Weihnachts-Abend
Fezziwig's Weihnachtsball
Drittes
Kapitel
X - Der Zweite der drei Geister
Scrooge’s
Nichte nahm nicht mit an dem Blindekuhspiele teil, sondern saß
gemütlich in
einer traulichen Ecke in einem Lehnstuhle mit einem Fußbänkchen,
und der
Geist und Scrooge standen dicht hinter ihr. Aber Pfänder spielte sie
mit und
liebte ihre Liebe mit allen Buchstaben des Alphabets zur Bewunderung.
Auch in
dem Spiele: Wie, Wenn und Wo, war sie sehr stark und stellte zur
geheimen
Freude von Scrooge’s Neffen ihre Schwestern gar sehr in Schatten,
obgleich sie
auch ganz gescheite Mädchen waren, wie uns Topper hätte sagen können.
Es
mochten ungefähr zwanzig Personen da sein, junge und alte, aber sie
spielten
Alle und auch Scrooge spielte mit; denn in seiner Teilnahme an dem
Geschehenen
ganz vergessend, dass ihnen seine Stimme nicht hörbar war, sagte er oft
seine
Antwort auf die Fragen ganz laut und riet auch oft ganz richtig.
Dem
Geiste gefiel es sehr, ihn in dieser Laune zu sehen und er blickte ihn
so
freundlich an, dass Scrooge wie ein Knabe ihn bat, noch warten zu
dürfen, bis
die Gäste fortgingen. Aber der Geist sagte, dies könne nicht geschehen!
„Es
fängt ein neues Spiel an“, sagte Scrooge. „Nur eine einzige halbe
Stunde,
Geist.“
Es
war ein Spiel, was man Ja und Nein nennt, wo Scrooge’s Neffe sich etwas
zu denken
hatte und die Anderen erraten mussten: was; auf ihre Fragen brauchte er
bloß
mit Ja oder Nein zu antworten. Die schnell aufeinander folgenden
Fragen, die
ihm vorgelegt wurden, stellten heraus, dass er sich ein Tier dachte,
ein
lebendiges Tier, ein hässliches Tier, ein wildes Tier, ein Tier, das
zuweilen brummte
und zuweilen sprach und in London sich aufhielt und in den Straßen
herumlief
und nicht für Geld gezeigt und nicht herumgeführt würde und nicht in
einer
Menagerie sei und nicht geschlachtet werde und weder ein Pferd, noch
ein Esel,
noch eine Kuh, noch ein Ochs, noch ein Tiger, noch ein Hund, noch ein
Schwein,
noch eine Katze, noch ein Bär sei. Bei jeder neuen Frage, die ihm
gestellt
wurde, brach Scrooge’s Neffe von Neuem in ein Gelächter aus und konnte
gar
nicht wieder herauskommen, sodass er vom Sofa aufstehen und mit den
Füßen
stampfen musste. Endlich rief die dicke Schwester mit einem eben so
unauslöschlichen Gelächter:
„Ich
habe es, ich weiß es, Fritz, ich weiß es.“
„Was
ist es?“ rief Fritz.
„Es
ist Onkel Scrooge.“
Und
der war es auch. Bewunderung war das allgemeine Gefühl, obgleich Einige
meinten, die Frage: Ist es ein Bär? hätte müssen mit Ja beantwortet
werden,
denn eine verneinende Antwort sei schon hinreichend gewesen, ihre
Gedanken von
Scrooge abzubringen, selbst wenn sie auf dem Wege zu ihm gewesen wären.
„Nun,
er hat uns Freude genug gemacht“, sagte Fritz, „und so wäre es
undankbar, nicht
seine Gesundheit zu trinken. Hier ist ein Glas Glühwein dazu bereit. Es
lebe
Onkel Scrooge!“
„Es
lebe Onkel Scrooge!“ riefen sie Alle.
„Eine
fröhliche Weihnacht und ein glückliches Neujahr dem Alten, wie er
immer sein
möge!“ sagte Scrooge’s Neffe. „Er wollte den Wunsch nicht von mir
annehmen,
aber er soll ihn doch haben.“
Onkel
Scrooge war unmerklich so fröhlich und leichtherzig geworden, dass er
der von
seiner Gegenwart nichts wissenden Gesellschaft ihren Toast erwidert und
ihr mit
einer unhörbaren Rede gedankt haben würde, wenn der Geist ihm Zeit
gelassen
hätte. Aber Alles verschwand in dem Hauche von dem letzten Worte des
Neffen;
und er und der Geist waren wieder unterwegs. Sie gingen weit und sahen
viel und
besuchten manchen Herd, aber immer spendeten sie Glück. Der Geist stand
neben
Kranken, und sie wurden heiter und hoffend; neben Wandernden in fernen
Ländern,
und sie träumten von der Heimat; neben Solchen, die mit dem Leben
rangen, und
sie harrten geduldig aus; neben Armen, und sie waren reich. Im
Armenhause und
im Lazarett, im Kerker und in jedem Zufluchtsorte des Jammers, wo der
Mensch in
seiner kurzen ärmlichen Herrschaft dem Geiste die Tür verschlossen
hatte,
spendete er seinen Segen und lehrte Scrooge seine Weise.
