war, war er nicht vorbereitet, Nichts zu sehen; und so, als die Glocke Eins schlug und keine Gestalt erschien, überfiel ihn ein heftiges Zittern. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde vergingen, aber es kam nichts. Die ganze Zeit über lag er auf seinem Bett recht in der Mitte eines Stromes rötlichen Lichtes, welches sich über ihn ausgoss, als die Glocke die Stunde verkündigte; und welches, weil es nur Licht war, viel beunruhigender als ein Dutzend Geister war, da es ihm unmöglich war zu erraten, was es bedeute oder was es wolle. Ja, er fürchtete zuweilen, er möchte in diesem Augenblick ein merkwürdiger Fall von Selbstentzündung sein, ohne den Trost zu haben, es zu wissen. Endlich jedoch fing er an zu denken, dass die Quelle dieses geisterhaften Lichtes wohl in dem anliegenden Zimmer sein möge, aus dem es bei näherer Betrachtung zu strömen schien. Wie dieser Gedanke die Herrschaft über seine Seele bekommen hatte, stand er leise auf und schlürfte in den Pantoffeln nach der Tür.

In demselben Augenblick, wo sich Scrooge’s Hand auf den Drücker legte, rief ihn eine fremde Stimme bei Namen und hieß ihn eintreten. Er gehorchte.

Es war sein eigenes Zimmer. Daran ließ sich nicht zweifeln. Aber eine wunderbare Umwandlung war mit ihm vorgegangen. Wände und Decke waren ganz mit grünen Zweigen bedeckt, dass es ganz aussah wie eine Laube, in der überall glänzende Beeren schimmerten. Die glänzenden, strammen Blätter der Stecheiche, der Mistel und des Efeus warfen das Licht zurück und erschienen wie eben so viel kleine Spiegel. Eine so gewaltige Flamme loderte die Esse hinauf, wie dieses Spottbild eines Kamines in Scrooge’s oder Marley’s Zeit seit vielen, vielen Wintern nicht gekannt hatte. Auf dem Fußboden waren zu einer Art von Thron Truthähne, Gänse, Wildbret, große Braten, Spanferkel, lange Reihen von Würsten, Pasteten, Plumpuddings, Austerfässchen, glühende Kastanien, rothbäckige Äpfel, saftige Orangen, appetitliche Birnen, ungeheure Stollen und siedende Punschbowlen aufgehäuft, welche das Zimmer mit köstlichem Geruch erfüllten. Auf diesem Thron saß behaglich und mit fröhlichem Angesicht ein Riese, gar herrlich anzuschauen. In der Hand trug er eine brennende Fackel, fast wie ein Füllhorn gestaltet, und hielt sie hoch in die Höhe, um Scrooge damit zu beleuchten, wie er in das Zimmer guckte.


Scrooges dritter Besuch

„Nur herein“, rief der Geist. „Nur herein, und lerne mich besser kennen.“

Scrooge trat schüchtern ein und senkte das Haupt vor dem Geiste. Er war nicht mehr der hartfühlende, nichts scheuende Scrooge wie früher, und obgleich des Geistes Augen hell und mild glänzten, wünschte er ihnen doch nicht zu begegnen.

„Ich bin der Geist der heurigen Weihnacht“, sagte die Gestalt. „Sieh mich an.“

Scrooge tat es mit ehrfurchtsvollem Blick. Der Geist war in ein einfaches, dunkelgrünes Gewand, mit weißem Pelz verbrämt, gekleidet. Die breite Brust war entblößt, als verschmähte sie, sich zu verstecken. Auch die Füße waren bloß und schauten unter den weiten Falten des Gewandes hervor; und das Haupt hatte keine andere Bedeckung, als einen Stecheichenkranz, in dem hie und da Eiszapfen glänzten. Seine dunkelbraunen Locken wallten fessellos auf die Schultern. Sein munteres Gesicht, sein glänzendes Auge, seine fröhliche Stimme, sein ungezwungenes Benehmen, Alles sprach von Offenheit und heiterm Sinn. Um den Leib trug er eine alte Degenscheide gegürtet; aber sie war von Rost zerfressen und kein Schwert stak darin.

