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Literatur


04.2



Gedichte  Georg Weerth




 Das Lied von der verunglückten Kartoffel
 
Zur Nacht auf ihrem Lager lag
Eine arme, kranke Kartoffel.
Sie hob sich matt empor und sprach,
Sie sprach zu dem armen Stoffel:
 
»O Stoffel, unglücklicher Mann,
Ich fühl's, daß ich sterben werde!
Schon kommt der Tod, der schlimme, heran
Und rafft mich von der Erde.

Zwar frag ich nach mir selber nicht,
Nicht will ich mich bedauern.
Doch wenn ich schaue dein bleich Gesicht,
Da muß ich trauern und trauern.

Dir blüht kein Wein und Weizen nicht,
Hast weder Ochs noch Rinder,
O Stoffel, bist ein armer Wicht,
Du hast nur hungrige Kinder.

Was wird aus deinen Kindern nun,
Die fröhlich waren noch gestern,
Wenn ich bald werde im Grabe ruhn
Mit all meinen lieblichen Schwestern?
 
Sie starben in Ober- und Niederland,
Sie starben mit Weh und Gewinsel,
Sie starben an Englands weißem Strand
Und auf der smaragdenen Insel.

Sie starben, und ach, ich folg ihnen nach!«
So sprach die kranke Kartoffel.
Sie schwieg, und das Herz, das Herz ihr brach –
Aufschluchzte der arme Stoffel
 
Und weinte die Nacht mit Weib und Kind,
Und der Hunger, der wollte nicht weichen.
Dumpf brauste der kalte Novemberwind
In den prächtigen deutschen Eichen.


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Textgrundlage: „Das Lied von der verunglückten Kartoffel“,
Georg Weerth,

aus Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band 1,
Berlin 1956/57, gemeinfrei

zeno.org


Logo 507: „Die Kartoffel-Esser“,Vincent  Van Gogh,
April 1885, gemeinfrei

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