Assistent
Frickenberg 1
Er hatte soeben ein Telegramm
aufgenommen. Ein Privattelegramm. An sich selbst. Es brachte ihm sein
moralisches Todesurteil, riß grausam die letzte feste Stütze um, auf
der seine
Daseinsfreude, sein ganzes Lebensglück noch ruhte: die Hoffnung. Die
letzte
schwache verzweifelnde Hoffnung ...
»Nein!«
Nichts sonst enthielt die
Henkersdepesche.
Alle Freuden und Sorgen, aller
Glücksjubel und all die Seelenqualen von der Rosendämmerzeit der
Kindheit bis
herauf zum blühenden frohbewußten Mannesalter, alles Licht seiner
Seele, die
Wärme seines Empfindens – alles, alles war ausgelöscht, war zerstoben
und
begraben durch dieses eine kalte entsetzliche »Nein!«
Die Apparate klapperten unaufhörlich.
Die Nadel der Bussole schwankte und pendelte. Langsam – schneller;
ermattend –
aufflackernd: der getreue Pulsschlag des regen funkenentsprungenen
Lebens in
dem weitgedehnten starren Drahtgespanne.
Mit jenem Blicke, der wohl sieht, aber
nichts der Seele, nichts dem innen quellenden Leben vermittelt, sah er
über die
Ruhelose hinweg zu den hohen wunderlich gestalteten vielgezackten
Felsenbergen
empor. Sie standen schön und klar in herrlicher Winterpracht – ein
steingewordener launenhafter Schöpfergedanke. Und hinter den Bergen ein
Winterabendhimmel mit seinen ersten flimmernden Glanzsternen und seinem
blassen
kalten Farbenzauber, der vom Sonnentode kündet und zugleich scheue
Träume
spinnt von kommenden Frühlingsfreuden ...
Er sah in die Stille des Abendhimmels
empor. Und sein Auge blieb unbeweglich hangen an dem funkelnden
Abendstern, der
Venus. In ihm aber blieb es starr wie dort droben all die
absonderlichen Zinnen
und Zacken und Grate. Auch in seiner Seele tiefsten Tiefen war es
Winter
geworden – und Nacht. Und keine Frühlingshoffnung durchwärmte sie –
keine
Hoffnung auf den kommenden Tag ...
Sinnentot, hörte er kaum noch das
nervenaufregende pochende und hämmernde ungeduldig-drängende und
zornige
Klappern der Apparate – draußen aber das Lied, das fröhliche jubelnde,
ihn
unbewußt höhnende Lied, das klang an sein Ohr, dem lauschte er
unwillkürlich.
Es war ein schönes helles Frühlingslied – jenes von Uhland, mit dem
hoffnungsfrohen Verse: »Nun muß sich alles, alles wenden!« Es schien,
als sänge
unsichtbar, hoch vom Himmel hernieder, der Frühling selber der
erstarrten Natur
ein Trostliedlein, ein Lied der Hoffnung. Er kannte den Sänger und
wußte: auch der
durfte hoffen. Auf ein großes, auf ein reiches allgesichertes Glück.
Der dort
draußen, der trägt sein Glück in sich, so tief, so lebenswarm, so
weltendaseinsfroh, wie einst er selber ... Doch jener konnte sein Lieb
heimatfreudig
und besitzstolz in ein gesichertes Heim führen, er stand seelenruhig
auf festem
Grunde ... Und sein Lieb, es hatte alles was sie hatte, die erst noch
so
Blühende – sie, die jetzt drüben bleich und fiebernd liegt in dem
unheimlich
großen und fast leeren Zimmer mit seinen dunklen flüsternden Ecken –
alles:
Seele, Herz, Gemütstiefe, Schönheit und frohen Sinn. Aber jene hatte
auch
reichlich, was die Seine nicht gehabt und auch er nicht: Geld ...
Sie setzten ihre Lebensfreude und ihre
Hoffnungen, ihr ganzes stolzes Glückesträumen in den scheinbar festen
sicheren
Grund ihrer jungen großen Liebe – und in ihre blühende Gesundheit. Aber
dem
gabenreifen fruchtersehnenden Boden fehlte der goldene fördernde und
erhaltende
Dünger: das Geld ... Und allmählich wucherten auf ihrem verdorrenden
Lebensacker, dem Unkraute gleich, Sorgen und Kümmernisse. Und sie
wuchsen und
wuchsen und drängten die unbefangenen glücksfrohen Freuden zurück in
die
verschwiegensten Tiefen ihrer Seelen. Noch so jung, wußten sie beide
schon, daß
sie glücklich – gewesen.