Es
war eine lange Nacht, wenn es nur eine Nacht war; aber Scrooge
zweifelte daran,
denn die Weihnachtsfeiertage schienen in die Zeit, die sie mit einander
zubrachten, zusammengedrängt zu sein. Es war auch sonderbar, dass
während
Scrooge äußerlich ganz unverändert blieb, der Geist offenbar älter
wurde.
Scrooge hatte diese Veränderung bemerkt, aber sprach nie davon, bis sie
von
einer Kinderweihnachtsgesellschaft weggingen, wo er bemerkte, dass
des
Geistes Haar grau geworden war.
„Ist
das Leben der Geister so kurz?“ fragte Scrooge.
„Mein
Leben auf dieser Erde ist sehr kurz“, sagte der Geist, „es endet noch
diese
Nacht.“
„Diese
Nacht noch!“ rief Scrooge.
„Heute
um Mitternacht. Horch, die Zeit nahet.“
Die
Glocke schlug drei Viertel auf Zwölf.
„Vergib
mir, wenn ich nicht Recht tue, zu fragen“, sagte jetzt Scrooge, scharf
auf des
Geistes Gewand blickend, „aber ich sehe etwas Seltsames, was nicht zu
Dir
gehört, unter Deinem Mantel hervorblicken. Ist es ein Fuß oder eine
Klaue?“
Scoore erblickt die Geister des
mangels und der Unwissenheit
„Nach
dem wenigen Fleisch, was darauf ist, könnte es wohl eine Klaue sein“,
gab der
Geist traurig zur Antwort.
„Sieh
hier.“
Aus
den weiten Falten seines Gewandes hervor erschienen jetzt zwei Kinder:
elend,
abgemagert, hässlich und jammererregend. Sie knieten vor ihm nieder und
hielten
sich fest an den Saum seines Gewandes.
„O,
Mensch, sieh hier. Sieh hier, sieh hier!“ rief der Geist.
Es
war ein Knabe und ein Mädchen. Gelb, elend, zerlumpt und mit wildem,
tückischem
Blick; aber doch demütig. Wo die Schönheit der Jugend ihre Züge hätte
füllen und mit ihren frischesten
Farben kleiden sollen, hatte eine runzlige, abgelebte Hand, gleich der
des
Alters, sie berührt und versehrt. Wo Engel hätten thronen können,
lauerten
Teufel mit grimmigem, drohendem Blick. Keine Veränderung, keine
Entwürdigung
der Menschheit in allen Geheimnissen der Schöpfung hat so schreckliche
und
grauenerregende Ungeheuer aufzuweisen.
Scrooge
fuhr entsetzt zurück. Da sie ihm der Geist auf diese Weise gezeigt
hatte,
versuchte er zu sagen, es wären schöne Kinder, aber die Worte
erstickten sich
selbst, um nicht teilzuhaben an einer so ungeheuren Lüge.
„Geist,
sind das Deine Kinder?“ Scrooge konnte weiter nichts sagen.
„Es
sind des Menschen Kinder“, sagte der Geist, auf sie herabschauend. „Und
sie
hängen sich an mich, vor mir ihre Väter anklagend. Dieses Mädchen ist
die
Unwissenheit. Dieser Knabe ist der Mangel. Nimm sie Beide wohl in Acht,
aber
vor Allem diesen Knaben, denn auf seiner Stirn seh’ ich geschrieben,
was
Verhängnis ist, wenn die Schrift nicht verlöscht wird. Leugnet es“,
rief der
Geist, seine Hand nach der Stadt ausstreckend. „Verleumdet Die, welche
es Euch
sagen! Gebt es zu um Eurer Parteizwecke willen und macht es noch
schlimmer! Und
erwartet das Ende!“
„Haben
sie keine Stütze, keinen Zufluchtsort?“ rief Scrooge.
„Gibt
es keine Gefängnisse?“ sagte der Geist, das letzte Mal seine
eigenen Worte
gegen ihn gebrauchend. „Gibt es keine Armenhäuser?“
Die
Glocke schlug Zwölf.
Scrooge
sah sich nach dem Geiste um, aber er war verschwunden. Wie der letzte
Schlag
verklungen war, erinnerte er sich an die Vorhersagung des alten Jacob
Marley,
und die Augen erhebend, sah er ein grauenerregendes, tief verhülltes
Gespenst
auf sich zukommen, wie ein Nebel auf dem Boden hinrollt.