lifedays-seite

moment in time

 
 
Literatur


04.2



Geschichten - John Henry Mackay

Die Menschen der Ehe
Schilderungen aus der kleinen Stadt
 1912


Aus der kleinen Stadt 10
 

Ihre Schönheit hatte alles gehalten, was sie versprochen. Schon als Kind war dieselbe geradezu auffallend, trotzdem sie weder graziös und fein, noch von irgendwie eigenartigem Liebreiz gewesen war. Aber ihr blondes Haar konnte heute kaum reicher sein, als es damals gewesen war, und der feuchte Glanz ihrer blauen Augen, der ihm heute nur ein Zeichen trübseliger Langeweile schien, war ihm und andern – denn die halbe Klasse war in sie verliebt – damals schwärmerische Idealität und echt weibliches Hingebungsbedürfnis gewesen.
Nicht für lange.

Aber es gab eine kurze Zeit in seiner Jugend – es war zwei Jahre vor ihrer
Trennung -, da war ihm das ständige Zusammenleben mit ihr unter den blinden Augen der Mutter sehr gefährlich geworden.
 
Seine Sinne erwachten und verlangten nach ihr. Ihre beständige Nähe brachte sie in Aufruhr und hielt sie wach.
 
Den ganzen Sommer hindurch verbrachte er in qualvoller Aufregung, in einem beständigen Zwiespalt, der seiner energischen Natur schwerer zu ertragen war als alles.
 
Sie war ihm gleichgültig. Alles, was sie sprach, ließ ihn kalt. Ihr Benehmen gegen ihre Mutter empörte ernstlich ihn mehr denn je, wenn er sich auch niemals tätlich darum kümmerte, was zwischen diesen beiden Personen vorging. Ihr Kokettieren mit seinen Kameraden, die sich über das eitle Mädchen lustig machten, fand er lächerlich – und doch beschäftigte sie ihn. Er träumte von ihr. Er glaubte sie in den Armen zu halten. Er haschte nach ihrer Hand, wenn sie allein waren, und war ruhiger, wenn sie ihm diese nicht entzog. Er war öfter um sie, als je zuvor. Die Mutter freute sich darüber, daß das sonst so kühle Verhältnis zwischen Schwester und Bruder sich besserte.
 
Eine unheimliche Glut ging von ihr aus, die ihn wahnsinnig machte. Tage konnten vergehen, ohne daß sie ihm gefährlich war, aber dann kam immer wieder eine Stunde, in der er von ihrer Seite aufspringen mußte, weil er es nicht mehr ertragen konnte, sie zu sehen, ohne sie an sich zu reißen.
 
Er fürchtete sich vor sich selbst; aber vor ihr graute ihm.
 
Ein später Abend brachte die Erlösung. Sie saßen zusammen in der Laube bei einer trübe brennenden Lampe. Die Mutter hatte sich gähnend und seufzend zur Ruhe begeben. – Es war ein Abend voll wunderbarer Weichheit der Luft. Der Glanz der Sterne war feucht und tief.
 
Sie wagte es zu bleiben. Sie spielte mit dem Feuer in verzehrender Neugier.
Er las in einem Buche und hielt den Kopf gesenkt, um sie nicht ansehen zu müssen. Er hatte noch zu lernen und glaubte, sie würde gehen.
 
Sie aber ging nicht, sondern beugte sich noch weiter vor, mit ihrer weichen Stimme, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, eine gleichgültige Frage stellend.
 
Fast berührten sich ihre Stirnen. Da riß er ihren Kopf mit einer jähen Bewegung an sich und bedeckte ihr Gesicht mit unzähligen Küssen: er küßte ihre Augen, ihre Wangen, ihren Mund, ihren Hals.
 
Sie wehrte sich, aber nur schwach. Während sie sich indessen – ein halb ernstliches, bald freudiges Erschrecken heimlich überwindend – in der Überlegung der Frau fragte, ob sie ihn gewähren lassen sollte, fühlte sie, wie er sie plötzlich losließ und von sich stieß.
 
Wenn sie oft nachher – nachdenklich über diese jähe Veränderung seines Wesens in dieser Minute – sich einbilden wollte, es sei ein moralischer Antrieb gewesen, der ihn so plötzlich von ihr gerissen, so irrte sie sich völlig.
Ein Duft war von ihr ausgegangen, als er an ihren Lippen hing und in ihren Haaren wühlte, der ihn plötzlich ernüchtert hatte. Derselbe Duft, der ihn betäubte aus der Ferne und ihn angezogen, stieß ihn ab, als er in nächster Nähe auf seine Sinne wirkte. Es war direkter Widerwille, der ihn erfaßte – unerklärlich, aber zwingend.
Eben noch über alles begehrenswert, war sie ihm jetzt so gleichgültig, wie nur je zuvor.
 
Hurtig raffte er seine Bücher zusammen und eilte mit einem schnellen „Gute Nacht“ in das Haus.
Sie sah ihm nach und verstand ihn nicht.
Aber ihr Zauber war völlig gebrochen.
Sie merkte es sogleich am nächsten Tage.
 
Sie bot viel auf, um ihn wieder zu gewinnen. Doch nichts mehr gelang ihr.
 
Im Laufe der nächsten beiden Jahre, in denen sie wieder nebeneinander herlebten, vergaßen sie fast die Szene dieses Abends.
Auch er wurde ihr gleichgültig.
 
Sie dachte bereits an ihren zukünftigen Gatten, wenn sie die Männer sah, die sich, um ihre Schönheit drängten.
 
An ihren Halbbruder dachte sie erst wieder, als die Langeweile ihrer Tage sie nach neuen Sensationen suchen ließ und die Neugierde neue Nahrung für ihre klatschhafte Zunge verlangte.







  lifedays-seite - moment in time