Und er, der hätte kommen
können, um hilfefreudig alles zum Guten zu wenden, er, der mit vollen
Händen
tausendfach hätte geben können, was ihm fehlte – er ließ durch den
blitzesschnellen Funken sagen: »Nein!«
Durch ihr jungblühendes Liebesparadies
war an der Seite der bleichen Not die Versuchung gezogen – und hatte
gesiegt!
Und ihre mächtige Bundesgenossin war – die Liebe ... Sie hatten gesiegt
über
Pflicht und Ehre ...
Dort hatte sie ihn hingedrängt, die
bittere Not, dort zur Kasse. Und die Versuchung hatte sie geöffnet und
gesprochen: »Nimm!« Und die Liebe flüsterte: »Um deines kranken Weibes
willen,
das stirbt, kannst Du ihm nicht bieten, was es haben muß!«
Und sanft und zuversichtlich sprach – es klang so seelenwärmend und
zukunftssicher – die Hoffnung: »Er wird helfen! Er muß
helfen! Dem Menschen muß er helfen als Mensch, will er auch
nicht den Neffen retten als erzürnter starrköpfiger Oheim!«
Und der antwortete auf seinen
Verzweiflungsbrief: »Nein!«
Er war also nicht bloß ein kleinlicher
Starrkopf, der alte Soldat und reiche Gutsbesitzer, der dem Neffen gram
war und ihn
enterbte, weil er den »glänzenden« Waffenrock auszog und das geliebte
geldarme,
aber seelenreiche Mädel zu seinem Weibe machte: er war ein herzloser
Geldmensch, ein Unmensch, grausamer als das Unrecht, unerbittlicher als
der
Haß ...
Und daß er, der hilflose Assistent, ein
Besiegter war jener dunklen zwingenden Mächte – es konnte täglich, es
konnte
stündlich entdeckt werden ... Und dann ...
»Herr Assistent, Sie werden
gerufen ...« Es war der alte Stationsdiener Püregger, der ihn
angesprochen
hatte.
Frickenberg stand auf, langsam,
unsicher, tastend, wie aus tiefem Rauschschlafe.
»Von wem?«
Der Alte zeigte schweigend auf den
rufenden Apparat. Sprechen konnte er nicht, der Blick
seines Vorgesetzten, sein Aussehen – es war zum Erbarmen! Einst
freilich hatte
er ihn nicht recht leiden mögen, den so leicht erregbaren, im Dienste
unerbittlich strengen, kurzangebundenen jungen Herrn. Als er ihn aber
vor einigen
Wochen ungesehen beobachten konnte, wie er gestützten Hauptes dasaß und
ein
unbezwingliches Erschaudern, ein Weinkrampf schier seinen kräftigen
Körper
durchrüttelte – da tat er ihm bitter leid. Und seither hatte er ihn
auch lieb –
den Leidensgenossen! Den jungen gebildeten
Leidensgenossen, der so viel mehr und reicher denken konnte als er, der
Alte,
Ungebildete. Und denken! In Not und Gram und Kummer und
Verzweiflung! O, er kannte das! Da kommen die stürmischen Qualgedanken
und
rütteln wie die siegessicheren Feinde an den Pforten der Vernunft oder
schleichen sich wie Schlangen heran und zeigen verlockende Bilder
gewaltsamer
gesetzverpönter Selbsthilfe – oder Bilder verzweifelnder Erlösung ...
Es ist
dann gerade, als tät' einer winken: »Komm, mach' schnell! Mach' ein
Ende!« ...
Ja, das kannte er, der stille Alte, der knorrige Graubart. Darum konnt
er jetzt
nicht sprechen, darum blieb sein tiefgefurchtes wetterzerrissenes
Gesicht starr
und unbeweglich.
Frickenberg setzte sich an den Apparat.
Eine Flut ungeduldiger Worte des erregten Kollegen der nächsten
größeren
Station las er gedankenlos ab, hörte sie förmlich mit der
zornigen Stimme jenes wohlbekannten Erregten.
»Zug 17 kreuzt mit Zug 268 dort. Zug 3
fährt dem Zug 15 dort vor.«
Gewohnheitsgemäß spielte er auf dieses
Diensttelegramm die üblichen Bestätigungen ab, trug die Depesche
gewohnheitsgemäß in das »Telegraphen-Journal« ein – dann klapperten die
Apparate verdrossen weiter, die Bussolennadel zitterte, bebte,
schwankte und
pendelte. In ihm aber blieb es noch immer still. Seine Seele hörte
nicht und
empfand nicht.
Drei grelle Glockenschläge.
»Das Signal vom Achtundsechziger« sagte
Püregger, um den in sich Versunkenen aufzumuntern.
Frickenberg stand auf, setzte die rote
Kappe zurecht und schritt zur Tür.