„Du hast nie meines Gleichen vorher gesehen“, rief der Geist.

„Niemals“, entgegnete Scrooge.

„Hast Dich nie mit den jüngern Gliedern meiner Familie abgegeben; ich meine (denn ich bin sehr jung) meine ältern Brüder, welche in den letzten Jahren geboren worden sind“, fuhr das Phantom fort.

 „Ich glaube nicht“, sagte Scrooge. „Es tut mir leid, es nicht getan zu haben. Hast Du viele Brüder gehabt, Geist?“

„Mehr als achtzehnhundert“, sagte dieser.

„Eine schrecklich große Familie, wer für sie zu sorgen hat“, murmelte Scrooge.

Der Geist der heurigen Weihnacht stand auf.

„Geist“, sagte Scrooge demütig, „führe mich wohin Du willst. Gestern Nacht wurde ich durch Zwang hinausgeführt und mir wurde eine Lehre gegeben, die jetzt im Wirken ist. Heute bin ich bereit zu folgen, und wenn Du mich etwas zu lehren hast, will ich hören.“

„Berühre mein Gewand.“

Scrooge tat, wie ihm gesagt worden und hielt es fest.

Stecheichen, Misteln, rote Beeren, Efeu, Truthähne, Gänse, Braten, Spanferkel, Würste, Austern, Pasteten, Puddings, Früchte und Punsch, Alles verschwand augenblicklich. Auch das Zimmer verschwand, das Feuer, der rötliche Schimmer, die nächtliche Stunde, und sie standen in den Straßen der Stadt, am Morgen des Weihnachtstages, wo die Leute, denn es war sehr kalt, eine raue, aber muntere und nicht unangenehme Musik machten, wie sie den Schnee von dem Straßenpflaster und den Dächern der Häuser zusammenscharrten. Und daneben standen die Kinder und freuten sich und frohlockten, wie die Schneelawinen von den Dächern herunterstürzten und in künstliche Schneestürme zerstiebten.

Die Häuser erschienen schwarz und die Fenster noch schwärzer, verglichen mit der glatten, weißen Schneedecke auf den Dächern und dem schmutzigen Schnee auf den Straßen. In den letzten war er von den schweren Rädern der Wagen und Karren in tiefe Furchen aufgepflügt; Furchen, die sich Hundert und Aberhundertmal kreuzten, wo eine Nebenstraße ausging, und in dem dicken, gelben Schmutz und halberstarrten Wasser labyrinthische Kanäle bildeten. Der Himmel war trübe, und selbst die kürzesten Straßen schienen sich in einen dicken Nebel zu verlieren, dessen schwerere Teile in einem rußigen Regen niederfielen, als wenn alle Essen von England sich auf einmal entzündet hätten und jetzt nach Herzenslust brennten. Es war nichts Heiteres in der ganzen Umgebung und doch lag etwas in der Luft, was die klarste Sommerluft und die hellste Sommersonne nicht hätten verbreiten können.

Denn die Leute, welche den Schnee von den Dächern schaufelten, waren lustig und voll mutwilliger Laune. Sie riefen sich einander zu von den Dächern und wechselten dann und wann einen Schneeball – ein gutmütigerer Pfeil, als manches Wort – und lachten herzlich, wenn er traf, und nicht weniger herzlich, wenn sie fehlschossen. Die Läden der Geflügelhändler waren noch halb offen und die der Fruchthändler strahlten in heller Freude. Da sah man große, runde, dickbäuchige Körbe voll Kastanien, gleich den Westen lustiger, alter Herren, an den Türen lehnend, oder im apoplektischen Überfluss auf die Straße rollend. Da sah man braune, dickbäuchige, spanische Zwiebeln, in ihrer Fettheit spanischen Mönchen gleichend und mutwillig den Mädchen winkend, welche vorüber gingen und verschämt nach dem Mistelzweige schielten. Da sah man Birnen und Äpfel in Pyramiden zusammengestellt; Trauben, die der Kaufmann in seiner Gutmütigkeit recht augenfällig im Gewölbe hängen ließ, dass den Vorübergehenden der Mund gratis wässere; Haufen von Haselnüssen, bemoost und braun, mit ihrem frischen Duft vergangene Streifereien in den Wald durch das raschelnde, fußhohe welke Laub zurückrufend; Norfolk-Biffins, fett und krispig, mit ihrer Bräune von den gelben Orangen abstechend und gar dringend bittend, dass man sie nach Hause tragen und nach Tische essen möge. Ja, selbst die Gold- und Silberfische, welche in einem Glas mitten unter den auserlesenen Früchten standen, obgleich von einem dick- und kaltblütigen Geschlechte, schienen zu wissen, dass etwas Besonderes los sei, und schwammen um ihre kleine Welt in langsamer und leidenschaftsloser Bewegung.

