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04.2
Gedichte
Georg Weerth
Gericht
Ich
sitze nieder, ein Gericht zu halten,
Und
rufe mahnend: »Auf, erwacht, erwacht!
Erscheint
vor mir, ihr Schädel jäh zerspalten!
Erscheint,
ihr Leiber, so das Rad zerkracht!
Erscheint,
die ihr gebrandmarkt in den Falten
Der
düstern Stirn, erscheint in blut'ger Tracht!
Erscheint,
erscheint, ihr gräßlichen Gestalten
Der
Knochenstätte und der Kerkernacht!
Heran
von eurer schwankenden Galeere,
Die
sehn'gen Arms ihr noch die Wogen schlagt!
Heran,
die ihr der Ketten Zentnerschwere
Auf
einer Festung gras'gen Wällen tragt!
Heran,
die Tag und Nacht ihr in der Leere
Dumpfiger
Zellen nie zu schlafen wagt:
Auf
daß nicht lebend euch der Zahn verzehre,
Der
hungrig schon am Korridore nagt.
Und
ihr, herbei, ihr bleichen Sünderinnen!
Ihr,
noch vor Monden wundersam geschmückt,
Herbei,
die ihr verbergt im schmutz'gen Linnen
Die
Brust, dran tausend Rosen einst gedrückt!
Herbei,
die ihr zu schrecklichem Beginnen
Auf
euer Liebstes einst den Stahl gezückt!
Herbei,
die ihr von eines Turmes Zinnen
Wahnsinnig
jetzt ins Grau der Wolken blickt!
Erscheint,
ihr schon Gerichteten! Ich rechte
Ein
zweites Mal. Ich schrecke laut und dreist
Empor
euch aus dem Grame langer Nächte;
Aufsteigt
vor meinem Geist, erscheint und weist
Die
Nacken mir, drauf man mit Ruten rächte
Die
Missetat; ihr tief Verworfnen, reißt
Ab
das Gewand, abschüttelt Lock und Flechte
Vom
Aug, das glanzlos durch die Höhlen kreist!
Ist
dies der Mund, dem man Bewundrung zollte,
Als
er von süßen Liedern überfloß?
Ist
dies die Stirn, die den Gedanken rollte,
Kühn,
wie er einst olymp'schem Haupt entsproß?
Ist
dies die Brust, die nur nach Taten grollte,
Durch
die das Blut in wilden Sätzen schoß?
Und
dies das Auge, das nur strahlen sollte,
Das
eine Welt der Liebe einst erschloß?
Habt
ihr so Fürchterliches denn verbrochen,
Daß
ihr der Milde nimmer würdig seid?
Nur
wert noch, daß euch jäh die Brust durchstochen,
Daß
raffiniert man Qual an Qualen reiht?
Nicht
würdig mehr, daß Herzen für euch pochen,
Daß
eine Stimme bittend für euch schreit?
Nur
wert noch, daß euch barsch der Stab gebrochen,
Daß
euch der Henker in die Fratze speit? –
Nur
Beile wußte man für euch zu wetzen,
Wenn
wild der Hunger das Gedärm zerriß!
Nur
Lumpen warf man hin und ekle Fetzen,
Wenn
euch der Winter in die Schultern biß!
Mit
Fabeln wußte nur der Pfaff zu letzen,
Wen
rauh die Gicht aufs faule Lager schmiß!
Man
folterte mit Not euch und Gesetzen,
Und
nur der Tod, der Tod war euch gewiß!
Ihr
Unglücksel'gen, die man frech geschändet,
Die
im Spitale klagend ihr verreckt,
Die
ihr im Rausch der Jugend schon geendet –
Getrost!
Kein Teufel euch im Grabe schreckt.
Getrost
schlaft weiter! Eh das Jahr sich wendet,
Ein
neu Geschlecht die jungen Glieder reckt,
Das
euern Kindern ernst sein Wort verpfändet,
Das
siegreich nur das Schwert zur Scheide steckt!
Aufküßt
ein ander Glühn an allen Orten
Die
Herzen alle, die so lang erstarrt.
Ob
Saat und Saaten elend auch verdorrten –
Ein
neuer Frühling unsrer Erde harrt!
Und
andre Fahnen schimmern, andre Borten;
Der
Zorn, der mut'ge Renner, stampft und scharrt,
Und
vor der Zukunft weit erschloßnen Pforten
Lärmt
kampfgerüstet schon die Gegenwart.«
oben
oben
______________________________
Textgrundlage: „Gericht“,
Georg Weerth,
aus
Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band 1,
Berlin
1956/57,
gemeinfrei
zeno.org
Logo 506: "Copes
Tobacco Works", Nelson Street,
Liverpool 1889
Urheber
Johna Wallace, gemeinfrei
Wikimedia
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