»Den Mantel, Herr Assistent! Es ist sehr
kalt draußen. Sie könnten sich leicht erkälten.«
»Und wenn ...?« Es zuckte über sein
bleiches Gesicht – es sollte wohl ein Lächeln sein. Dem Alten tat es im
Herzen
weh. Und des Beamten starrer Blick beunruhigte ihn. Er sah drein wie
ein
Betrunkener, wie einer, der nicht recht ...
Der Zug kam. Es wurde verschoben. Lange,
unwillig. Es war ja so kalt und Weihnachtsabend. Frickenberg mahnte
nicht,
trieb nicht an, ließ alles gehn, wie es ging. Erstaunt sahen ihn die
Zugbegleiter an. Was hatte er denn heute, der »schneidigste Assistent«
der
Strecke? Einer lächelte dem anderen verständnisinnig zu und wünschte
sich
selbst einen recht heißen, recht starken tiefen Trunk ...
Da kam die Zugmaschine wieder, glutäugig
pustend und schnaubend, in hastiger Ungeduld und eingehüllt in eine
wirbelnd
wallende, jäh zerstiebende Dampfwolke. Und ihr voran auf den
eisglitzernden
Schienen lief ein glühend roter Schein, schlangenartig, züngelnd, nach
ihm
langend. Und er ging den zuckenden schillernden Schlangen entgegen – es
zog ihn
widerwillig hin, unbezwinglich ... Wie im Zorn gellte die Lokomotive –
er
wankte zurück. Drüben das matterleuchtete Fenster – nein! Jetzt
nicht! Nicht ohne sie! Sie war ja bereit.
»Wenn es nicht anders geht, machen wir
ein Ende.«
So sagte sie vergangene Nacht. Und nun
war er am Ende ...
»Gehn ma?« fragte der Zugführer, auf die
Uhr schauend.
Frickenberg nickte, zog seine Uhr
hervor, verglich sie auch mit jener des Maschinführers und rief
Püregger zu,
das Signal zu geben.
Langsam kroch der schwere Zug die
Steigung hinan. Die Wagenräder klirrten, rollten, kreischten,
klapperten,
sangen. Die mächtige Bergmaschine keuchte schwer und tief und sandte
gewaltige
Feuerwolken in die sinkende Dämmerung hinein. Hochauf flogen dicke
weiße
zitternde Ringe. Darunter wogte und wallte, quirlte und kreiste es und
mengte
sich ineinander blutig rot, gespenstig weiß und abscheulich schwarz –
vielgestaltig, blitzschnell wechselnd, phantastisch, dämonisch.
Frickenberg starrte auf das oft
geschaute Bild hin, als sei es ihm etwas Neues, Fremdes. Und in ihm kam
ein
Gefühl auf, als drohte ein Unglück.
Kaum war der Signalwagen über den
Ausfahrtswechsel, als zwei Glockenschläge die kalte dünne Luft
durchzitterten,
grell, hastig, drohend, wie schadenfroh jauchzend. Und wieder zwei und
wieder –
das Signal für den Zug 17! Für den Personenzug, der hier in der Station
mit dem
eben ausfahrenden Güterzug kreuzen sollte und in der kürzesten Fahrzeit
kam, da
er verspätet war.
Die nahe unabsehbare Gefahr machte ihn
rasch zum Herrn der verhängnisvollen Lage.
»Geben Sie 'Alle Züge aufhalten!'« rief
er Püregger zu und entriß ihm die Laterne.
Dann rannte er schnellbeinig,
kraftsicher dem Zuge nach. Er sprang über Wechsel hinweg, über Schienen
und Schotter,
über Gräben und Leitungsdrähte und schwang die Laterne in mächtigem
Kreise –
das rettende Signal, das den Zug zurückrufen sollte, ehe es zu spät,
ehe er das
während des Verschiebens auf »Halt« gestellte Distanzsignal überfahren
und in
den tiefen, in scharfer Biegung liegenden Felseinschnitt kam – dort war
der
Zusammenstoß unabwendbar. Er sah mit dem scharfen Auge des
Verzweifelten im
Dunkel den Stockmann auf seiner Bremse stehn – mit dem Rücken gegen
ihn. Nahm
dieser Mann das Signal nicht auf, dann ... Er rief, schrie, pfiff,
schwang
unausgesetzt die Laterne, stürzte, eilte mit verletztem Knie weiter und
weiter.
Die
vereisten Schienen erschwerten
glücklicherweise die Ausfahrt sehr und verlangsamten sie – vielleicht
erreicht
der Zug nicht früher ... Nein! das nützte nichts! Dort droben stand das
Distanzsignal – und zeigte auf »Frei!« Frei für den einfahrenden
Personenzug –
frei für den Siegeszug des Verhängnisses und des Todes ...