Ach die Materialwarenläden!, fast geschlossen waren sie, vielleicht ein oder zwei Laden vorgesetzt; aber welche Herrlichkeiten sah man durch diese Öffnungen! Nicht allein, dass die Wagschalen mit einem fröhlichen Klange auf den Ladentisch klirrten, oder dass der Bindfaden und seine Rolle so munter von einander schieden, oder dass die Büchsen wie durch Zauberei blitzschnell hin- und herfuhren, oder dass der vermischte Geruch von Kaffee und Tee der Nase so wohltuend war, die Rosinen so wunderschön, die Mandeln so außerordentlich weiß, die Zimtstengel so lang und gerade, die andern Gewürze so köstlich, die eingemachten Früchte so dick mit geschmolzenem Zucker belegt waren, dass der kälteste Zuschauer entzückt wurde; nicht dass die Feigen so saftig und fleischig waren, oder dass die Brignolen in bescheidener Koketterie in ihren verzierten Büchsen erröteten, oder dass Alles so gut zu essen oder so schön in seinem Weihnachtskleid war; das war es nicht allein. Die Kaufenden waren auch Alle so eifrig und eilig in der Hoffnung des Festes, dass sie in der Türe gegen einander rannten, wie von Sinnen mit ihren Körben zusammenstießen und ihre Einkäufe vergaßen und wieder zurückliefen, um sie zu holen, und Tausend ähnliche Irrtümer in der bestmöglichsten Laune begingen, während der Kaufmann und seine Leute so frisch und froh waren, dass die blanken Herzen, welche ihre Schürzen hinten zusammenhielten, ihre eigenen hätten sein können, die für Aller Augen Besichtigung auswendig getragen wurden.

Aber bald riefen die Glocken nach den Kirchen und der Kapelle, und in ihren besten Kleidern und mit ihren feiertäglichen Gesichtern gingen die Leute durch die Straßen; und zu derselben Zeit strömten aus den Nebenstraßen und Gässchen und namenlosen Winkeln zahllose Leute, welche ihr Mittagsessen zu dem Bäcker trugen. Der Anblick dieser Armen und doch so Glücklichen schien des Geistes Teilnahme am meisten zu erregen, denn er blieb mit Scrooge neben eines Bäckers Tür stehen, und indem er die Decken von den Schüsseln nahm, wie die Träger vorübergingen, bestreute er ihr Mahl mit Weihrauch von seiner Fackel. Es war eine gar wunderbare Fackel, denn ein paar Mal, als ein Paar von den Leuten zusammengerannt waren und einige heftige Worte fielen, besprengte er sie mit einigen Tropfen Tau von seiner Fackel und ihre gute Laune war augenblicklich wieder hergestellt. Denn sie sagten, es sei eine Schande, sich am Weihnachtstage zu zanken.







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Textgrundlage: "Der Weihnachts-Abend", Charles Dickens,
Entstehungsdaten: 1843, ED: 1877, Übersetzer: Julius Seybt,
Verlag G. Grote, Druck Fischer & Wittig, EO: Berlin

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Bild 1:
"Fezziwig‘s Weihnachtsball", Federzeichnungen
von  John Leech (1817-1864)


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Robin Alasdair Frederik Hutton,
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